Nervenheilkunde 2022; 41(05): 291-292
DOI: 10.1055/a-1755-7479
Zu diesem Heft

Zukunft! – Von soweit her bis hierhin – Von hier aus noch viel weiter

Henning Flechtner
 

An der alten Eisenbahnhubbrücke über die Elbe unterhalb des Magdeburger Doms ist flussaufwärts die Lichtinstallation des Künstlers Maurizio Nannucci zu sehen mit der Inschrift in Glasbuchstaben: „Von soweit her bis hierhin“. Auf der anderen Seite liest man vom Schiff aus: „Von hier aus noch viel weiter“. Als Explikation des Kongressmottos „Zukunft!“ sollte diese Flussmetapher uns in und durch den Kongress leiten und Richtschnur für die inhaltliche Ortsbestimmung sein.


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Prof. Dr. Henning Flechtner Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie des Universitätsklinikums MagdeburgQuelle: Uniklinik Magdeburg

XXXVII. DGKJP-Kongress, Magdeburg 18. bis 21. Mai 2022

Das vorliegende Heft spannt dafür den Bogen über so verschiedene und kontroverse Themen wie den Beitrag von Georg Romer und Thomas Lempp zur Geschlechtsdiversität bis hin zur spannend-modernen Abhandlung von Beate Herpertz-Dahlmann, Jochen Seitz und Brigitte Dahmen über die metabolisch-psychiatrische Erkrankung Anorexia nervosa. Das ebenfalls hochaktuelle Thema der Transition durch Martin Driessen, Marcel Romanos, Thomas Pollmächer und Michael Kölch, in der Gemeinschaft von DGKJP und DGPPN abgebildet, fügt sich in diesen Kanon nahtlos ein. Ebenso der Beitrag von Renate Schepker und Isabell Boege zur stationsäquivalenten Behandlung für Kinder, Jugendliche und Familien. Die Arbeit von Gundolf Berg zu F-Diagnosen bei 0- bis 20-Jährigen in der ambulanten Behandlung im ersten Jahr der COVID-19-Pandemie zusammen mit dem Beitrag von Michael Kölch zu psychischen Störungen bei Minderjährigen über die Belastungen, psychische Störungen, die Teilhabe und die langfristigen Folgen der Pandemie richten den Fokus auf das Thema, welches wie kein zweites (außer der Klimakrise) die vergangenen 2 Jahre unser aller Arbeit dominiert hat. Es ist allerdings ein merkwürdiges Unterfangen in Zeiten einer Pandemie mit aktuell deutlich ansteigenden Fallzahlen und immer noch unübersehbaren Folgen für alle Bereiche der Gesellschaft kurz- und langfristiger Natur zu einem Kongress einzuladen, der – nach bisheriger Planung – als Präsenzkongress stattfinden soll.

Das Kongressmotto „Zukunft! – Von soweit her bis hierhin – Von hier aus noch viel weiter“ schließt nahtlos an die inhaltliche Ausrichtung der beiden Vorkongresse in Ulm und Mannheim mit den Themen „Dazugehören“ und „Vernetzt! Neuronale Netze, Forschungsnetze, Versorgungsnetze, soziale Netze, internationale Vernetzung“ an und versucht unter dem Begriff „Zukunft!“ zu bündeln, wo wir stehen und wohin es von hier aus tatsächlich in der Zukunft mit unserem Fach hingehen soll. Spannenderweise sind die beiden zusätzlichen Zeilen „von soweit her bis hierhin“ und „von hier aus noch viel weiter“ die Inschriften auf der alten Magdeburger Eisenbahnhubbrücke. Die Schriften sind in venezianischem Glas künstlerisch in blau und rot gestaltet und bieten sich dem Blick auf die Brücke jeweils flussaufwärts und flussabwärts. Insofern sollte Magdeburg also ein guter Ort sein, um sich mit diesen symbolkräftigen Themen zu beschäftigen. Die Vorbereitungen sind pandemiebedingt, also unter schwierigen Bedingungen, getroffen, aber wir gehen davon aus, dass wir einen Kongress in Präsenz durchführen können, der uns allen die Gelegenheit gibt, das so lange vermisste Miteinander im Gespräch und Austausch und in der kontroversen wissenschaftlichen Diskussion zu gestalten.

Die „Merkwürdigkeit“ eines Kongresses unter Pandemiebedingungen wird jetzt allerdings weit übertroffen von den furchtbaren Kriegsereignissen in der Ukraine mit bereits Millionen Flüchtlingen und all dem Leid und Tod in den betroffenen Gebieten in der Ukraine. So bekommt unsere Zeit ein Thema aufgezwungen, welches unter dem Begriff „Zeitenwende“ die ganze Brutalität noch gar nicht ahnen lässt, mit der wir konfrontiert sind und vermutlich noch eher zunehmend konfrontiert sein werden. Die Kongressplanung erfolgte in Friedens-, allerdings Pandemie- und Klimakrisenzeiten, und bekommt mit dem Krieg nun ein Oberthema, dem wir alle nicht ausweichen können und dem auch der Kongress sich wird stellen müssen. Wie ist allerdings noch völlig offen, und das wird uns in den kommenden Wochen bis zum Kongressbeginn noch mehr beschäftigen.

