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DOI: 10.1055/a-1755-7539
Autismus: Kindheit – Krankheit – Menschheit
- Kanner und Asperger
- Genetik
- Gehirngröße und Gehirnleistung
- Gehirngröße und Autismus
- Gehirngröße und Schizophrenie
- Evolution des menschlichen Gehirns: Gene, Motive und Proteine
- Evolution: Aus DUF1220 wird Olduvai
- Olduvai-Domäne, Gehirnentwicklung in der Kindheit, ASD und Schizophrenie
- Gehirnreifung: Neuronen vor und Verbindungen nach der Geburt
- Funktionelle Konnektivität
- Autismus und Schizophrenie dürfte es eigentlich nicht geben
- Diskussion
- Literatur
Mit „Autismus“ (altgriechisch autós: selbst[ 1 ]) bezeichnet man eine im Kindesalter auftretende Störung der Entwicklung eines Menschen, die vor allem den Kontakt und die Kommunikation mit anderen Menschen betrifft. Das Kind reagiert nicht oder nur verzögert auf Ansprache, wendet sich nicht zu, nimmt keinen Blickkontakt auf, interessiert sich mehr für Sachen als für Menschen und neigt zum Wiederholen der immer gleichen Verhaltensweisen. Die Sprachentwicklung und die intellektuelle Entwicklung können normal sein, sind jedoch bei etwa einem Drittel der Betroffenen gestört.
Das Wort und der Begriff „Autismus“ wurde von Eugen Bleuler in seinem Buch über Schizophrenie im Jahr 1911 in die Psychiatrie eingeführt und als Veränderung der Beziehung „des Binnenlebens mit der Außenwelt“ (S. 51) definiert [9]. „Das Binnenleben bekommt ein krankhaftes Übergewicht (Autismus)“ (S. 51). Für Bleuler war dieses „krankhafte Übergewicht des Innenlebens“ neben Störungen des Denkens, Wollens und Affekts (die er „Grundsymptome“ der Schizophrenie nannte) eine besonders wichtige Störung „zusammengesetzter geistiger Funktionen.“ Er beschreibt Autismus bei schizophrenen Patienten wie folgt:[ 2 ] „Die schwersten Schizophrenen […] leben in einer Welt für sich; sie haben sich mit ihren Wünschen, die sie als erfüllt betrachten, […] in sich selbst verpuppt und beschränken den Kontakt mit der Außenwelt so weit wie möglich“ [9].
Kanner und Asperger
Die beiden österreichischen Kinderärzte Leo Kanner und Hans Asperger beschrieben fast gleichzeitig und unabhängig voneinander[ 3 ] das, was man heute Autismus nennt, in sehr ähnlicher Weise und verwendeten beide das Wort „Autismus“ (Kanner) bzw. „autistisch“ (Asperger). Damit meinten beide explizit nicht ein Symptom der Schizophrenie, sondern einen ganzen Symptomkomplex, der eine sehr schwere (Kanner) oder mäßig bis schwere (Asperger) Störung der kindlichen Entwicklung bechreibt, insbesondere was das Sozialverhalten und die Kommunikation betrifft. Nach Kanner beginnt die Störung meist im 10.–12. Lebensmonat (auf jeden Fall vor Vollendung des 3. Lebensjahrs), nach Asperger meist nach dem 3. Lebensjahr; nach Kanner besteht oft eine Intelligenzminderung und eine Störung der Sprachentwicklung, nach Asperger ist beides meist eher normal.
Sowohl Kanner als auch Asperger beschreiben des Weiteren Störungen in den Bereichen der Wahrnehmung (Hyperakusis[ 4 ], Prosopagnosie[ 5 ]), Grob- und/oder Feinmotorik (ungelenke sowie stereotype, repetitive, bedeutungslose Bewegungen, z. B. Schaukeln des Körpers), der Mimik und Gestik (ausdruckslos bzw. von der Kommunikation entkoppelt) sowie des Verhaltens, von sehr häufigen Schwierigkeiten beim Essen über das Ausführen immer der gleichen Routinen bis hin zu heftigen Wutausbrüchen mit Schreien, Schlagen und Selbstverletzungen. Sonderbegabungen (auch „Inselbegabungen“ genannt) und besonders hohe Intelligenz wurden vor allem von Asperger beschrieben. Begleitende Symptome wie Ängste, Schlafstörungen und die angeführten Essstörungen wurden von beiden beschrieben. In beiden Erstbeschreibungen wurden 8 Jungen und 3 Mädchen [5] bzw. 4 Jungen [56] beschrieben, was zusammengenommen dem Anteil der Mädchen entspricht, der auch heute beobachtet wird (etwa 20–25 %). Diese „Schutz-Wirkung“ von weiblichem Geschlecht gegenüber Autismus wird als „female protective effect“ (FPE) bezeichnet.
Gegenüber der früheren (idealtypischen) Einteilung in die beiden Formen des Autismus nach Kanner (schwer) oder nach Asperger (weniger schwer) hat sich mittlerweile das Konzept eines Spektrums durchgesetzt, weswegen man nicht mehr von „Autismus“, sondern von Autismus Spektrum Störung (Disorder) (ASD) spricht. Es zeigte sich nämlich mit zunehmender Deutlichkeit, dass weder Anzahl noch Schwere der Symptome einer bimodalen Verteilung folgten und sich zudem über die Zeit hinweg ändern konnten. Wichtige Hinweise dafür, dass man von einem Spektrum von Krankheitsschwere und Krankheitssymptomen sprechen sollte, ergaben sich auch aus der neueren genetischen Forschung hierzu.
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Genetik
Kanner ging ursprünglich noch von einer psychologischen Verursachung des Autismus aus. Er war Psychoanalytiker und gilt als Schöpfer des Begriffs „Kühlschrank-Mutter“ („refrigerator mother“) zur Bezeichnung der vermeintlichen Gefühlskälte der Mütter autistischer Kinder. Diese Idee wurde vor allem von dem Psychoanalytiker Bruno Bettelheim verbreitet – einem arroganten Hochstapler und pathologischen Lügner, wie sich kurz nach dessen Suizid im Jahr 1990 herausstellte [11]. Seit der ersten im Jahr 1977 [37] publizierten genetischen Studie an 21 gleichgeschlechtlichen Zwillingspaaren (11 eineiig und 10 zweieiig), bei denen mindestens ein Zwilling einen frühkindlichen Autismus aufwies, hatte sich jedoch mit zunehmender Deutlichkeit gezeigt, dass Autismus eine hohe Erblichkeit aufweist.[ 6 ] Diese Erkenntnis hatte zunächst zur Folge, dass allein Hinweise für eine zugrunde liegende genetische Störung kein Ausschlusskriterium bei der Diagnose Autismus mehr darstellte.[ 7 ] Weitere Studien zeigten, dass bei Geschwistern von Patienten mit relativ schwerem ASD einzelne Symptome oder mildere Formen von ASD gehäuft vorkommen [8], was ebenfalls für eine deutliche erbliche Komponente spricht. Nach einer vor einigen Jahren publizierten Metaanalyse liegt die Erblichkeit des Autismus zwischen 64 und 91 % [99].
Allgemein kann man feststellen, dass die genetische Forschung in den beiden nervenheilkundlichen Fächern, Neurologie und Psychiatrie, recht unterschiedliche Ergebnisse zutage gefördert hat. Gab es in der Neurologie eine Reihe von Entdeckungen dahingehend, dass ein bestimmtes Gen (genau genommen: ein spezifisches Allel eines Gens) eine bestimmte Erkrankung in hohem Maße beeinflusst (hohe Varianzerklärung bzw. hohe genetische „Penetranz“), so liegen die Ergebnisse im Bereich der Psychiatrie völlig anders: Hier wurden für die häufigen Erkrankungen meist sehr viele (Hunderte) Gene gefunden, von denen jedes für sich nur sehr wenig Varianz (meist unter1 %) der Erkrankung aufklärt bzw. eine sehr geringe genetische Penetranz hat. Interessanterweise ist nun beim Autismus beides der Fall. Nach einer im Februar 2022 erschienenen Publikation [29] fand man mittlerweile mehr als 1000 Gene, die mit ASD in Verbindung gebracht werden. Diese ständig wachsende Liste genetischer Faktoren – sowohl für einzelne seltene Syndrome mit einer genetischen Veränderung, die eine hohe Penetranz aufweist, als auch für viele Gene, die das Risiko für die Spektrum-Störung ASD jeweils nur geringgradig erhöhen – machte deutlich, dass es keine uniforme genetische Ursache und wahrscheinlich auch keinen uniformen biologischen Mechanismus für alle Störungen, die man bis vor Kurzem „Autismus“ genannt hat, gibt.
Die in den vergangenen 20 Jahren genetisch aufgeklärten seltenen Syndrome, z. B. das Rett-Syndrom, das Fragile-X-Syndrom und die tuberöse Sklerose machen nur etwa 5 % aller Patienten mit ASD aus. Die Aufklärung der bei diesen Störungen bestehenden genauen Pathomechanismen durch die Entwicklung von Mausmodellen könnte künftig zu neuen Therapien dieser Syndrome führen [98]. Für die diagnostische Einordnung besteht daher über die geltenden Diagnosemanuale hinweg – dem DSM-5 der APA und der ICD-11 der WHO – der Konsens, dass man beim Vorliegen dieser Syndrome nicht von ASD spricht, eben weil für diese Fälle in einigen Jahren spezifische Therapien zur Verfügung stehen könnten. Das Therapieren ist schließlich der Zweck des Diagnostizierens. Damit wird sich – erstmals in der Geschichte des Autismus – mittelfristig die Breite dieser diagnostischen Kategorie verkleinern und damit die Häufigkeit dieser Diagnose verringern! Das bedeutet aber auch, dass es sich bei der Mehrheit der Patienten mit ASD, wie bei anderen psychiatrischen Erkrankungen auch, um Menschen mit einer mehr oder weniger großen genetischen Belastung mit vielen unterschiedlichen, die Störung bedingenden genetischen Veränderungen Genen handelt. Es wird also nicht die Krankheit Autismus vererbt, sondern lediglich eine bestimmte Wahrscheinlichkeit, diese Krankheit zu bekommen.
