Nervenheilkunde 2022; 41(04): 222-226
DOI: 10.1055/a-1748-5635
Schwerpunkt

Psychotherapie suizidaler Patienten

Psychotherapy of suicidal patients
Tobias Teismann
1   Forschungs- und Behandlungszentrum für psychische Gesundheit, Ruhr-Universität Bochum
,
Peter Brieger
2   kbo-Isar-Amper-Klinikum München
,
Susanne Menzel
2   kbo-Isar-Amper-Klinikum München
› Author Affiliations
 

ZUSAMMENFASSUNG

Der Psychotherapie suizidaler Patienten kommt unter den individuumszentrierten Ansätzen zur Suizidprävention besondere Bedeutung bei. Als effektiv erwiesen haben sich vor allem die kognitive Verhaltenstherapie (KVT) und die dialektisch-behaviorale Therapie (DBT). Vor diesem Hintergrund werden in diesem CME-Beitrag zentrale Interventionen zur Risikoabschätzung und Krisenintervention, zur Aufarbeitung suizidfördernder Faktoren und zur Rückfallprävention praxisnah dargestellt.


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ABSTRACT

Psychotherapy of suicidal patients is of particular importance among the individual-centered approaches to suicide prevention. Cognitive-behavioral therapy (CBT) and dialectical-behavioral therapy (DBT) have proven to have significant effects. Against this background, this CME article presents key interventions for risk assessment and crisis intervention, for addressing suicide-promoting factors, and for relapse prevention in a practical manner.


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Einleitung

Der Psychotherapie suizidaler Patienten kommt unter den individuumszentrierten Ansätzen zur Suizidprävention besondere Bedeutung bei. Prävention ist dabei vor und nach Suizidversuch bedeutsam. Ein stattgehabter Suizidversuch erhöht die Wahrscheinlichkeit für weitere suizidale Handlungen in der Folgezeit erheblich [[1]], sodass in dieser Zeit die Chance auf eine therapeutische Bearbeitung der Suizidalität keinesfalls verpasst werden sollte. Dementsprechend empfiehlt die aktualisierte Nationale Versorgungsleitlinie (NVL) Unipolare Depression [[2]], dass

  1. bei akuter Suizidalität Patienten eine Krisenintervention oder Psychotherapie angeboten werden soll und

  2. gemeinsam mit den Patienten ein Notfallplan erstellt werden soll.

Entsprechend starke Empfehlungen finden sich für andere Behandlungsmethoden (Antidepressiva, Esketamin, Lithium, Elektrokrampftherapie) nicht. Unter den Psychotherapieverfahren haben sich insbesondere suizidfokussierte kognitiv-verhaltenstherapeutische Behandlungsprogramme und die dialektisch-behaviorale Therapie als effektiv erwiesen [[3]]. Von grundsätzlicher Bedeutung scheint es hierbei zu sein, dass suizidales Erleben und Verhalten den zentralen Fokus der Behandlung darstellen. So haben Interventionen, die auf die Reduktion assoziierter Psychopathologie (z. B. Depression, Hoffnungslosigkeit) abzielen, zumeist keinen nennenswerten Einfluss auf suizidales Erleben und Verhalten [[5]]. Vor diesem Hintergrund werden im Folgenden Interventionen suizidspezifischer KVT-Programme [[6], [7]] vorgestellt. Grundsätzlich zielt eine entsprechende Behandlung darauf ab

  • das Risiko eines Übergangs von Suizidgedanken zu Suizidhandlungen zu reduzieren und

  • belastende Suizidgedanken zu überwinden.

Typischerweise sind die entsprechenden Programme als Kurzzeittherapien im Umfang von 10–12 Sitzungen konzipiert und lassen sich in Kombination mit anderen Behandlungen umsetzen.


