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DOI: 10.1055/a-1811-0762
Stützpunkt Fast Track Notfallzentrum – Physiotherapeutische Frühintervention in der Notaufnahme
- Physiotherapeutischer Einsatz bei muskuloskelettalen Beschwerden
- Arbeit nach internationalem Vorbild
- Start des Versorgungsmodells in 2018
- Positive Studienergebnisse
- Weiterlesen
- Regelbetrieb seit 2021
- Bewegungskontrolle
- Beispiele aus der Berner Notaufnahme
Im Inselspital Bern untersuchen und behandeln Physiotherapeut*innen Hand in Hand mit den diensthabenden Ärztinnen und Ärzten in der Notaufnahme. Die Erfahrungen aller Beteiligten: Das Versorgungsmodell bewährt sich.
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Sonntagvormittag. Physiotherapeut Balz Winteler hat Dienst und ist gerade auf dem Weg in die Rheumatologie, als sein Sucher piepst und er den Anruf am nächsten Telefon entgegennimmt. Sucher heißen in der Schweiz diese kleinen Geräte, die in Deutschland auch Piepser heißen, also Funkrufempfänger. Der diensthabende Arzt fragt, ob Balz sich einen Patienten anschauen könne, der sich gerade in der Notaufnahme mit einem akuten Schiefhals vorgestellt hat. Die Erfahrung des Inselspitals ist, dass viele Patient*innen mit akuten muskulären Beschwerden als Notfall kommen, statt lange auf einen Termin beim niedergelassenen Arzt zu warten, der dann vielleicht mit beruflichen Verpflichtungen schlecht zu vereinbaren ist.
Balz notiert sich rasch Name und Geburtsdatum, loggt sich in die elektronische Patientenakte ein und liest sich kurz ein. Es dauert nur 10 Minuten, bis er im Notfallzentrum ankommt. Im Behandlungsraum wartet der Patient. Der diensthabende Arzt hat bereits größere strukturelle Schädigungen ausgeschlossen, aber Balz stellt trotzdem noch erste Sicherheitsfragen, um Red Flags auszuschließen, bevor er mit der Untersuchung beginnt. Im Anschluss tauscht sich Balz – wie immer – mit dem diensthabenden Arzt aus. Die Erfahrung zeigt, dass seine Ergebnisse ernst genommen und die Vorschläge umgesetzt werden. Auf der Verordnung vermerkt der Arzt dann, dass er eine Deblockierung erbittet – eine Maßnahme, die für Patient*innen oft ein erstaunlich schnelles Erfolgserlebnis bedeutet.
Physiotherapeutischer Einsatz bei muskuloskelettalen Beschwerden
So oder so ähnlich könnte ein Einsatz von Balz Winteler im Frühjahr 2019 tatsächlich ausgesehen haben – während der Pilotphase eines neuen Angebotes des Universitätsspitals Bern: Physiotherapeut*innen können dort seitdem bei Notfällen mit muskuloskelettalen Problemen vom Arzt hinzugezogen werden (ABB, s. 22). Zu der im oben genannten Fall verordneten „Deblockierung“ erklärt Balz: „Das System hier in der Schweiz ist föderalistisch. Jeder hat eine eigene Definition. Auf der sicheren Seite ist man, wenn der Arzt ‚Mobilisation mit Impuls‘ oder ‚Manipulation‘ auf die Verordnung schreibt.“ Im Kanton Bern müsse die Deblockierung aber explizit verordnet sein und von Therapeut*innen mit entsprechender Ausbildung ausgeführt werden. Die Berner Fachhochschule arbeite mit der Schweizerischen Ärztegesellschaft für Manuelle Medizin zusammen. Die Physiotherapeut*innen im Masterprogramm durchliefen ihre Ausbildung in Manueller Therapie bei denselben Instruktor*innen wie die Ärzt*innen. Das helfe etwas im Sinne des gegenseitigen Verständnisses und der interprofessionellen Zusammenarbeit.