Wenn man in diese Richtung denkt, fällt einem zunächst das bekannte Diathese-Stress-Modell psychischer Erkrankungen ein, wären da nicht die Besonderheiten der (früh-) kindlichen Entwicklung, bei der es vor allem um ein Zusammenspiel von Biologie und Lernen – und nicht von Biologie und Stress – geht: Bei der motorischen Entwicklung, der Sprachentwicklung, der Entwicklung von Empathie und Perspektivenübernahme, von Aufmerksamkeit und kognitiver Kontrolle, bis hin zur Entwicklung von Emotionskontrolle, Persönlichkeit und kognitiver Leistungsfähigkeit (IQ), geht es prinzipiell immer um das Zusammenspiel von biologischer Gehirnreifung und Lernprozessen in einer physikalischen (Motorik) und vor allem psychosozialen Umwelt (Sprache und Aufmerksamkeit bis zu IQ und Persönlichkeit). Das Zusammenspiel von genetischen Anlagen und von Lernprozessen in bestimmten Umweltbedingungen bedeutet einerseits, dass z. B. die Entwicklung der Sprache, der Aufmerksamkeit oder des IQ bekanntermaßen eine deutliche genetische Komponente aufweisen. Findet jedoch andererseits im entsprechenden Entwicklungsfenster das Lernen nicht oder nur eingeschränkt statt, kommt es auch bei besten genetischen Anlagen zu Lerndefiziten, also zu Sprachstörungen, Aufmerksamkeitsstörungen oder Intelligenzminderung. Anstatt von „Diathese-Stress-Modell“ sollte man bei Entwicklungsstörungen also genauer von „Diathese-Lern-Modell“ sprechen. Worin besteht nun genau die Störung dieser Entwicklung beim Autismus?
Die Beantwortung dieser Frage ist seit etwa 2 Jahrzehnten in vollem Gange, worauf nicht zuletzt die steigende Zahl der Publikationen zum Thema „ASD und Gehirn“ hinweist ([ Abb. 1 ]), und muss vor dem Hintergrund der Erkenntnisse zu Gehirnentwicklung, Gehirngröße und Gehirnleistung diskutiert werden.
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Gehirngröße und Gehirnleistung
Bereits im Jahr 1837 publizierte der Heidelberger Anatom und Physiologe Ludwig Tiedemann eine Arbeit zum Zusammenhang zwischen Gehirngröße und geistiger Leistungsfähigkeit mit dem heute nicht mehr politisch korrekten Titel Das Hirn des Negers mit dem des Europäers und Orang-Outangs verglichen. Er verweist dabei auf bestehende Literatur, was bedeutet, dass dieser Zusammenhang schon mehr als 2 Jahrhunderte diskutiert wird: „Zwischen der Größe des Hirns und der Energie der intellektuellen Vermögen und Seelen-Verrichtungen waltet unläugbar eine Beziehung ob, wie Gall behauptet hat. Dies erhellt aus der sehr bedeutenden Größe des Hirns von Männern, die durch eminente Geistes-Vermögen glänzten. […] Dagegen ist das Hirn von Menschen, ganz besonders beim angeborenen Blödsinn (Idiotismus) ungewöhnlich klein, wie schon Pinel, Gall […] , Esquirol u. a. beobachtet haben“ [10].
Die lange Auseinandersetzung mit dieser Frage wurde von Stephen J. Gould in dessen Monografie The Missmeasure of Man eindrucksvoll beschrieben [40]. Paul Broca, Cesare Lombroso, Francis Galton und andere Gelehrte des vorletzten Jahrhunderts propagierten neben Tiedemann und den bereits von ihm angeführten Medizinern den Zusammenhang von Gehirngröße und Intelligenz, der dann während des vergangenen Jahrhunderts vor allem vor allem vom deutschen nationalsozialistischen Regime politisch missbraucht wurde. Aus diesem Grund dauerte es bis in die jüngste Vergangenheit, bis dieser Zusammenhang wieder Gegenstand wissenschaftlicher Forschung wurde. Seit einigen Jahren ist ein Zusammenhang zwischen der Intelligenz eines Menschen, gemessen als IQ, und dessen Gehirngröße durch große, methodisch aufwändige Untersuchungen belegt [65]. Eine Metaanalyse von 88 Studien (mit einem Gesamt-n von über 8000) ergab für Gehirnvolumen und IQ einen Zusammenhang von r = 0,24 (mit einer entsprechenden Varianzerklärung R 2 von knapp 6 %), der für Kinder und Erwachsene, beiderlei Geschlechter und die Art des IQ (Handlungs- und Verbal-IQ sowie Gesamt-IQ) gilt [80]. An einer noch größeren Stichprobe (n = 13608) wurde im Rahmen einer vorab registrierten Studie der Zusammenhang zwischen Hirnvolumen und kognitiver Leistung untersucht, wobei Geschlecht, Alter, Größe, sozioökonomischer Status und Bevölkerungsstruktur systematisch berücksichtigt wurden und Publikationsverzerrungen ausgeschlossen waren [75]. Der Zusammenhang zwischen Gesamthirnvolumen und fluider Intelligenz betrug 0,19. Zudem wurde ein positiver Zusammenhang zwischen Gesamthirnvolumen und Bildungsniveau (r = 0,12) berichtet. Die gefundenen Effekte gingen hauptsächlich auf die graue Substanz (und nicht auf die weiße Substanz) zurück, und die Effektstärken waren für beide Geschlechter und über alle Altersgruppen hinweg ähnlich.
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Gehirngröße und Autismus
Vor dem gerade geschilderten Hintergrund wurden vor mehr als 20 Jahren publizierte Berichte über einen (positiven!) Zusammenhang zwischen Gehirngröße (vergrößertes Hirnvolumen) und Autismus [81] zunächst mit großer Skepsis betrachtet. Zwar gab es damals einige wenige Fallberichte von hochbegabten Autisten, aber man kannte auch eine größere Zahl schwer intelligenzgeminderter Autisten, sodass ein solcher Zusammenhang kontraintuitiv erschien und für unwahrscheinlich gehalten wurde. Die Hinweise auf ein vergrößertes Gehirn bei Autisten verdichteten sich jedoch, und mittlerweile ist das Faktum klar etabliert. Eine Studie aus dem Jahr 2003 an 63 Kindern mit Autismus im Alter zwischen 4 und 14 Jahren ergab einen vergrößerten Kopfumfang und eine signifikante Häufung von Makrozephalie. Bei Kindern mit diskrepant hohen nonverbalen Fähigkeiten (u. a. Mathematik) war der mittlere standardisierte Kopfumfang um mehr als eine Standardabweichung größer als in der Referenzstichprobe [28]. Keine Zusammenhänge gab es in dieser Studie zwischen Kopfumfang, der Entwicklung von Sprache, verbalem und nonverbalem IQ (für sich genommen) und exekutiven Funktionen.
Eine Metaanalyse von 15 Studien zur Gehirngröße bei Kindern mit Autismus aus dem Jahr 2005 ergab eine leicht verminderte Gehirngröße bei der Geburt sowie eine dramatische Zunahme der Gehirngröße im ersten Lebensjahr. Dann war das Gehirnwachstum wieder reduziert, sodass die Gehirngröße in der Mehrheit der Fälle im Erwachsenenalter wieder im normalen Bereich lag [85]. Eine Längsschnittstudie an 59 Kindern mit ASD und 38 Kontrollkindern, die im Alter von 2 Jahren und im Alter von 4–5 Jahren (ASD: n = 38; Kontrollkinder: n = 21) nochmals mittels struktureller Magnetresonanztomografie untersucht wurden, ergab eine allgemeine Vergrößerung der Großhirnrinde bei Kindern mit ASD sowohl im Alter von 2 als auch von 4–5 Jahren. Nach dem 2. Lebensjahr gab es dagegen keine weitere Zunahme des Gehirnwachstums. Zudem zeigte sich in der ASD-Gruppe eine überproportionale Volumenzunahme der weißen Substanz im Temporallappen und eine vergrößerte (berechnete) kortikale Fläche, im Vergleich zu den Kontrollen, in allen kortikalen Regionen (frontal, temporal und parieto-occipital). Im Hinblick auf die Größe des Kleinhirns gab es keinerlei Unterschiede [47]. 2 Jahre später ergab eine Studie an Säuglingen mit ASD-Risiko (33 Hochrisiko-Säuglinge und 22 Säuglinge mit niedrigem Risiko), die im Alter von 6–24 Monaten mittels MRT untersucht wurden, ein vergrößertes Hirnvolumen im Alter von 12 und 24 Monaten bei denjenigen 10 Säuglingen, bei denen später im Durchschnittsalter von 32,5 Monaten ASD diagnostiziert wurde [92].