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Suizidale Krise verstehen, Sicherheit herstellen

Jeder Kontakt mit einer suizidgefährdeten Person muss eine Einschätzung der derzeitigen Gefährdung beinhalten. Die Vermutung, eine Person könne sich in einer suizidalen Krise befinden, sollte ihr gegenüber direkt, offen und mit konkreten Worten angesprochen werden: Denken Sie darüber nach sich das Leben zu nehmen? Sprechen über Suizid ist kontraintuitiv – es erscheint gefährlich, Suizidalität direkt zu adressieren und dem Denken an den Tod so viel Raum zu geben. Dabei ist es ein empirisch gut widerlegter Mythos anzunehmen, dass man Patienten auf die Idee bringt sich umzubringen, wenn man sie auf Suizidgedanken und -pläne anspricht [[8]]; vielmehr wünschen nicht wenige Betroffene eine ausführliche Exploration suizidalen Erlebens und Verhaltens und empfinden diese als hilfreich [[9]]. Erfragt, exploriert und dokumentiert werden u. a. Art und Intensität gegenwärtiger Suizidgedanken, Suizidabsicht, Suizidimpulse, Suizidplanung (inkl. Zugriff auf tödliche Mittel), Vorbereitungshandlungen, vorangegangene Suizidversuche, nicht suizidales selbstverletzendes Verhalten, Suizidversuche/Suizide in der Familie, die Selbsteinschätzung der aktuellen Suizidgefahr, Drogen- und Alkoholkonsum, Furchtlosigkeit vor Tod/Sterben, soziale Unterstützung, Ressourcen und Agitiertheitssymptome [[10]]. Fragebögen lassen sich nutzen, um das Explorationsgespräch anzubahnen und/oder zu ergänzen [[11]].

Grundlage für Gespräche über die oft scham- und schuldhaft erlebten Gedanken und Gefühle im Zusammenhang mit Suizidalität ist eine vertrauensvolle therapeutische Beziehung. Auch in der kurzen Zeit einer Krisenintervention lässt sich durch eine validierende, das Erleben der Patienten wertschätzende Gesprächsführung ein solcher Kontakt aufbauen. Die Schwierigkeit besteht zunächst darin, ein Commitment herzustellen: die offensichtliche Motivation der Therapeuten, das Überleben der Patienten zu sichern, steht im Gegensatz zur Motivation der Patienten, sich zu töten. Das unbedingte, nichtwertende Interesse daran, die innere Situation der Patienten zu verstehen ist Voraussetzung dafür, dass Patienten sich im Gespräch öffnen können, weil sie sich sicher, nicht kritisiert und auch mitsamt ihrer Suizidalität wertgeschätzt fühlen.

Mit dem Ziel, ein weitergehendes Verständnis davon zu gewinnen, wie sich suizidales Erleben und Verhalten entwickelt hat und welche Faktoren im Rahmen einer suizidalen Eskalation von Bedeutung sind, lassen sich narrative Interviews und Kettenanalysen nutzen. Beim narrativen Interview wird den Betroffenen Raum gegeben, um von für die Person bedeutsamen Ereignissen wie auch persönlichen Auslösern und Triggern zu erzählen, die die suizidale Krise – aus ihrer subjektiven Sicht heraus – begründen [[12]]: Ich würde Sie bitten, mir zu erzählen, wie es zu dem Suizidversuch (bzw. dem Höhepunkt einer suizidalen Krise) kam. Erzählen Sie mir Ihre Geschichte so wie Sie sie erlebt haben. Im Nachgang zum narrativen Interview lässt sich das Problemverständnis dadurch verfeinern, dass die Prozesse im unmittelbaren Vorfeld eines Suizidversuchs (bzw. des Höhepunktes einer suizidalen Krise) auf Mikroebene – im Rahmen einer Kettenanalyse [[13]] – betrachtet werden. Es geht darum, ein detailliertes und möglichst akkurates Verständnis der suizidalen Krise zu entwickeln, um auf dieser Basis eine individuelle Fallkonzeption und Therapieplanung vornehmen zu können.