Balz, der sich in Deutschland der Einfachheit halber lieber als Balthasar vorstellt, ist als Therapeut für Probleme am Bewegungsapparat hoch qualifiziert. Er erzählt lachend: „Ja, ich habe sogar zwei Master.“ Den ersten Masterabschluss in Manipulativer Physiotherapie hat er 2001 in Australien bei Mark Jones an der University of South Australia gemacht. Dies brachte auch die OMT-Anerkennung mit sich. Ein berufsbegleitendes Studium in der Schweiz mündete dann im Master of Science in Physiotherapiewissenschaften.
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Arbeit nach internationalem Vorbild
Ohne den Einfluss aus dem angelsächsischen Sprachraum wäre es vielleicht nie zu der Idee für das Projekt gekommen. Der leitende Arzt im Notfallzentrum des Spitals hat ebenfalls in Australien gute Erfahrungen gesammelt – mit einer Versorgungsstruktur, die im Notfallsetting Physiotherapeut*innen einbindet. In Australien beurteilen und behandeln Physiotherapierende dort sogar im Erstkontakt, übernehmen die Fallführung und begleiten die Patient*innen bis zum Austrittsmanagement.
So hat die Klinik in Bern schon 2012 das Gespräch mit ihrer Physiotherapieabteilung gesucht. Balz, der schon 10 Jahre im Inselspital tätig ist, erzählt von den anfänglichen Bedenken: „Wie organisiert man so einen Dienst? Die Notfallstation hat ja 24 Stunden geöffnet – über 365 Tage. Da gab es viele offene Fragen.“ Inzwischen sind aber die Zeitslots geklärt: Montag bis Freitag 11 bis 19 Uhr und am Wochenende 11 bis 14 Uhr – denn das sind die Zeiten, in denen aus Erfahrung der Klinik die meisten physiotherapierelevanten Patient*innen kommen.
Physiotherapie für Patient*innen in der Notaufnahme – das ist die zentrale Idee des Inselspitals Bern.
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Start des Versorgungsmodells in 2018
Im Jahr 2018 haben die Akademie-Praxis-Partnerschaft der Insel Gruppe und die Berner Fachhochschule das Projekt ins Leben gerufen. Geleitet wird es von Prof. Dr. Kai-Uwe Schmitt, dessen beruflicher Hintergrund sich als großer Vorteil für das Projekt herausgestellt hat. „Er hat ursprünglich eine Notfallpflegerausbildung vor dem Studium gemacht. Er kannte also das Thema und die wichtige Rolle der Pflege im Notfallbereich. So kamen wir in sehr guten Kontakt mit allen Beteiligten“, bemerkt Balz.
Alle Beteiligten gingen sehr ehrgeizig an das Projekt heran, da man die Modelle aus Australien kannte – und analog umsetzen wollte. Aber Balz berichtet auch von den ersten Dämpfern: „In der Schweiz gibt es andere rechtliche Rahmenbedingungen. Therapierende arbeiten auf ärztliche Verordnung – und das ist auch im Notfall so.“ Sie hätten es jetzt so organisiert, dass die Ärzt*innen sehr früh in der Triage, also in der Einteilung von Patient*innen nach der Schwere ihrer Verletzungen, den Bedarf für Physiotherapie klären und die Therapeut*innen früh einbeziehen. Diese beurteilten dann die Patient*innen bezüglich ihrer muskuloskelettalen Problematik mit.