Weitere 4 Jahre später wurde im Fachblatt Nature eine Studie publiziert, die noch deutlichere Hinweise für den Zusammenhang von Gehirnwachstum und der Entstehung von Autismus lieferte [45]. Untersucht wurde eine Untergruppe von Personen aus einer Längsschnittstudie an 318 Säuglingen mit hohem familiären Risiko für die Entwicklung einer ASD. Aus dieser Gruppe mit hohem Risiko (HR) erfüllten 70 Kinder im Alter von 24 Monaten die klinischen Kriterien für ASD (HR-ASD), die übrigen 248 dagegen nicht (HR-neg). Zudem wurden 117 Säuglinge mit niedrigem familiärem Risiko (low risk, LR-Gruppe) für ASD untersucht, von denen keiner im Alter von 24 Monaten die Kriterien für ASD erfüllte. Die 3 Gruppen waren vergleichbar in Bezug auf Rasse/Ethnie, Familieneinkommen, Alter der Mutter bei der Geburt, das Geburtsgewicht des Kindes und das Gestationsalter bei der Geburt. Erwartungsgemäß waren in der HR-ASD-Gruppe 83 % männlich im Vergleich zu 57 % in der HR-neg-Gruppe und 59 % in der LR-Gruppe. Um die Entwicklung der Säuglinge prospektiv zu untersuchen, wurden sie im Alter von 6, 12 und 24 Monaten mittels detaillierter Verhaltensbeurteilungen sowie hochauflösender struktureller Bildgebung (MRT) des Gehirns untersucht. Zur Auswertung kamen schließlich 106 Hochrisikokinder, von denen 15 an ASD erkrankt waren und 91 nicht, sowie 42 Niedrigrisikokinder. Bei diesen 148 Kindern konnten alle 3 Verlauf-MRT-Scans erfolgreich durchgeführt werden. Das Wachstum des Gesamthirnvolumens (total brain volume, TBV) unterschied sich zwischen den Gruppen im Alter von 6–12 Monaten noch nicht. Im Alter von 24 Monaten dagegen wies die HR-ASD-Gruppe ein signifikant größeres Gehirn im Vergleich zur HR-neg-Gruppe und zur LR-Gruppe auf ([ Abb. 2 ]). Die Größe der Gehirnoberfläche nahm dagegen in der HR-ASD-Gruppe bereits im Alter von 6–12 Monaten signifikant gegenüber den beiden anderen Gruppen zu, insbesondere im Bereich des linken/rechten mittleren Gyrus occipitalis, des rechten Cuneus und des rechten Gyrus lingualis ([ Abb. 3 ]). Bei der kortikalen Dicke wurden keine signifikanten Gruppenunterschiede festgestellt. Sie nahm erwartungsgemäß im Rahmen der Entwicklung der Gehirne in allen Gruppen ab.[ 8 ]
Anschließend wurde untersucht, ob die Geschwindigkeit des Volumenwachstums mit dem Schweregrad des Autismus zusammenhing. Dies war der Fall, denn es konnte eine signifikante Korrelation zwischen dem ASD-Schweregrad im Alter von 24 Monaten und der Änderung des Gehirnvolumens im Alter von 12–24 Monaten gefunden werden (p = 0,03). Auf der Symptomebene waren es Störungen des sozialen Affektes, nicht jedoch von repetitives Verhalten, das den Zusammenhang ausmachte. Zudem wurde eine hoch signifikante Interaktion (p < 0,0001) zwischen den Gruppen (HR-ASD versus HR-neg) und der Zeit (12–24 Monate) für das mittels eines anderen mehrfach erhobenen Scores für Sozialverhalten gefunden. Die Effektstärke des Gehirnvolumens auf das Sozialverhalten nahm mit d = 0,39 im Alter von 12 Monaten auf d = 1,22 auf etwa das 3-Fache im Alter von 24 Monaten zu.
Mittels künstlicher Intelligenz (neuronaler Netzwerke und Deep Learning) wurde dann ein maschineller Klassifizierungsalgorithmus entwickelt, um allein aus den MRT-Daten im Alter von 6 und 12 Monaten diejenigen Säuglinge zu identifizieren, die im Alter von 24 Monaten die Kriterien für ASD erfüllten. Dieser konnte die HR-ASD-Gruppe (n = 34) von der HR-neg-Gruppe (n = 145) mit einer Genauigkeit – richtig identifizierte positive (n = 30) plus negative (n = 138) Fälle – von 94 % (168 von 179) unterscheiden ([ Tab. 1 ]). Dabei betrug die Sensitivität 88 % (n = 30 von 34), die Spezifität 95 % (n = 138 von 145), die positive predictive Power (PPP) 81 % (n = 30 von 37) und die negative predictive Power (NPP) 97 % (n = 138 von 142), was durchaus im Rahmen klinisch eingesetzter diagnostischer Verfahren liegt.
ASD |
||||
---|---|---|---|---|
Ja (34) |
Nein (145) |
|||
prognostischer Test (MRT) |
Positiv (37) |
30 |
7 |
PPP 81 % |
Negativ (142) |
4 |
138 |
NPP 97 % |
|
Sensitivität: 88 % |
Spezifität: 95 % |
Eine zusätzliche Analyse des trainierten Deep-Learning-Netzwerks deutet darauf hin, dass die Beiträge zur Unterscheidung hauptsächlich auf der Grundlage der Größe der Gehirnoberfläche basierten. Damit wurde gezeigt, dass eine sehr frühe, postnatale Hyperexpansion der kortikalen Oberfläche eine wichtige Rolle bei der Entwicklung von Autismus zu spielen scheint. „Dies deutet auf eine Sequenz hin, bei der eine übermäßige Vergrößerung der kortikalen Oberfläche ein frühes Ereignis in einer Kaskade ist, die zu einem übermäßigen Wachstum des Gehirns und dem Auftreten autistischer Defizite führt. Bei Säuglingen, bei denen im Alter von 24 Monaten Autismus diagnostiziert wurde, wurde im ersten Jahr eine Überexpansion der Hirnoberfläche in kortikalen Bereichen beobachtet, die mit der Verarbeitung sensorischer Informationen in Verbindung stehen (z. B. der linke mittlere okzipitale Kortex), was mit Regionen übereinstimmt, von denen zuvor berichtet wurde, dass sie die früheste Zunahme der Wachstumsrate der Hirnoberfläche bei sich normal entwickelnden Säuglingen aufweisen, und mit Berichten, die frühe sensorische Unterschiede bei Säuglingen zeigen, die später ASD entwickeln werden“, kommentieren die Autoren ihre Ergebnisse [45]. Ein noch geringgradig besseres Ergebnis hatte eine ähnliche Untersuchung aus der gleichen Arbeitsgruppe um Joseph Piven [36] an 59 Säuglingen mit hohem familiär bedingtem Risiko, an ASD zu erkranken. Mit Hilfe von funktioneller MRT wurde auf methodisch anspruchsvolle Weise die funktionelle Konnektivität im Alter von 6 Monaten prospektiv gemessen und zur Vorhersage von ASD im Alter von 24 Monaten herangezogen, was bei 9 der 11 ASD-Fälle auch gelang ([ Tab. 2 ]).
ASD |
||||
---|---|---|---|---|
Ja (11) |
Nein (48) |
|||
prognostischer Test (fMRT) |
Positiv (9) |
9 |
50 |
PPP 100 % |
Negativ (50) |
2 |
57 |
NPP 96 % |
|
Sensitivität: 82 % |
Spezifität: 100 % |
Eine im Februar 2022 publizierte retrospektive Fall-Kontrollstudie einer chinesischen Arbeitsgruppe [42] erfolgte an 151 Patienten mit ASD und 152 gesunden altersparallelisierten Kontrollen im Alter von etwa 2,5 Jahren (Daten von Januar 2016 bis Dezember 2019 erhoben) sowie einer zusätzlichen unabhängigen Validierungsstichprobe von 20 Patienten mit ASD und 25 gesunden Kontrollen (Januar bis Juni 2020). Die Autoren nutzten ebenfalls strukturelle MRT sowie die Messung eines richtungsunspezifischen Wasser-Diffusionskoeffizienten (apparent diffusion coefficient, ADC) in verschiedenen Gehirnregionen (bekanntermaßen bei ASD erhöht als Zeichen einer Veränderung der weißen Substanz) [84]. Dann wurden 5 Netzwerkmodelle mit den Daten von jeweils 113 ASD-Patienten und Kontrollen (zufällig aus den jeweils 151 ausgewählt) trainiert und ihre Unterscheidungsfähigkeit an den übrigen jeweils 38 Patienten bzw. Kontrollen intern validiert. Zudem wurde an der später untersuchten neuen Stichprobe eine weitere unabhängige Validierung vorgenommen. Die beste Diskriminationsfähigkeit lieferte ein kombiniertes Modell aus FLAIR-Sequenz und ADC mit einer Sensitivität von 84 % und einer Spezifität von 87 % (interne Validierung) bzw. einer Sensitivität von 85 % und einer Spezifität von 84 % bei der externen Validierung. Auch in dieser Studie zeigte sich mithin eine gute Trennbarkeit von ASD-Patienten und Kontrollen mittels struktureller Bildgebung. Für die Diskussion der Befunde zum Zusammenhang von Gehirngröße und Autismus sind die Erkenntnisse zur Gehirngröße bei einer anderen häufigen psychiatrischen Erkrankung, der Schizophrenie, von wesentlicher Bedeutung. Sie werden daher um Folgenden kurz zusammengefasst.
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Gehirngröße und Schizophrenie
Bereits im Jahr 1986 publizierten Nancy Andreasen und Mitarbeiter Ergebnisse einer strukturellen MRT-Studie an 38 schizophrenen Patienten und 49 gesunden Kontrollen [3]. Sie fanden unter anderem eine kleinere Schädelgröße (gemessen als mid-sagittal cranial area) bei Männern mit Schizophrenie, nicht hingegen bei schizophrenen Frauen. Sie diskutierten diesen Befund damals als Hinweis für eine frühe Entwicklungsstörung[ 9 ] bzw. Gehirnwachstumsstörung. Andreasen nahm damit zwar die nächsten 35 Jahre der Forschung vorweg, erntete zum damaligen Zeitpunkt jedoch vor allem Hohn und Spott: Unter dem Titel „Hutgröße und Schizophrenie“ wurden etwa eineinhalb Jahre nach dem Erscheinen ihrer Arbeit im Archives of General Psychiatry im gleichen Journal eine Reihe von Leserbriefen publiziert, die den Befund einer mittels MRT gemessenen kleineren Hutgröße bei schizophrenen Männern sehr kritisch betrachteten: (1) Das wäre längst aufgefallen, wenn es denn stimmte. (2) Warum den ganzen technischem Aufwand mit MRT treiben, wenn man das auch einfach mit einem Maßband messen kann? (3) Die Kopfgröße korreliert nach Messungen aus der Kriminalistik mit dem Beruf und nimmt vom einfachen Arbeiter (über Händler, Beamte, Pfarrer und „Semiprofessionals“) bis zum hochqualifizierten „Professional“ zu. (4) Die Kopfgröße korreliert mit der Körpergröße, die daher ebenfalls bestimmt statistisch zu berücksichtigen sei. (5) Der Befund wurde von anderen Autoren in ihren Daten nicht gefunden [27], [97], [105]. Andreasen und Mitarbeiter konnten nur zugeben, dass sie von diesem Befund selbst „überrascht bis leicht peinlich berührt“ waren, standen jedoch zu ihrer Entscheidung, ihn zu publizieren. Replizieren konnten sie ihn 3 Jahre später in einer 1986 und 1987 [2] vorangekündigten, größeren Studie allerdings nicht [1].