Nicht selten bedarf es zunächst jedoch einer gezielten Motivierung suizidaler Patienten, um sich überhaupt auf einen weitergehenden Explorations- und Behandlungsprozess einzulassen. So stehen Patienten der Möglichkeit eines Suizides in den allermeisten Fällen ambivalent gegenüber [[14]]: Auf der einen Seite gibt es den Wunsch zu sterben und auf der anderen Seite gibt es Wünsche an das Leben und/oder Ängste vor dem Tod. Im Rahmen der Krisenintervention geht es daher vielfach darum, diese Ambivalenz für Betroffene spürbar und Gründe, die (immer noch) für das Leben sprechen wieder erlebbar zu machen. Die Aufgabe der Therapeuten ist es, eine Balance herzustellen zwischen der Einfühlung in die emotionale Situation und einem behutsamen Mutmachen – die therapeutische Haltung spiegelt hier gewissermaßen auf funktionale Weise die Ambivalenz der Patienten und adressiert gleichermaßen die unterschiedlichen inneren Anteile. Hinweise zum Umgang mit ambivalentem suizidalem Erleben wurden v. a. von Proponenten des Motivational Interviewings gegeben [[15]]. Der Patient wird hierbei dazu eingeladen in einem ersten Schritt, die Gründe, die gegenwärtig für das Sterben sprechen zu reflektieren (Was ist es eigentlich genau, dass Sie im Moment sagen lässt, es ist besser für mich zu sterben?). In einem zweiten Schritt werden sodann Gründe für das Leben bzw. gegen das Sterben exploriert (Gibt es einen Teil in Ihnen, der – vielleicht ganz klein ist -, der aber noch nicht vom Sterben überzeugt ist? Gibt es noch Hindernisse auf dem Weg zur Selbsttötung?). Von dem Patienten genannte Gründe zu leben sollten durch aktives Zuhören, Fragen nach konkreten Beispielen oder mit der Bitte, um weitere Aufklärung exploriert und vertieft werden. Schlussendlich werden die Motive gegen und für das Leben zusammenfassend zurückgemeldet, bevor erfragt wird welche Veränderungen und Anpassungen es benötigen würde, um das Leben wieder lebenswert zu machen.

Eine Hope Box, d. h. eine Schachtel, ein Koffer oder eine Tasche, die mit Gegenständen angefüllt wird, welche an persönliche Gründe für das Weiterleben erinnern, kann erstellt werden, um Gründe, die für das Weiterleben sprechen einprägsam und außerhalb der Therapiesitzung sinnlich erfahrbar zu repräsentieren (Beispiele unter Hope-box.pdf (papyrus-uk.org); 16]. Zudem lassen sich Strategien der kognitiven Infragestellung nutzen, um erste Distanz zu wichtigen Suizidmotiven („Ich bin eine Last für andere. Alles ist hoffnungslos. Niemand interessiert sich für mich“) aufzubauen. Das ein entscheidender Unterschied besteht zwischen Gedanken („Ich würde mich am liebsten aufhängen“), Motiven („Ich möchte endlich meine Ruhe haben“) und (Suizid)Handlungen, ist für viele Patienten eine wichtige Erkenntnis („Ich kann und darf ans Sterben denken – aber das heißt noch lange nicht, dass ich mich umbringen muss“).

Im Fall, dass sich ein Patient im Gespräch (erstmal) gegen einen Suizid entscheidet, können veränderungsorientierte Interventionen zur Förderung der Selbstkontrolle zum Einsatz kommen. Vor dem Hintergrund der empirischen Befundlage [[17]] sollte es zunächst darum gehen, den Zugang zu letalen Suizidmethoden zu begrenzen. Im therapeutischen Gespräch sollte entsprechend abgesprochen werden, dass gefährliche Gegenstände (z. B. Rasierklingen, Medikamente, Giftstoffe) entweder weggeworfen oder an Freunde/Familienmitglieder/Behandler gegeben oder unzugänglich (Keller, Schließfach) aufbewahrt werden [[18]]. Als weitere Standardintervention im Umgang mit suizidalen Krisen gilt die Erstellung eines Notfallplans [[19], [20]]. Beim Notfallplan handelt es sich um eine Liste von hierarchisch organisierten Strategien und Personen/Institutionen, die Patienten im Fall einer suizidalen Zuspitzung anwenden bzw. kontaktieren können (Kasten).

Der Notfallplan sollte immer verschriftlicht (ein Vordruck kann hier heruntergeladen werden: www.suizidpraevention-dresden.de) bzw. in einer App (z. B. Krisenkompass App) gespeichert werden. Zudem muss der Plan im Lauf der Behandlung immer wieder aktualisiert werden. Im Dienste einer bestmöglichen Unterstützung von Betroffenen sollte schließlich darauf achtgegeben werden Familienangehörige/Freunde – wenn möglich – in die Behandlung einzubeziehen.