Neben der Vielfalt des vorliegenden Themenheftes, das neben den aktuellen Kriegsereignissen fast wie aus der Zeit gefallen wirkt, sollten zur Corona-Pandemie in verschiedenen Veranstaltungen die unterschiedlichen Facetten des Geschehens mit ihren Erkenntnissen beleuchten werden, andererseits haben wir uns bemüht, den Kongress nicht nur im Zeichen der Corona-Pandemie zu sehen, sondern die anderen uns beschäftigenden und wichtigen Themen ebenso darzustellen. Hier sind 2 wichtige Themenkomplexe zu nennen, einerseits die wissenschaftstheoretischen Grundlagen unseres Faches, die immer wieder von verschiedener Seite herausgefordert und infrage gestellt werden. Andererseits wird uns die Zukunft der Psychotherapie (Stichwort: Psychotherapeutengesetz etc.) zentral beschäftigen und die Ausgestaltung einer modernen Psychotherapie ohne Verleugnung ihrer ganz unterschiedlichen Wurzeln wird die Zukunft unseres Faches sicherlich maßgeblich prägen. Ein weiterer Schwerpunkt des Kongresses soll die Beschäftigung mit Berufsgruppen sein, die sonst nicht im wissenschaftlichen Fokus des DGKJP-Kongresses stehen: der Pflege- und Erziehungsdienst (PED), die Fachtherapien (Ergo-, Physio-, Musik-, Spiel-, Kunsttherapie etc.), die Sozialpädagogik (Sozialarbeit) sowie die (Krankenhaus-)Schule. Für diese für unsere Arbeit im multiprofessionellen Team so wichtigen Bereiche wollen wir in Zukunftsworkshops ausloten, welche Wege hier zukünftig denkbar sind und wie sich die Schnittstellen zu den anderen Disziplinen und Berufsgruppen gestalten. Die Ergebnisse dieser Workshops sollen am Ende des Kongresses in einer gemeinsamen Sitzung präsentiert werden.

Wir hoffen, dass wir damit der vollen Multidisziplinarität unseres Faches gerecht werden und Anregungen geben können, die wissenschaftliche Beschäftigung in diesen Bereichen voranzutreiben und in die Kinder- und Jugendpsychiatrie als Gesamtes zu integrieren. Wichtige Fragen betreffen auch die aktuell diskutierte Transgender-Thematik, Kinderschutz, Nachhaltigkeit, Depression-Suizidalität und Autismus, um nur einige Themen zu nennen. Ein Novum auf diesem Kongress ist die Planung einer Veranstaltungsserie durch die DGKJP-Nachwuchsorganisation YouCAP3. Dies schließt eine gemeinsame Veranstaltung mit ESCAP zu den europäischen Perspektiven ein und wir hoffen sehr, dass wir mit diesen Veranstaltungen die Attraktivität unseres Faches für junge Wissenschaftler in der DGKJP weiter stärken können. Darüber hinaus haben wir erstmals versucht, den Kongress in zeitlicher Nähe zum nachfolgenden ESCAP-Kongress im Juni in Maastricht zu gestalten und hoffen, dass wir die Diskussionen und den wissenschaftlichen Austausch, den wir in Magdeburg zu verschiedenen Themen beginnen, in Maastricht im Juni auf europäischer Ebene fortsetzen können. Und auch hier prägen die Kriegsereignisse das zu findende Zusammenspiel von nationaler und europäischer Ebene.

Der jetzige Krieg in Europa hat nachgerade unser Kongressmotto „Zukunft!“ seines positiv in die Zukunft weisenden Ausrufezeichens beraubt und es durch ein mehr als fragiles Fragezeichen ersetzt. Die eigentlich mitschwingende friedlich-ruhige Flussmetapher, allerdings auch auf einer Fahrt im Frieden nicht ohne Stromschnellen und lauernde Gefahren, wird nun zu einer bedrohlich-gefährlichen Fahrt ins Ungewisse. Der erste Kongress unserer Vorläufer-Fachgesellschaft fand im September 1940 während des Zweiten Weltkrieges in Wien statt – möge das kein böses Omen sein: Hoffen wir auf das Beste und seien wir mit unseren bescheidenen Mitteln auf das Schlimmstes gefasst!

Henning Flechtner, Magdeburg


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Article published online:
05 May 2022

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Prof. Dr. Henning Flechtner Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie des Universitätsklinikums MagdeburgQuelle: Uniklinik Magdeburg