Nach dieser im Grunde genommen etwas peinlichen Episode in der langen Geschichte zum Thema „Schizophrenie und Gehirnforschung“ wurde es still um dieses Thema, lediglich in den Jahren 1996 und 2000 erschienen hierzu Metaanalysen. Die erste Arbeit [104] beinhaltete 3 Metaanalysen, (1) zur Gehirngröße, definiert als Fläche im Schnittbild oder Volumen (n = 27; 2 mit CT, 4 aus der Neuropathologie, 21 mit MRT) [104], (2) zum intrakraniellen Volumen (n = 18; 5 mit CT und 13 mit MRT; und (3) zum Kopfumgang (n = 8; eine mit CT, die anderen mit Bandmaß). In den ersten beiden Metaanalysen zeigten sich kleine, aber signifikante Effekte im Sinne einer verminderten Gehirngröße und eines verminderten intrakraniellen Volumens bei schizophrenen Patienten. Die 2. Metaanalyse umfasste 58 Studien an 1588 schizophrenen Patienten zu strukturellen Gehirnveränderungen bei diesem Krankheitsbild [109]. Neben anderen Unterschieden war das Gehirnvolumen bei den Patienten um 2 % geringer als in den Kontrollgruppen. Der Effekt war signifikant, aber sehr klein. Beide Studien reichten zusammen mit der Vorgeschichte offenbar aus, dass sich für mehr als ein Jahrzehnt niemand mehr für das Thema „Gehirngröße und Schizophrenie“ zu interessieren schien.
Genau darüber wundern sich im Jahr 2013 tatsächlich die Autoren der nächsten Metaanalyse zu volumetrischen MRT-Studien (an über 18 000 Patienten und gesunden Kontrollen), die zwischen September 1998 und Januar 2012 publiziert worden waren, denn es gab gute Gründe für solche weiteren Analysen: „Seit dieser letzten Metaanalyse haben sich die MRT-Techniken in Bezug auf die Feldstärke und die entsprechende Auflösung stark verbessert. Außerdem hat sich die Zahl der volumetrischen MRT-Studien zur Schizophrenie in den letzten 10 Jahren stark erhöht“, schrieben sie zu Recht [113]. Zudem gab es keine Metaanalyse der Hirnvolumina bei antipsychotisch unbehandelten schizophrenen Patienten, um die Frage zu klären, wie sich die Therapie mit Neuroleptika langfristig auf das Gehirn auswirkt. Daher wurde eine separate Metaanalyse zu volumetrischen MRT-Studien bei Patienten mit Schizophrenie, die nicht mit Antipsychotika behandelt waren, durchgeführt. Auch wurde der Einfluss von Faktoren wie niedrigem Intelligenzquotienten (IQ) und Substanzmissbrauch auf das Hirnvolumen bei Schizophrenie noch in keiner Metaanalyse zuvor untersucht. Da schließlich eine Verminderung des intrakraniellen Volumens eher auf eine frühe entwicklungsbedingte Ursache für (einige) der Hirnanomalien bei Schizophrenie hindeuten würde, war den Autoren auch diese Messgröße wichtig. Außerdem wurden die Auswirkungen der Krankheitsdauer, des aktuellen Substanzmissbrauchs und der Körpergröße untersucht. Das intrakranielle Volumen zeigte eine kleine, aber hochsignifikante Reduktion bei Patienten mit Schizophrenie im Vergleich zu Kontrollen um 2,0 %, während die Verringerung des Gesamthirnvolumens größer ausfiel (2,6 %).
In der Antipsychotika-naiven Stichprobe waren die Gehirnveränderungen ähnlich wie bei den medikamentös behandelten Patienten, hatten jedoch ein etwas geringeres Ausmaß: Für das Gesamtvolumen des Gehirns und der grauen Substanz, waren die Effektgrößen bei Antipsychotika-naiven Patienten um bis zu 30 % geringer im Vergleich zu den medikamentös behandelten Patienten. Die Verringerung des intrakraniellen Volumens war in beiden Gruppen vergleichbar, ebenso die globale Verringerung des Volumens der weißen Substanz. Daraus kann man schließen, dass ein Teil der bei Schizophrenie beobachteten Verringerung des Gehirnvolumens sich bereits in der frühen Adoleszenz manifestiert, dem Alter, in dem der Schädel seine endgültige Größe erlangt. Die Verringerung in der weißen Substanz (die vor Beginn der medikamentösen Behandlung schon vorhanden war) schreitet während des weiteren Krankheitsverlaufs offenbar nur wenig voran, während der Abbau der grauen Substanz während des Krankheitsverlaufs zunimmt. Dies passt zu den Ergebnissen einer Metaanalyse von 27 volumetrischen Längsschnittstudien an 928 schizophrenen Patienten und 867 gesunden Kontrollpersonen, die einen fortschreitenden Verlust der grauen Substanz ergab, nicht aber der weißen Substanz [77]. Auf der Grundlage ihrer Metaanalyse folgern Haijma und Mitarbeiter „[…| dass der Hirnverlust bei Schizophrenie mit einer Kombination von (frühen) neurobiologischen Entwicklungsprozessen, die sich in einer intrakraniellen Volumenverminderung widerspiegelt, und dem weiteren Fortschreiten der Krankheit am besten erklärt werden kann [113].“
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Evolution des menschlichen Gehirns: Gene, Motive und Proteine
Unumstritten ist die Tatsache, dass im Verlauf der Evolution des Menschen in den letzten 2 Millionen Jahren die Größe des Gehirns sich etwa verdoppelt hat [96]. Davor hatte die Verdopplung der Gehirngröße des 7–8 Millionen Jahre alten gemeinsamen Vorfahren von Menschen und Schimpansen etwa 5–6 Millionen Jahre gedauert.[ 10 ] Wie konnte dies innerhalb der darauffolgenden nur 2 Millionen Jahren so rasch gehen? Zur Beantwortung dieser Frage werden seit etwa einem Jahrzehnt nicht nur archäologische Fossilien, sondern auch Erkenntnisse aus der Genetik und Molekularbiologie herangezogen.
Bereits aus den 1970er-Jahren stammt die Idee, dass sich Eiweißkörper (Proteine) aus Untereinheiten, sogenannten Protein-Domänen zusammensetzen, die typischerweise eine Länge von etwa 100–200 Aminosäuren Länge haben[ 11 ]. Protein-Domänen haben entweder (1) eine bestimmte kompakte Struktur oder (2) eine bestimmte Funktion im Verlauf der Evolution erlangten oder (3) falten sich in einer bestimmten Weise spontan (also von selbst, d. h. ohne die Einwirkung anderer Teile des Proteins). Auch irgendeine Kombination aus 2 dieser Merkmale oder alle 3 zugleich können für eine Domäne zutreffen. Beispiele bekannter Domänen sind α-Helices und β-Faltblattstrukturen. Man spricht auch von der Sekundärstruktur der Proteine – im Unterschied zu ihrer Primärstruktur (der Abfolge der Aminosäuren) und ihrer Tertiärstruktur, d. h. ihrem übergeordneten räumlichen Aufbau, sowie der Quartärstruktur, bei der mehrere große Proteine zusammengelagert sind (beispielsweise zu einem Ribosom oder zu Myoglobin).[ 12 ]
Ein Protein kann aus einer einzelnen Domäne oder aus mehreren Domänen bestehen. Nicht die gesamte Proteinkette besteht aus Domänen, vielmehr sind die Domänen oft mit kurzen, kurvigen Aminosäureketten zwischen ihnen verbunden. In Proteinen kommen oft verschiedene Domänen zusammen vor, weswegen man auch von Multidomänen- und Multifunktionsproteinen spricht. In einem Multidomänenprotein kann jede Domäne entweder ihre Funktion unabhängig von den anderen Domänen oder in Zusammenarbeit mit ihren Nachbarn erfüllen. Domänen können beispielsweise als Module für den Aufbau großer Einheiten wie Viren oder Muskelfasern dienen, oder bei Enzymen Bindungsstellen bereitstellen, die bestimmte biochemische Prozesse katalysieren.
Interessanterweise gibt es Protein-Domänen, die in allen Lebewesen vorkommen. Man ging daher davon aus, dass sie eine wichtige Funktion haben müssen, obwohl deren Funktion zunächst vollkommen unbekannt war. Von der international kuratierten Bioinformatik-Datenbank Pfam wurden diese Domänen daher „Domänen mit unbekannter Funktion“ (engl.: domain of unknown function) oder kurz DUF genannt. Bis zum Jahr 2019 wurden mehr als 4000 DUF-Familien identifiziert, die damit etwa 22 % aller überhaupt bis dato bekannten Protein-Familien ausmachten [34].
Manche DUFs erwiesen sich als „essenziell“, d. h. schaltete man das sie kodierende Gen ab, war das Lebewesen nicht lebensfähig (man spricht von einer eDUF). Die Abschaltung der Gene für manche andere Domänen hingegen schien zunächst keinerlei Einfluss auf das jeweilige Lebewesen zu haben – egal ob Bakterium, Pflanze, Tier oder Mensch. Später wurde jedoch gezeigt, dass bestimmte Proteine, welche die DUF143 (d. h. die Domäne mit unbekannter Funktion mit der Nummer 143) enthalten, ribosomale Silencing-Faktoren sind, d. h. sie blockieren den Zusammenbau der beiden ribosomalen Untereinheiten. Diese Funktion ist zwar nicht essenziell (im Gegenteil: Ribosomen werden ja für die Proteinsynthese gebraucht!), aber sie hilft Zellen, sich an nährstoffarme Bedingungen anzupassen, indem sie die Proteinbiosynthese stilllegt. Infolgedessen werden die DUF143 bzw. die diese Domäne enthaltenden Proteine nur relevant, wenn die Zellen sich in nährstoffarmer Umgebung befinden und „hungern“, wie die Arbeitsgruppe um Roman Häuser am Institut für Toxikologie und Genetik am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) zeigen konnte. „Diese spezielle Interaktion ist in allen getesteten Spezies konserviert, einschließlich Escherichia coli, Treponema pallidum, Streptococcus pneumoniae, […] sowie in menschlichen Mitochondrien und Mais-Chloroplasten“, bemerken die Autoren hierzu [44]. Aufgrund solcher Erkenntnisse nimmt man mittlerweile allgemein an, dass viele DUFs nur unter bestimmten Bedingungen benötigt werden.