Notfallplan

Elemente

  • Identifikation von Warnzeichen einer suizidalen Krise (Woran werden Sie merken, dass Sie den Notfallplan einsetzen sollten? Z. B. Situationen, Gedanken, Gefühle, Verhaltensweisen)

  • Strategien, die unabhängig von anderen Personen genutzt werden können (Was können Sie für sich alleine tun, um die Gedanken nicht in die Tat umzusetzen? Z. B. Spazierengehen, Duschen, ins Bett legen, Musik hören)

  • Kontakte zu Freunden und/oder Familienangehörigen (Wer kann Ihnen in dieser Krisensituation zur Seite stehen? Können Sie jemanden anrufen, zu jemandem hingehen – es ist dabei nicht wichtig, ob Sie über ihre suizidalen Gedanken reden oder nicht? Kontaktdaten von Freunden, Familienmitgliedern, Kollegen)

  • Kontaktdaten professioneller Hilfsstellen (z. B. behandelnde Psychotherapeuten, Arzt, Telefonseelsorge, die aufnehmende Klinik, Krisenzentren)

Im Fall, dass es bei einer Krisenintervention bleibt, bilden allgemeine Strategien der Krisenintervention, wie die Sicherung der Lebensbedingungen, Symptommanagement (insb. Dissoziation, Agitiertheit, Panik, Grübeln, Schlafprobleme) und die Bearbeitung aktueller Probleme den inhaltlichen Fokus der Folgesitzungen. Im Fall, dass eine weitergehende Bearbeitung suizidförderlicher Faktoren angestrebt wird, geht es darum, auf Basis der – durch Risikoabschätzung, narratives Interview, Kettenanalyse und Ambivalenzklärung – gewonnen Informationen ein individuelles Fallkonzept zu entwickeln: Die Kognitionen, Gefühle, Verhaltensweisen und Körperzustände die während einer suizidalen Krise aktiviert sind definieren – gemeinsam mit vorbestehenden Vulnerabilitäten – die Ansatzpunkte der folgenden Behandlungsphase.


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„Suicide drivers“ modifizieren

Auf der Basis des individuellen Fallkonzepts werden im weiteren Therapieverlauf kognitiv-verhaltenstherapeutische Standardmethoden verwendet, um die „suicide drivers“ [[10]], d. h. individuell bedeutsame Risikofaktoren für die Entstehung, Aufrechterhaltung und Eskalation suizidaler Krisen zu modifizieren. Die Therapieplanung lässt sich hierbei beispielsweise mit Blick auf bedeutsame, suizidassoziierte Kognitionen strukturieren ([ Tab. 1 ]), d. h. Interventionen werden mit Blick auf solche Kognitionen gewählt, die im individuellen Fall besonders relevant erscheinen [[21]]. Zentrale Ergebnisse der Auseinandersetzung mit suizidalen Kognitionen sollten in prägnanter Form auf Bewältigungskarten schriftlich zusammengefasst gefasst und damit einer wiederholten Auseinandersetzung zugänglich gemacht werden [[7]].

Tab. 1

Zuordnung suizidaler Kognitionen zu möglichen Interventionen

Suizidale Kognitionen

Beispiel

Mögliche Interventionen

Eindruck, eine Last für andere zu sein (Perceived Burdensomeness)

Ich bin eine Last für andere. Andere wären besser dran, wenn es mich nicht mehr gibt.

Kognitive Infragestellungsmethoden, Einbezug von Angehörigen, Verhaltensaktivierung

Eindruck fehlender Zugehörigkeit (Thwarted Belongingness)

Ich gehöre nirgendwo dazu. Niemand würde mich vermissen. Es gibt niemanden, für den ich wichtig bin. Ich bin ein Außenseiter.

Soziale Netzwerkkarte erstellen, kognitive Infragestellungsmethoden (inkl. Verhaltensexperimente), Verhaltensaktivierung (Fokus soziale Aktivierung), Training sozialer Kompetenzen, Kommunikationstraining, Dankbarkeit kultivieren

Hoffnungslosigkeit

Es ist hoffnungslos. Nichts wird sich jemals ändern. Alles wird nur noch schlimmer werden. Niemand kann mir helfen.