Im Vorfeld wurden Gespräche mit allen beteiligten Gesundheitsfachpersonen geführt: Klinikleitung, zuweisende und diensthabende Ärzte und Ärztinnen, Physiotherapeut*innen– und ganz wichtig war die Pflege, weil sie das Notfallmanagement stark prägt. Sie macht im Inselspital die Ersttriage, das heißt, sie bestimmt, wo der Patient weiter betreut werden sollte. „Daher konnte die Pflege gut einschätzen, was der Bedarf an Physiotherapie sein wird“, erklärt Balz. Die Ergebnisse dieser Gespräche waren sehr positiv. Aber Balz gibt zu, dass vielleicht eine gewisse Verzerrung gegeben war: „Es gibt sicher solche, die sich nicht aktiv dagegenstellen, aber unseren Dienst dann vielleicht einfach nicht in Anspruch nehmen.“
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Positive Studienergebnisse
Und dann startete eine 63-tägige Pilotstudie. Die Daten wurden aus der elektronischen Patientenakte und einem von Physiotherapeut*innen geführten Logbuch gesammelt. Die Ergebnisse: Während der Studie wurden 79 Patient*innen von Physiotherapeut*innen behandelt. Am häufigsten aufgrund von Rückenschmerzen (47 %). Bei 59 % der Patient*innen wurde keine medizinische Bildgebung und bei 58 % keine zusätzliche Physiotherapie verordnet. 88 % der Patient*innen bewerteten die physiotherapeutische Leistung als sehr gut oder ausgezeichnet. Die Physiotherapie wurde von den anderen Berufsgruppen als positiv erlebt und geschätzt, und alle involvierten Berufsgruppen betonten den Mehrwert für die Patient*innen. Die Daten der Pilotstudie veröffentlichten Balz und sein Team in der Thieme-Zeitschrift physioscience (WEITERLESEN, s. 21).
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Weiterlesen
Der englischsprachige Artikel „Musculoskeletal Physiotherapy in the Emergency Department“ ist 2021 in der Thieme Zeitschrift physioscience erschienen. Wer den Artikel in vollständiger Länge lesen möchte, findet ihn unter www.thieme-connect.de/products/physiopraxis > „Ausgabe 5/22“.


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Regelbetrieb seit 2021
Die neue Versorgungsform, mit Stand Juni 2021 fast 500 Patient*innen, wird weiterhin wissenschaftlich begleitet. Das Feedback sei durchweg positiv. Die Physiotherapie bringe ein Know-how mit, das komplementär zu dem der anderen Berufsgruppen sei und sehr geschätzt werde. Einziges Problem sei manchmal die unterschiedliche Fachsprache. So erzählt Balz schmunzelnd ein Beispiel: „Therapeut*innen sprechen oft von funktionellen Problemen, wenn strukturelle Probleme ausgeschlossen wurden. ‚Funktionell‘ ist für Mediziner*innen aber immer psychosomatisch.“ Das könne schon mal zu Missverständnissen führen.
Das Bedürfnis der Patient*innen in der Notaufnahme sei da. „Vorher haben sie eher Schmerzinfusionen bekommen, eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, vielleicht eine PT-Verordnung – aber keine Instruktion, Edukation, kein Selbstmanagement“, fasst Balz zusammen. Die Qualität der Versorgung für die Betroffenen sei höher geworden – und der Schmerzmittelverbrauch niedriger.
Des Weiteren, berichtet der Physiotherapeut, hätten sie im Rahmen des Pilots Masterstudierende einbeziehen können, die nun Masterarbeiten dazu schreiben, und es werden auch ähnliche Modelle an anderen Spitälern überlegt. Balz Winteler ist stolz, und man merkt, dass in dem Projekt viel Herzblut steckt: „Wir hoffen, der Profession zu helfen. Man kann sich auf diese Initiative berufen, wenn man was Eigenes versucht.“
Im nächsten Schritt wollen die Beteiligten Kontakt mit den Versicherern und den Kostenträgern aufnehmen. Sie wollen das Potenzial aufzeigen, dass durch Frühintervention nachgeschaltete medizinische Dienstleistungen von Patient*innen weniger in Anspruch genommen werden. Und die Vision für den Erstkontakt sei natürlich auch noch da.