Warum dieser Crashkurs zu einem (zumindest unter manchen Psychiatern) wenig bekannten biochemischen Sachverhalt? – Die aus 65 Aminosäuren bestehende Protein-Domäne DUF1220 (die von Genen der NPBF-Familie kodiert werden[ 13 ]) spielt bei der Gehirnentwicklung eine wichtige Rolle – im doppelten Sinn von Entwicklung: Phylogenese und Ontogenese (Evolution und Embryonalentwicklung).
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Evolution: Aus DUF1220 wird Olduvai
Die Olduvai-Schlucht in Tanzania ([ Abb. 4 ]) wird oft als die Wiege der Menschheit bezeichnet. Denn in der frühen Steinzeit kam es dort bei unseren Vorfahren (den „menschenähnlichen“, Homininen) zu bedeutenden biologischen Veränderungen, die mit einer verstärkten Nutzung von Steinwerkzeugen, einer Diversifizierung der Ernährung und einer weiten Ausbreitung über große Entfernungen einhergingen [72]. Neue Funde weisen darauf hin, dass es im Zeitraum von vor etwa 2–1,8 Millionen Jahren immer wieder zu Veränderungen des Lebensraums (See- und Flussufer mit Palmen, Steppe, Wälder, Wiesen und abgebranntes Land) gekommen ist, wie die Untersuchungen der Fossilien von Säugetieren (wilden Rindern und Schweinen, Flusspferden, Panthern, Löwen, Hyänen und Primaten), Reptilien und Vögeln zeigte. In unterschiedlicher Tiefe wurden in dieser Gegend Fossilien sowohl der ausgestorbenen Seitenlinie Paranthropus boisei als auch unserer Vorfahren Homo habilis und Homo erectus sowie 3,6 Millionen Jahre alte Fußspuren[ 14 ] noch älterer Vorfahren (Australopithecus afarensis) gefunden [96]. „Die Besiedlung von unterschiedlichen und instabilen Umgebungen, auch nach vulkanischen Aktivitäten, ist eines der frühesten Beispiele für Anpassungen an einschneidende ökologische Veränderungen“, wird einer der Autoren der Studie von Mercader und Mitarbeitern, Pastory Bushozi von der Universität Dar es Salaam in Tansania, in einer Pressemitteilung zitiert [79]. Man kann also durchaus annehmen, dass rasche Anpassungen an sich ändernde Umgebungsbedingungen einen Motor der Evolution des Menschen darstellte und dass DUFs, die diese Anpassungen ermöglichten, daher eine Rolle gespielt haben könnten.
Zurück zu DUF1220. Diese Proteine und die sie kodierenden Gensequenzen weisen den größten stammbaumspezifischen Anstieg der Kopienzahl im haploiden menschlichen Genom (nach der neuesten Zählung 302 Kopien, von denen 165 humanspezifisch sind [112] aller kodierenden Regionen des menschlichen Genoms auf. Weil sich der Mensch vor allem durch sein stark vergrößertes Gehirn von seinen Vorfahren und anderen nicht menschlichen Primaten unterscheidet, wurde die Protein-Domäne DUF1220 (bzw. die Gene der NPBF-Familie sowie angrenzende, koexprimierte Gene) mit der Evolution des menschlichen Gehirns in eine enge Verbindung gebracht [102]. Die im Verlauf des nachfolgenden Jahrzehnts zutage geförderten Erkenntnisse veranlassten die Entdecker von DUF1220 bzw. der NBPF-Genfamilie auf einer Region des Chromosoms 21 – James M. Sikela und Frans van Roy – zum mittlerweile akzeptierten Vorschlag der Umbenennung in Olduvai-Domäne. Denn deren Funktion ist erstens nicht mehr unbekannt und hat zweitens für unser Verständnis der Evolution des Menschen eine große Bedeutung – ganz ähnlich wie die Fossilien-Funde aus der Olduvai-Schlucht, die man schon zuvor als die „Wiege der Menschheit“ bezeichnet hatte [94]. [ 15 ] Für den auffälligen humanspezifischen Anstieg der Kopienzahl sind vor allem Duplikationen eines 3-Domänen-Blocks – genannt Olduvai-Triplet – in 4 NBPF-Genen in der Region 1q21.1–0.2 auf Chromosom 1 verantwortlich. „Wir sind uns zwar bewusst, dass es ungewöhnlich ist, eine Protein-Domäne nach einem geografischen Ort zu benennen, aber wir glauben, dass der Name Olduvai mehr als nur ein Ort ist. Er ist vielmehr auch ein Symbol für die Bemühungen unserer Art, sich selbst zu verstehen“[ 16 ], kommentieren Sikela und van Roy [94] die beachtenswerte Umbenennung einer Protein-Domäne. So wurde aus „Eiweiß mit unbekannter Funktion“ auch namentlich „die Wiege der Menschheit“.
Halten wir fest: Die Olduvai-Domäne (also DUF1220-Protein-Domäne, kodiert durch die NBPF-Genfamilie) wurde mit der Evolution des Menschen in eine enge Verbindung gebracht: Während das haploide menschliche Genom 302 Kopien dieser Domäne kodiert (von denen 165 humanspezifisch sind), liegt die Kopienzahl beim Schimpansen bei etwa 125, beim Gorilla bei etwa 99 und beim Orang-Utan bei 92. Die sogenannten, in Afrika und Asien lebenden Altweltaffen weisen noch 35 Kopien weniger auf (Gibbon 53; Pavian 35), bei Hase und Pferd sind es 8, bei der Kuh 7, beim Delphin 4, bei Katze, Schwein und Hund 3 und bei Mäusen und Ratten 1. Bei Nichtsäugetieren kommt die Olduvai-Domäne nicht vor [76]. Der Anstieg beim Menschen um mindestens 165 zusätzliche Kopien stellt den größten stammbaumspezifischen Anstieg der Kopienzahl in einer kodierenden Region des Genoms überhaupt dar, was ein sehr starkes Indiz für eine bedeutende Rolle der Olduvai-Domäne in der Evolution des Menschen unterstreicht [22].
In den vergangenen 10 Jahren erschienen mehrere Arbeiten zu möglichen Mechanismen, die letztlich das Gehirnwachstum betreffen. Die Anzahl der Kopien der Olduvai-Domäne korreliert mit der Gehirngröße über verschiedene Arten von Primaten hinweg [58] ([ Abb. 5 ]), was in einer weiteren Studie aus dem gleichen Jahr nochmals bestätigt wurde [112]. Zudem wurde in den letzten Jahren allgemein klar, dass die Gehirngröße bei Primaten vor allem aufgrund der Neuronenzahl gewachsen ist und nicht (wie bei anderen Säugetieren wie beispielsweise Elefant oder Wal) aufgrund der Neuronengröße. Daher korreliert über die Säugetiere hinweg die Gehirngröße nur schlecht mit der geistigen Leistungsfähigkeit der Arten, die Anzahl der Neuronen hingegen deutlich[ 17 ] [50], [51].
Der Vorgang der Gen-Duplikation ist die Antwort auf die Frage, wie im Verlauf der Evolution Neues entstehen kann: Ähnlich wie aus einer bestehenden Struktur eine andere werden kann (aus einer im Wasser zur Fortbewegung benötigten Flosse wird an Land eine Hand), kann aus einem Gen mit einer Hauptfunktion und einer Nebenfunktion nach dessen Duplikation das Duplikat eine neue Funktion erwerben, indem seine bisherige Nebenfunktion durch Mutation geändert wird. „Aus einem Hobby einen Job machen“ betiteln die Autoren daher eine in Nature Reviews Genetics publizierte Arbeit zu diesem Thema [15]. Veränderungen der Kopienzahl eines Gens (Copy Number Variations, CNVs) im Sinne von Duplikationen und Löschungen sind daher der Motor genetischer Variabilität, die eine Voraussetzung von Evolution darstellt. Zugleich können sie aber auch Krankheit verursachen (bei CNVs in somatischen Zellen kann dies insbesondere Krebs bedeuten [63]. Veränderungen der Kopienzahl im Genom gehen ebenfalls mit verschiedenen Krankheiten einher (Anmerkung 25).
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Olduvai-Domäne, Gehirnentwicklung in der Kindheit, ASD und Schizophrenie
Die Olduvai-Domäne spielt auch in der Ontogenese, also bei der Entwicklung des Gehirns eines Individuums, eine wichtige Rolle. Dies zeichnete sich seit dem Jahr 2008 immer stärker ab, in dem 2 unabhängige Forschergruppen entdeckten, dass CNVs der Olduvai-Domäne mit Variationen der Gehirngröße im Sinne zu kleiner oder zu großer Gehirne assoziiert sind: Eine erniedrigte Anzahl der Kopien aufgrund von Deletionen war mit Schizophrenie (und Mikrozephalie) assoziiert, wohingegen eine erhöhte Anzahl von Kopien aufgrund von Duplikationen mit Autismus (und Makrozephalie) assoziiert waren [114], [115]. Obwohl beide Arten von CNVs bei beiden Störungen beobachtet werden, wurde diese bevorzugte Verteilung mittlerweile in weiteren Studien bestätigt [18]. Diese Ergebnisse untermauern die früher geäußerte Vermutung, dass Autismus und Schizophrenie (wenn auch nicht in allen Fällen) als Gegensätze auf einem Kontinuum, das in der Mitte Normalität einschließt, betrachtet werden könnten [17]. Im Hinblick auf den Mechanismus konnte gezeigt werden, dass die Expression von RNA der Olduvai-Domäne während der menschlichen Embryonalentwicklung in der 6. Woche noch nicht erfolgt, ab der 7. Lebenswoche nachweisbar ist, etwa in den Wochen 11–12 ihr Maximum erreicht und in der 18. Lebenswoche dann wieder nicht mehr nachweisbar ist. Sie fällt damit mit dem Zeitraum der kortikalen Neurogenese zusammen [58]. Hierzu kommt, dass die meisten der Olduvai-Tripletts in der Nähe von 3 humanspezifischen NOTCH2NL-Genen liegen, von denen nachgewiesen ist, dass sie die kortikale Neurogenese fördern, und zusammen mit diesen abgelesen werden (Koexpression).