Kognitive Infragestellungsmethoden, Exploration von Ausnahmen, Hope Box erstellen, Verhaltensaktivierung, Problemlösetraining, Inanspruchnahme des psychosozialen Hilfesystems fördern

Unaushaltbarkeit

Ich kann den emotionalen Schmerz/die Gedanken/die Symptome/die Situation nicht länger aushalten. Ich brauche Ruhe.

Techniken aus der DBT: Umgang mit Hochstress (Skill-Training), Achtsamkeit, Entspannung, radikale Akzeptanz; kognitive Infragestellungsmethoden, Problemlösetraining, Techniken zur Symptomkontrolle, Schlafhygiene

Eindruck des Gefangenseins (Entrapment)

Ich fühle mich wie gefangen. Es gibt keinen Ausweg für mich. Ich kann nichts tun, sondern bin all dem ausgeliefert. Ich möchte mir selbst entkommen.

Problemlösetraining, kognitive Infragestellungsmethoden, Inanspruchnahme des psychosozialen Hilfesystems fördern; Techniken zur Symptomkontrolle vermitteln und üben

Wertlosigkeit

Ich bin nicht liebenswert. Ich bin es nicht wert geliebt zu werden. Ich verdiene es nicht zu leben.

Kognitive Infragestellungsmethoden, Selbstwertlisten, Positiv-Tagebuch, Verhaltensaktivierung


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Rückfälle vorbeugen

Zum Therapieabschluss werden die erworbenen Fertigkeiten im Hinblick auf die Prävention zukünftiger suizidaler Handlungen zusammengefasst. Die Relapse Prevention Task [[6], [7]], bei der Patienten angeleitet werden, sich imaginativ in eine zurückliegende und eine zukünftige suizidale Krise hineinzuversetzen und den Einsatz von Bewältigungsstrategien in sensu zu erproben (Kasten) kann hierzu genutzt werden.

Bewältigungsstrategien

Rückfallpräventionsübung [[28]]

  • Schritt 1: Vorbereitung der Patienten auf die Rückfallpräventionsübung

Im Rahmen der Therapie haben wir viele Strategien und Fertigkeiten im Umgang mit suizidalen Krisen erarbeitet. In der letzten Therapiephase möchte ich nun sicherstellen, dass die Dinge, die wir erarbeitet haben, wirklich hilfreich für Sie sind. Im Rahmen der Übung werde ich Sie bitten, sich in Ihrer Vorstellung in eine suizidale Krise hineinzuversetzen. Ist das okay?

  • Schritt 2: Wiedererleben der zurückliegenden suizidalen Krise.

Ich möchte Sie bitten, die Augen zu schließen und sich an den Tag des Suizidversuchs zu erinnern. Denken Sie an die Situation, kurz bevor es zur Entscheidung kam, sich das Leben zu nehmen. Beschreiben Sie die Ereignisse und Ihr Erleben an diesem Tag, so als würden Sie sie jetzt gerade erleben. Wo befinden Sie sich? Was passiert um Sie herum? Was geht Ihnen durch den Kopf? Wie fühlen Sie sich? Was machen Sie? Und was passiert dann? […] Was geht Ihnen genau durch den Kopf, als Sie sich entscheiden, Allem ein Ende zu setzen? Wie fühlt sich Ihr Körper an? Was passiert dann? Usw.

  • Schritt 3: Wiedererleben der letzten suizidalen Krise unter Einbezug erlernter Bewältigungsstrategien.

Nun geht es darum, zu imaginieren wie Sie heute mit der Situation umgehen würden. Ich möchte Sie daher bitten, sich die Situation erneut vorzustellen; schließen Sie dazu auch wieder die Augen. Versetzen Sie sich in die Situation, kurz bevor es zur Entscheidung kam, sich das Leben zu nehmen. In dem Moment, in dem Sie denken „Ich halte das nicht mehr aus – ich mache Schluss mit allem“ – was könnte Ihnen da helfen? Was können Sie zu sich sagen? Was können Sie machen? Wenden Sie sich an jemanden? Was rät Ihr Notfallplan? Wenn das nicht hilft, was können Sie stattdessen tun? Usw.