Frank Aschoff
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Bewegungskontrolle
Gewinnen
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Beispiele aus der Berner Notaufnahme
Fall 1
Ärztliche Dokumentation
Ein 63-jähriger Mann stellt sich mit unteren Rückenschmerzen vor (Selbstzuweisung). Er berichtet über einen vor drei Wochen stattfindenden „Misstritt, im Anschluss Schmerzen gluteal links“. Durch seinen Hausarzt erfolgte Infiltration und dann Physiotherapie mit Besserung. Aktuell nehmen seine Schmerzen erneut nach Aufstehen aus gebeugter Haltung zu: gluteal links mit Ausstrahlung in das linke Bein, Rückseite Oberschenkel und nach ventral übers Knie ziehend. Der Patient hat keine Lähmungserscheinungen, keine Missempfindungen, keine Inkontinenz, kein Fieber, keine Voroperation. Es erfolgte bisher keine Analgesie. Sozialanamnese: körperliche Arbeit im Ofenbau, keine Nebendiagnosen, keine Medikamente; Blutdruck: 159/94 mmHG, HF 96/min, SO2 99 % in RL, Temperatur 36,6°C, 172 cm, 95 kg. Seine Wirbelsäule ist klopfindolent, sein Integument unauffällig, er hat einen leichten muskulären Hartspann lumbal, paravertebral links. Lasègue ist rechts negativ und links positiv bei 50 %. Motorik, Muskeleigenreflexe und Sensibilität der unteren Extremitäten sind symmetrisch. Einbein-, Zehen- und Fersenstand beidseits sind problemlos. Die Schmerzintensität liegt bei 4–5 in Ruhe und bei 8 bei Bewegung.
Lumbovertebrales Schmerzsyndrom, Differenzialdiagnose kleine Diskushernie; keine Indikation für notfallmäßige Bildgebung
Physiotherapeutische Behandlung
Mobilisation ohne Impuls L5/S1 SL links, Stabilisation LWS im Sitz, Instruktion Heimprogramm, Triggerpunkt M. piriformis links, Neurodynamik: Behandlung für N. ischiadicus links
Eintrag des behandelnden Physiotherapeuten
Nach Behandlung Schmerzintensität in Ruhe 0, bei Bewegung 2. Prozedere: Heimübungen, ambulante Physiotherapie, Arbeitsunfähigkeit 3 Tage, Analgesie bei Bedarf
Fall 2
Physiotherapeutische Dokumentation
Ein 53-jähriger Lokomotivführer stellt sich mit akuten lumbalen Rückenschmerzen vor. In der Freizeit arbeitet er oft im Wald und verfolgt diverse Bauprojekte um das Haus herum. Seine aktuelle Situation: neuartige, blockierende lumbale Schmerzen (Numerische Rating-Skala: NRS 10/10) mit intermittierenden Ausstrahlungen gluteal rechts (NRS 8/10); limitierend bei Alltagsbewegungen wie beim Anziehen der Socken, Sitzen oder beim Tragen von Gegenständen. Der Patient berichtet von einem plötzlichen Beginn am Vortag beim Versuch aufzustehen; am Abend zuvor wurden bereits milde Symptome wahrgenommen. Als Auslöser der Schmerzen vermutet der 53-Jährige Waldarbeiten. Bislang eingenommene Medikamente zeigten kaum Wirkung. Nebendiagnosen hat er keine.
Medizinische Übergabe
Verdacht auf akute Lumbalgie; Red Flags konnten ausgeschlossen werden
Physiotherapeutische Hypothese
Die Befundergebnisse geben Hinweise auf eine nozizeptiv-ischämische Schmerzproblematik.
Physiotherapeutische Behandlung
Myofasziale Triggerpunktbehandlung paravertebral lumbal vor allem rechtseitig; Wiederbefund: ausstrahlender Schmerz gluteal rechts NRS 5/10, plus 10 cm beim Finger-Boden-Abstand; Abschluss und weiteres Prozedere: Aufklärung über mögliche Ursachen, Pathomechanismen, Maßnahmen zur Verbesserung der Beschwerden, Prognose und Instruktion von Übungen zur muskulären Detonisation und zur Schmerzlinderung. Rücksprache mit zuständiger Ärztin über die zugrunde liegende physiotherapeutische Hypothese und das weitere Prozedere.
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Publication History
Article published online:
18 May 2022
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