Trotz dieser bemerkenswerten Zusammenhänge während der pränatalen Entwicklung verweisen die Ergebnisse anderer Autoren aber auch auf die funktionelle Bedeutung des Olduvai-Tripletts für die postnatale Gehringreifung. So konnten Zimmer und Montgomery zeigen, dass für eine Reihe von Primaten die Anzahl der Kopien der Olduvai-Domäne stärker mit dem postpartalen Gehirnwachstum korreliert ist als mit dem pränatalen [112]. Dies spricht daher eher gegen einen wesentlichen Effekt von DUF1220[ 18 ] auf die (pränatale) Neurogenese, wie Zimmer und Montgomery [112] verdeutlichen: „Wenn DUF1220-Domänen die Neurogenese regulieren würden, wäre zu erwarten, dass sie mit dem pränatalen Gehirnwachstum gemeinsam evolvierten, da die kortikale Neurogenese auf die pränatale Entwicklung beschränkt ist. […] Unsere Ergebnisse deuten jedoch auf eine robuste und spezifische Beziehung zur postnatalen Gehirnentwicklung hin […]. Da sich ASD postnatal während einer Phase des beschleunigten Gehirnwachstums entwickelt, ist die postnatale Entwicklung für das Entstehen von Autismus relevanter.“[ 19 ]
Man geht mittlerweile davon aus, dass die prä- und postnatale Gehirnentwicklung, d. h. die Entstehung von Neuronen einerseits und deren Vernetzung durch axonales und dendritisches Wachstum sowie Synaptogenese und Myelinisierung andererseits, eher unabhängig voneinander reguliert werden.
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Gehirnreifung: Neuronen vor und Verbindungen nach der Geburt
Verglichen mit anderen Säugetieren, einschließlich der nicht menschlichen Primaten, ist die Zeit der Kindheit und Jugend beim Menschen sehr lang. Das neugeborene Delphin-Baby schwimmt sofort, das Fohlen steht kurz nach der Geburt auf und läuft, viele Singvögel können etwa 2 Wochen nach dem Schlüpfen fliegen (die Federn müssen noch wachsen), aber der Mensch braucht ein Jahr und länger, um Laufen zu lernen, mehrere Jahre, um Sprechen zu lernen und noch länger für die Entwicklung von Selbstkontrolle, Einfühlungsvermögen in die Emotionen (Empathie) und Gedanken (Perspektivenwechsel) von anderen, sowie langfristiger Planungsfähigkeit für das eigene Leben (Gesundheit, Bildung, Arbeit) und seinen Beitrag zur Gemeinschaft, einschließlich der Fortpflanzung. Die Gehirnentwicklung reicht beim Menschen bis in das 3. Lebensjahrzehnt hinein, und war selbst Gegenstand der Evolution [95]. Sie ist insbesondere dadurch charakterisiert, dass während des Wachstums bereits sehr viel sehr schnell gelernt wird, sich das Gehirn also selbst nach Maßgabe der verarbeiteten Informationen strukturiert. Erfahrungen strukturieren die Verbindungen im Gehirn, sowohl die Zahl und Stärke der Synapsen als auch die Myelinisierung langer Nervenfasern, wodurch verschiedene Bereiche der Gehirnrinde überhaupt erst funktionell verbunden werden.
Im entwickelten Gehirn geschieht nicht alles überall, vielmehr geht die Gehirnentwicklung mit der Spezialisierung von Gehirnbereichen einher. Diese wiederum funktionieren im Verbund, d. h. als integriertes System. Das Ergebnis ist eine hohe Spezialisierung und zugleich hohe Integration von Gehirnbereichen. Diese funktionelle Spezialisierung kortikaler und subkortikaler neuronaler Areale und deren wechselnde funktionelle Integration in Abhängigkeit von den jeweiligen Leistungsanforderungen der Umgebung sind 2 grundlegende Prinzipien der Organisation ausgereifter, entwickelter Gehirne. Bereiche, Regionen und Unterregionen des Gehirns übernehmen unterschiedliche Aufgaben beim Ausführen höherer geistiger Leistungen (funktionelle Spezialisierung), die nur durch kollektive Aktivierung dieser Bereiche, Regionen und Unterregionen möglich sind (funktionelle Integration). Man geht davon aus, dass während der Entwicklung des Gehirns sowohl in Richtung Spezialisierung als auch in Richtung Integration ein Gleichgewicht zwischen beiden Prozessen erreicht werden muss. Zu viel Spezialisierung und zu wenig Integration im Laufe der Gehirnentwicklung nach der Geburt könnte bei Menschen mit ASD vorliegen.
Obwohl Mäuse – mit nur einer Kopie der Olduvai-Domäne – definitiv kein Modell der Auswirkungen einer Vergrößerung der Zahl dieser Kopien darstellen, ist an dieser Stelle interessant, dass die erste Studie zu DUF1220-Knockout-Mäusen keine Hinweise auf eine abnormale Gehirnentwicklung zeigte [59]. Die deutlichsten Veränderungen bestanden in einer deutlich reduzierten Fruchtbarkeit der Knockout-Mäuse. Weiterhin fanden sich metabolische Veränderungen in der Leber im Sinne einer gesteigerten Aktivität, die darauf deuten, dass DUF1220 insgesamt dämpfend auf den Metabolismus wirkt. Dies passt zum angesprochenen Befund, dass manche DUF-Domänen nur bei der Reaktion auf Mangel eine Rolle spielen können. Die Domäne könnte daher im Hinblick auf die Gehirnentwicklung bei Primaten dafür sorgen, dass die Neuronen kleiner sind als bei anderen Säugetieren und damit deren Anzahl größer sein kann.[ 20 ] Und wenn sie ohnehin vor allem in der postpartalen (Gehirn-)Entwicklung eine Rolle spielt, kann sie kaum bei der Maus, aber am deutlichsten beim Menschen mit seiner extrem langen Gehirnentwicklung Auswirkungen haben. Die deutlich geringere Fruchtbarkeit der Mäuse ohne DUF1220 deutet jedenfalls darauf hin, dass diese Domäne auch im Leben der Maus eine wesentliche lebenserhaltende Funktion haben muss. Da sie in den verschiedensten Geweben exprimiert wird, müssen ihre Auswirkungen keineswegs auf das Gehirn beschränkt sein. Aufgrund des Zusammenhangs von DUF1220-Kopienzahl und Gehirngröße bei Primaten ist ein Einfluss von DUF1220 auf die Gehirnentwicklung beim Menschen dagegen sehr wahrscheinlich.
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Funktionelle Konnektivität
Eine Möglichkeit, das Zusammenspiel bzw. die funktionelle Integration zwischen Hirnarealen zu quantifizieren, besteht darin, die Synchronisierung der Aktivierung zwischen 2 Hirnarealen durch Korrelation zu untersuchen. Dieses Maß wird als funktionelle Konnektivität bezeichnet, mit der die zeitliche Korrelation der mittels funktioneller MRT (in Ruhe oder bei bestimmten Aufgaben) gemessenen Aktivitäten räumlich entfernter Bereiche des Gehirns bestimmt wird. Man geht davon aus, dass die funktionelle Konnektivität und damit die Synchronisierung des zeitlichen Verlaufs der Hirnaktivierung notwendig ist, um komplexe kognitive Aufgaben zu bewältigen. Die funktionelle Konnektivität bietet daher eine Möglichkeit zur Untersuchung der Gehirnfunktion auf Systemebene im Hinblick auf entwicklungsbedingte Anomalien der Konnektivität.
Vor fast 20 Jahren gab es erste Überlegungen dahingehend, ASD als ein Diskonnektionssyndrom zu verstehen [38], [54].[ 21 ] Mit den Möglichkeiten der funktionellen Bildgebung wurde mittlerweile gezeigt, dass bei ASD nicht nur geringere, sondern auch gesteigerte Konnektivität, zwischen jeweils anderen Bereichen, besteht [55]. Insbesondere im Default-Mode-Netzwerk, das beim fMRT unter Ruhebedingungen aktiv ist, spricht man deswegen von dysfunktionaler funktioneller Konnektivität [6], [35], [69]–[71], [74], [101], [110].
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Autismus und Schizophrenie dürfte es eigentlich nicht geben
„Nichts in der Biologie macht Sinn, außer im Licht der Evolution“[ 22 ], lautet der Titel einer Arbeit des ukrainischen Genetikers Theodosius Dobzhansky (1900–1975), einem der Architekten der modernen, durch die Integration von Darwin und Mendel – Evolution und Genetik – entstandenen „synthetischen“ Evolutionsbiologie [30]. Mit diesem Satz existiert jedoch sowohl für die Schizophrenie als auch für den Autismus ein Paradoxon. Beide Krankheiten weisen eine hohe Erblichkeit auf (die Schizophrenie etwa 70 %, der Autismus noch etwas mehr) und gehen mit einer deutlichen Reduktion der Lebenserwartung und vor allem der Nachkommenschaft einher. Beide Krankheiten sollten also längst verschwunden sein, ausgemerzt durch den Prozess der Evolution [52]. Beide Krankheiten sind mit einer Prävalenz von 1,5 % (Schizophrenie) bzw. 2,2 % (Autismus) jedoch häufig. – Wie kann das sein?
Die Auflösung des Paradoxons besteht in der Überlegung, dass die gleichen Gene, die uns im Verlauf der Evolution durch ihre Auswirkungen auf die Entwicklung unseres Gehirns zum Menschen gemacht haben, auch Störungen dieser Entwicklung und damit Krankheiten verursachen können. Diese Idee ist keineswegs neu, sondern wurde bereits vor einem Vierteljahrhundert von dem bekannten britischen Psychiater und Schizophrenie-Forscher Timothy Crow [19]–[21] vorgeschlagen. Er hatte dabei vor allem die Sprache als das den Menschen vom Tier wesentlich unterscheidende Merkmal im Sinn. Die Entdeckung eines vermeintlichen „Sprach-Gens“ FOXP2 [62], [67], [103] und erste Hinweise auf Zusammenhänge mit Autismus [39] und Schizophrenie [60], [89] sowie Studien an FOXP2-Knockout-Mäusen, die keine Ultraschallvokalisation („Schreie“ mit hoher Frequenz aufgrund des wesentlich kleineren Vokaltrakts) als Reaktion auf Stress zeigten [116], schienen diese Vermutung zunächst zu bestätigen. Da FOXP2 bei sehr vielen Arten – einschließlich Fischen und Fruchtfliegen [13] – vorkommt, ist seine Rolle in der Gehirnentwicklung mit Sicherheit nicht auf Sprache beschränkt, sondern über Effekte auf zellulärer und damit allgemeinerer Ebene vermittelt [88]. Eine sehr gründliche Studie zu dessen Evolution bereits vor der Evolution des Menschen brachte schließlich das endgültige „Aus“ für diese schöne Theorie, dass Sprache uns zum Menschen und zugleich krank macht [7]. Damit blieb jedoch das Paradoxon, dass Autismus und Schizophrenie mit einem Vorteil verknüpft sein müssen, weil es diese Krankheiten sonst nicht gäbe, weiterhin ungelöst.