  • Schritt 4: Imagination einer zukünftigen suizidalen Krise.

Ich möchte Sie bitten, sich eine Situation vorzustellen, in der es in der Zukunft zu einer suizidalen Krise kommen könnte. Was für Situationen triggern Sie besonders (Situation kurz beschreiben lassen)? Ok, dann versetzen Sie sich in diese Situation bitte so hinein, als würde sie jetzt gerade passieren. Schließen Sie dazu die Augen. Lassen Sie die Situation vor Ihrem inneren Auge entstehen. Wo befinden Sie sich? Was geht Ihnen durch den Kopf? Wie fühlen Sie sich? Was machen Sie? Gut, was könnte Ihnen jetzt helfen? Was können Sie machen? (…) Wie fühlt sich das an? Was tun Sie, um sich weiter zu beruhigen? Wenn das nicht hilft, was können Sie stattdessen tun? Wie stark sind die Suizidgedanken jetzt? Usw.

  • Schritt 5: Nachbesprechung

Die Technik dient am Ende der Behandlung zur Konsolidierung der Therapieinhalte und zur Kontrolle, ob Patienten in der Lage sind, die entwickelten Strategien – zumindest in der Vorstellung – einzusetzen. Ergänzend können Betroffene in einem an sie selbst gerichteten „Brief an das suizidale Selbst“ [[22]] solche Erkenntnisse und Strategien, die in der Auseinandersetzung mit der überwundenen Krise hilfreich waren, schriftlich zusammenfassen, um sie so für eine zukünftige Krise verfügbar zu haben.

FAZIT

Die dargestellten Interventionen sind Teil verschiedener kognitiv-verhaltenstherapeutischer Behandlungsprogramme [[6], [7]], die sich in ersten Studien als effektiv erwiesen haben [[23], [24]] und deren Übertragbarkeit auf andere Kontexte (Behandlung im stationären Setting, Behandlung von Jugendlichen, online-gestützte Blended-Care-Behandlung) derzeit erprobt wird [[25]–[27]]. Grundsätzlich besteht die Hoffnung, dass sich durch eine weitergehende Dissemination suizidfokussierter Psychotherapie das Behandlungsangebot für suizidale Menschen nachhaltig verbessern lässt [[28]]. Gleichwohl braucht es – insbesondere in Deutschland – einer weiteren Überprüfung suizidfokussierter Psychotherapie im Rahmen ausreichend groß angelegter randomisiert-kontrollierter Efficacy- und Effectiveness-Studien.

Bibliografie

Nervenheilkunde 2022; 41: 222–226
DOI 10.1055/a-1748-5635
ISSN 0722-1541
© 2022. Thieme. All rights reserved.
Georg Thieme Verlag KG, Rüdigerstraße 14,
70469 Stuttgart, Germany


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Interessenkonflikt

Erklärung zu finanziellen Interessen

Forschungsförderung erhalten: ja; Honorar/geldwerten Vorteil für Referententätigkeit erhalten: ja; Bezahlter Berater/interner Schulungsreferent/Gehaltsempfänger: ja; Patent/Geschäftsanteile/Aktien (Autor/Partner, Ehepartner, Kinder) an Firma (Nicht-Sponsor der Veranstaltung): nein; Patent/Geschäftsanteile/Aktien (Autor/Partner, Ehepartner, Kinder) an Firma (Sponsor der Veranstaltung): ja.

Erklärung zu nicht finanziellen Interessen

PB gibt folgenden Interessenkonflikt an: Vorsitzender der Aktion Psychisch Kranke e.V. und Vorstandsvorsitzender des Münchner Bündnis gegen Depression. Die anderen Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

  • Literatur

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Korrespondenzadresse

PD Dr. Tobias Teismann
AE Klinische Psychologie und Psychotherapie
Ruhr-Universität Bochum
Massenbergstr. 11
44787 Bochum
Deutschland   
Phone: Tel. 0234/3227787   

Publication History

Article published online:
04 April 2022

© 2022. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

  • Literatur

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