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Diskussion
Halten wir zunächst fest: Autismus ist eine vor allem genetisch verursachte Entwicklungsstörung des Gehirns, die mit beeinträchtigter Kommunikation, vermindertem Sozialverhalten und motorischen Störungen einhergeht. Weil die Symptome vielgestaltig sind und in unterschiedlicher Zahl sowie unterschiedlichem Schweregrad bestehen können, spricht man von ASD. In molekularbiologischer Hinsicht handelt es sich nicht um eine Krankheit, vielmehr können eine Vielzahl molekulargenetischer Veränderungen – für sich allein oder in Kombination – die Wahrscheinlichkeit des Auftretens dieser Störung beeinflussen, als Folge einer im Säuglings- und Kleinkindalter auftretenden Störung der Gehirnentwicklung. Diese ist als gemeinsame Endstrecke einer Vielzahl von Pathomechanismen aufzufassen, ähnlich wie Fieber oder Kleinwuchs, die ebenfalls auf die unterschiedlichsten Ursachen zurückzuführen sein können. Das Gehirn von Menschen mit ASD ist gegenüber der statistischen Norm vergrößert, was angesichts der oft bestehenden Beeinträchtigungen kontraintuitiv erscheint, denn die Gehirngröße des Menschen korreliert – in einem Ausmaß von r gleich etwa 0,2 – mit der Gehirnleistungsfähigkeit, gemessen beispielsweise mit dem IQ. Im Vergleich dazu ist das Gehirn bei Patienten mit Schizophrenie (die ebenfalls als erbliche Störung der Gehirnentwicklung betrachtet werden kann) kleiner als normal. Beide Erkrankungen sind häufig, obwohl sie mit einer geringeren evolutionären Fitness, d. h. einem geringen reproduktiven Erfolg einhergehen.
Dieses Paradoxon lässt sich vor dem Hintergrund der Erkenntnisse zu einer von NBPF-Genen auf Chromosom 1 kodierten Proteinfamilie – Olduvai-Domäne genannt – wie folgt erklären. Die besondere Bedeutung dieser Domäne im Verlauf der Evolution des Menschen ist daran zu erkennen, dass sie diejenige molekularbiologische Veränderung ist, die zahlenmäßig am stärksten zugenommen hat und mit der Vergrößerung des menschlichen Gehirns innerhalb der Primaten-Evolution in direktem Zusammenhang steht. Diese Domäne reguliert vor allem die postpartale Gehirnentwicklung: Die beim einzelnen Individuum genetisch vorliegende Kopienzahl bestimmt das Größenwachstum von dessen Gehirn. Bei Patienten mit ASD korreliert die Anzahl der Kopien der Olduvai-Domäne mit der Anzahl und Schwere der Symptome [24]–[26]. Sie korreliert aber auch mit deren Hochbegabung [87], die nicht identisch ist mit der nicht autistischen Hochbegabung, jedoch mit ihr überlappt [10], [86].
Bei der Schizophrenie ergibt sich ein komplexeres Bild für den Zusammenhang zwischen der Anzahl der Olduvai-Kopien und der Symptomatik, wenn man zwischen Negativsymptomen (die dem Autismus ähnlich sind) und Positivsymptomen unterscheidet. In einer Studie zur DUF1220-Kopienzahl bei schizophrenen Patienten (n = 609) stand in der gesamten Gruppe eine verringerte DUF1220-Kopienzahl mit einer zunehmenden Schwere der Positivsymptome in Zusammenhang, wohingegen bei schizophrenen Männern die Erhöhung der Kopienzahl mit einem erhöhten Schweregrad der Negativsymptome verbunden war (wie beim Autismus). Dies passt zu dem Befund, dass Deletionen mit einem kleineren Gehirn bei schizophrenen Patienten in Verbindung gebracht wurden. Hier korrelierte die Anzahl der Kopien (sie ist vergleichsweise geringer) negativ mit der Gehirngröße und der Schwere der Symptomatik. Wie diskutiert, liegt bei ASD (mit zu vielen Kopien der Olduvai-Domäne) Makrozephalie vor, und damit einhergehend ebenfalls eine stärkere Symptomatik, die zur negativ-Symptomatik der Schizophrenie eine hohe Ähnlichkeit hat und wie diese mit mehr Olduvai-Kopien einhergeht. Die Größe von normal entwickelten Gehirnen liegt somit – ebenso wie die Anzahl der Olduvai-Kopien – zwischen denen von Patienten mit positiv-symptomatischer Schizophrenie und Patienten mit ASD ([ Abb. 6 ]).
Die Autoren diskutieren ihre Daten wie folgt: „Diese Ergebnisse unterstützen die Ansicht, dass (1) Autismus und Schizophrenie sowohl gegensätzliche als auch sich teilweise überschneidende Phänotypen aufweisen und möglicherweise ein Krankheits-Kontinuum darstellen, (2) die Variation der DUF1220-Kopienzahl zum Krankheitsrisiko für Schizophrenie und zum Schweregrad beider Störungen beiträgt und (3) Schizophrenie und Autismus zum Teil ein schädliches Nebenprodukt des schnellen und extremen evolutionären Anstiegs der DUF1220-Kopienzahl bei der menschlichen Spezies sein können“[ 23 ] [93].
Die Vielzahl der Duplikationen der Olduvai-Domäne in Tandem-Form (d. h. hintereinander gehängt) hat zur Folge, dass es bei der Meiose mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Fehlpaarungen kommen kann, weil Paarungen zwischen benachbarten ähnlichen oder identischen Sequenzen auf dem DNA-Strang erfolgen. Damit entsteht gleichsam automatisch noch mehr Variabilität des genetischen Materials (mit positiven oder negativen Folgen[ 24 ]), weswegen Sikela und Quick [93] in ihrer zusammenfassenden Arbeit vom Olduvai-Glücksrad sprechen ([ Abb. 7 ]).
Das hier gezeichnete komplexe Bild vom Zusammenspiel von genetischer Vielfalt im Bereich der Olduvai-Domäne, Instabilität (und zugleich genug Stabilität, dass es zur Vererbung reicht) und Assoziationen der Anzahl dieser Gene für die rasche Gehirnvergrößerung im Verlauf der Evolution und individuell während der postnatalen Entwicklung von größeren (bei ASD) oder kleineren (bei Schizophrenie mit Positiv-Symptomen wie Halluzinationen, formalen und inhaltlichen Denkstörungen) Gehirnen ist noch lange nicht vollständig, aber in seinen groben Zügen erkennbar. In ihrer zusammenfassenden Darstellung dieses Bildes mit dem Titel Genomische Kompromisse: Sind Autismus und Schizophrenie der hohe Preis des menschlichen Gehirns? diskutieren Sikela und Searles Quick [93] ausführlich die methodischen Schwierigkeiten beim Ausfüllen noch fehlender Teile des Bildes, insbesondere im Hinblick auf die genaue Funktion einzelner Gene, die nur beim Menschen vorkommen. Modelle, die auf die genetische Vermenschlichung nicht menschlicher Primaten hinauslaufen, lehnen sie aus ethischen Gründen entschieden ab [16]. Stattdessen lassen sich Funktionen menschlicher Gene mittlerweile in Gehirn-Organoiden in vitro untersuchen [78].
„Das menschliche Genom ist durch ein hohes Maß an struktureller und verhaltensbezogener Variabilität gekennzeichnet [… Dies ist] besonders für die Entwicklung und Funktion des Gehirns von Bedeutung. Die genetische Variabilität ist ein Fenster zu den Ursprüngen komplexer Krankheiten, neuropsychiatrischer Störungen und insbesondere neurologischer Entwicklungsstörungen. Genetische Variabilität ist [jedoch] auch der Treibstoff für Evolvierbarkeit. Die genetischen Ereignisse, die die Evolution der Primaten- und Hominidenstämme leiteten, sind bei Patienten mit Autismus und Schizophrenie sowie geistiger Behinderung und Epilepsie überrepräsentiert. Dass die besonderen Eigenschaften des menschlichen Genoms, die die Evolution vorangetrieben haben, irgendwie zu neuropsychiatrischen Störungen beitragen könnten, ist von nicht geringem Interesse“[ 25 ] formuliert der Neuropsychiater Camillo Thomas Gualtieri [41] bescheiden in seiner zusammenfassenden Übersicht zum Thema mit dem Titel Genomic Variation, Evolvability, and the Paradox of Mental Illness.
Sikela und Searles Quick fassen ihre Arbeit mit großer Vorsicht zusammen: „Olduvai-Sequenzen können sowohl eine positive Rolle (bei der Entwicklung des Gehirns und der Kognition) als auch eine nachteilige Rolle (bei Autismus und Schizophrenie) spielen, und welches Ergebnis eintritt, hängt davon ab, welche, wo, wie und wann die Kopien verändert werden. Diese duale Wirkung kann möglicherweise das zentrale Paradoxon erklären, warum Autismus und Schizophrenie, 2 genetisch bedingte, aber ungünstige Störungen, in menschlichen Populationen so häufig vorkommen“[ 26 ] [93].
Sollte sich ihr Modell bewahrheiten, könnten neue Ansätze zur Therapie der Patienten mit Autismus und Schizophrenie künftig folgen. Schon jetzt folgt: „[…] die Betroffenen […] haben keine Wahl und müssen diese Bürde tragen. Vielleicht ist es der hohe Preis, den die Evolution dem menschlichen Gehirn auferlegt hat, und wir sollten uns verpflichtet fühlen, mehr Mitgefühl und Unterstützung für diejenigen zu zeigen, die für dessen Existenz bezahlt haben und weiterhin bezahlen“[ 27 ] [93].
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1 „Autismus“ ist also von der gleichen Wurzel abgeleitet wie „Automobil“ (ein Ding, das sich von selbst bewegt).
2 In der angloamerikanischen Literatur wird der Autismus nicht selten – fälschlich – als eines der 4 Grundsymptome („Bleuler’s four A: (disturbed), Associations and Affect, Ambivalence and Autism) bezeichnet. Bleuler unterscheidet jedoch 3 Grundsympome von Störungen zusammengesetzter Symptome wie Autismus.
3 Vielleicht war doch nicht alles Zufall: Kanner befasste sich nach eigenen Angaben seit 1938 mit einer besonderen Gruppe von Kindern. Im gleichen Jahr hatte Asperger am 3. Oktober an der der Universitätsklinik Wien einen Vortrag über „autistische Psychopathen“ gehalten, der in der Wiener klinischen Wochenschrift publiziert wurde [4]. Da Kanner nach seiner Auswanderung die europäische Literatur zu seinen Fachinteressen möglicherweise verfolgte, könnte der Beginn seiner eigenen Studien durch die Lektüre der Publikation von Asperger motiviert gewesen sein [91]. Dass 2 Psychiater aus dem gleichen kleinen Land der Welt zur gleichen Zeit das (nahezu) Gleiche beschreiben und zudem mit dem gleichen Wort bezeichnen, wäre aus meiner Sicht ein sehr ungewöhnlicher Zufall.
4 Klinisch wurde bei Autisten eine Überempfindlichkeit gegenüber Geräuschen beschrieben. Eine solche Hyperakusis, im HNO-Bereich definiert als verminderte Toleranz gegenüber Geräuschen bei Pegeln, die die meisten Menschen nicht stören würden, wurde bei Patienten mit ASD in einer im Jahr 2021 publizierten Metaanalyse von 67 Arbeiten [108] tatsächlich mit einer Prävalenz für aktuelle Hyperakusis von 41,4 % und für lebenslange Hyperakusis von 60,6 % gefunden.
5 Experimentell fand man im Bereich der visuellen Wahrnehmung in einer Studie an 80 Patienten mit ASD bei 36 % eine Prosopagnosie (Unfähigkeit zur Erkennung von Gesichtern) gegenüber der Häufigkeit in der Normalbevölkerung von 2–3 % [73].
6 Die paarweise Konkordanz für Autismus bei eineiigen Paaren betrug in dieser Studie 36 %, bei zweieiigen Paaren dagegen 0 %. Die Konkordanz für kognitive Defizite betrug 82 % bei eineiigen Paaren und 10 % bei zweieiigen Paaren. Daraus ließ sich damals ableiten, dass es deutliche erbliche Einflüsse in Bezug auf ein kognitives Defizit gibt, das Autismus einschließt, aber nicht darauf beschränkt ist. Bei 12 von 17 Paaren mit Autismus-Diskordanz wurde das Vorhandensein von Autismus mit einer biologischen Vulnerabilität für Hirnschäden in Verbindung gebracht, woraus der Schluss gezogen wurde, dass eine Hirnschädigung im Säuglingsalter allein oder in Kombination mit einer genetischen Veranlagung zu Autismus führt.
7 Dies hat sich mit DSM-5 und ICD-11 wieder geändert.
8 Damit wird auch klar, warum der Ausprägungsgrad einzelner Aspekte der Störung von deren Beginn abhängen muss: Beim frühkindlichen Autismus, der mit 10–12 Monaten beginnt, muss die Sprachentwicklung gestört sein, denn sie ist zu diesem Zeitpunkt in einer relevanten Phase. Wenn der Autismus dagegen erst im 4. Lebensjahr beginnt, ist die Sprachentwicklung weitgehend erfolgt. Dies bedeutet anders herum betrachtet Folgendes: Wenn im 1. Lebensjahr die Sprachentwicklung aufgrund ausbleibender Lernprozesse beeinträchtigt ist, zeigt sich dies im Alter von 3 Jahren als erhöhte Wahrscheinlichkeit, an ASD zu leiden, denn die verzögerte Sprachentwicklung ist eines der diagnostischen Kriterien für ASD.
9 „[…] the present findings suggest that patients suffering from schizophrenia may have had some type of early developmental abnormality that led to impaired capacity for the brain to grow, thereby causing a correspondingly small cranial area” [3].
10 Da es auch beim Schimpansen während der letzten 7–8 Millionen Jahren zu einem Größenwachstum des Gehirns kam, ist das Gehirn des Menschen etwa 3-mal so groß wie das des Schimpansen. Nimmt man den ältesten Vorläufer des heutigen Menschen – Sahelanthropus tschadensis – vor etwa 6–7 Millionen Jahren mit seinem Gehirnvolumen von 320–380 cm3 [12] zur Grundlage, so hat sich 4–5 Millionen Jahre später, also vor etwa 2 Millionen Jahren, beim Homo habilis oder Homo rudolfensis das Gehirn auf etwa 700 cm3 verdoppelt. Beim etwa zwei- bis dreihunderttausend Jahre alten Homo sapiens hatte sich die Gehirngröße dann innerhalb von knapp 2 Millionen Jahren nochmals verdoppelt.
11 Der Bereich liegt bei 30–400 Aminosäuren.
12 Diese Einteilung geht auf den dänischen Biochemiker Kaj Ulrik Linderstrøm-Lang (1896–1959) zurück, der sie im Jahr 1952 vorschlug.
13 Die Abkürzung steht für „neuroblastoma breaking point family“, NBPF; oder wie es Sikela und van Roy [93] ausdrücken: „The name Neuroblastoma Breakpoint Family (NBPF) was applied to this gene family when the first identified member of the family was found to be interrupted in an individual with neuroblastoma.”
14 Sie wurden in Laetoli im Norden von Tanzania bereits im Jahr 1978 gefunden [64] und stammen aus dem Zeitalter des Pliozän (vor 5,3–2,6 Millionen Jahren), auf das die Steinzeit (Pleistozän) folgte.
15 Mit den Worten der Autoren: „Because of considerable data linking the domain to human-specific evolution, brain expansion and cognition, we believe a name reflecting these findings would be appropriate. With this in mind, we have chosen to name the domain (and the repeat that encodes it) Olduvai. The gene family will remain as NBPF for now […] and the three-domain block that expanded dramatically in the human lineage will be termed the Olduvai triplet” [94].
16 „While we are aware that naming a protein domain after a geographic location is unusual, we believe the name Olduvai is more than a place. Rather it has also come to be thought of as a symbol of the efforts of our species to understand itself.”
17 Diese Theorie löste die favorisierte Theorie ab, nach der die Gehirngröße mit der Körpergröße (und damit z. B. der Anzahl der Sinnes- und/oder Muskelzellen) in Beziehung stehe.
18 In Arbeiten, die vor 2019 erschienen sind, ist von DUF1220 die Rede, weswegen mit Bezug auf diese Arbeiten dieser Name beibehalten wird.
19 “If DUF1220 domains do regulate neurogenesis, we would expect them to coevolve with prenatal brain growth, as cortical neurogenesis is restricted to prenatal development. […] Our results instead suggest a robust and specific relationship with postnatal brain development […]. Indeed, an emphasis on postnatal brain growth is potentially more relevant for ASD, which develops postnatally, accompanied by a period of accelerated brain growth in early postnatal development.”
20 Diese Vermutung sei im Original wiedergegeben: “These observations raise the possibility that down-regulation of mitochondria-related proteins may therefore be acting to restrict metabolism - and therefore cell size - during neural development.” [59].
21 Der erste, der Diskonnektion als Prinzip zur Erklärung von (schizophrener) Psychopathologie heranzog, war Carl Wernicke (1906).
22 “Nothing in biology makes sense except in the light of evolution.”
23 “These findings support the view that (1) autism and schizophrenia exhibit both opposing and partially overlapping phenotypes and may represent a disease continuum, (2) variation in DUF1220 copy number contributes to schizophrenia disease risk and to the severity of both disorders, and (3) schizophrenia and autism may be, in part, a harmful by-product of the rapid and extreme evolutionary increase in DUF1220 copy number in the human species.”
24 Tatsächlich weisen neben Autismus und Schizophrenie auch die folgenden Krankheiten einen Zusammenhang mit der Kopienzahl der Olduvai-Domäne auf [33]: Angeborene Herzkrankheiten, angeborene Nieren- und/oder Harnwegsanomalie, Epilepsie, geistige Behinderung, intermittierende Störung der Impulskontrolle, Neuroblastom, das Mayer-Rokitansky-Küster-Hauser-Syndrom (MRKHS, eine angeborene Fehlbildung des weiblichen Genitals mit Abwesenheit von Vagina und Uterus) sowie das Thrombozytopenie-Radiusaplasie-Syndrom (TAR-Syndrom, ein sehr seltenes erbliches Fehlbildungssyndrom mit typischerweise beidseits fehlender Speiche bei vorhandenem Daumen, und zusätzlicher Thrombozytopenie).
25 “The human genome is characterized by a high degree of structural and behavioral variability [… This is] especially pertinent to brain development and function. Genomic variability is a window on the origins of complex disease, neuropsychiatric disorders, and neurodevelopmental disorders in particular. Genomic variability, [however], is also the fuel of evolvability. The genomic events that presided over the evolution of the primate and hominid lineages are over-represented in patients with autism and schizophrenia, as well as intellectual disability and epilepsy. That the special qualities of the human genome that drove evolution might, in some way, contribute to neuropsychiatric disorders is a matter of no little interest.”
26 “Olduvai sequences can play both a beneficial role (in brain evolution and cognition) and a detrimental role (in autism and schizophrenia), and which outcome occurs depends on which, where, how, and when copies are changing. This duality of effect can potentially account for the central paradox of why autism and schizophrenia, two genetic but maladaptive disorders, persist at high frequency across human populations.”
27 “[…] those afflicted with these disorders […], through no choice of their own, must carry these burdens. It may well be the steep price evolution has placed on the human brain, and we should feel compelled to show a greater compassion and support for those who have paid, and continue to pay, for its existence.”
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Article published online:
05 May 2022
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Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany
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