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DOI: 10.1055/a-1873-3418
Intersexualität im Sport. Mediale und medizinische Körperpolitiken
Dennis Krämer veröffentlicht seine monografische Dissertation „Intersexualität im Sport. Mediale und medizinische Körperpolitiken“ im Licht einer wachsenden Intersex-Bewegung und aktuellen juristischen Entwicklungen, in deren Zuge die sogenannte Intersexualität zunehmend benannt und anerkannt wird. Der Autor arbeitet anhand aktueller Studien heraus, dass das Feld des Sports jedoch trotz zunehmender Inklusivität und Egalität weiterhin von einer männlichen Leistungshegemonie und bestehenden binären Leistungsklassen (Männer – Frauen) geprägt ist. Diese Ordnung, so Krämer, macht den Sport zu einem Raum, der ganz besonders von einem sich wandelnden Verständnis von Geschlecht und geschlechterpolitischen Entwicklungen beeinflusst ist und sein wird. Dies nimmt er als Anlass, sich in seiner Studie mit einem diskursanalytischen Ansatz der Frage nach der Aufrechterhaltung der binären Klassifikationslogik und daran anschließend der Regulierung des intersexuellen Körpers im Sport über die letzten 90 Jahre zu widmen.
Mit dem Ziel, eine Transformation dieser Regulierung sichtbar zu machen, zieht er die mediale Verhandlung dreier Sportler*innen als Analysegegenstand heran, deren „rechtmäßige“ Partizipation am Frauensport zu unterschiedlichen Zeiten und Gesellschaftssituationen aufgrund eines vermeintlich nicht-weiblichen „wahren“ Geschlechts angezweifelt und deren Körper medial als grenzüberschreitend markiert wurde. Bei den drei von Krämer beleuchteten Personen handelt es sich um:
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Dora Ratjen, eine*n deutsche*n Hochspringer*in zu Zeiten des Nationalsozialismus, der*die nach einem Goldmedaillensieg 1938 in Wien unter Verdacht des Transvestitismus festgenommen wurde und nach anschließender medizinischer Untersuchung als männlich eingestuft und des Sports verwiesen wurde,
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Ewa Klobukowska, eine polnische Kurzstreckenläuferin zu Zeiten des Kalten Kriegs, die den 1967 eingeführten Barr-Body-Test aufgrund eines nachgewiesenen Y-Chromosoms nicht „bestand“ und vom Frauensport anschließend disqualifiziert wurde, und
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Caster Semenya, eine südafrikanische Mittelstreckenläuferin, die der Autor in die Zeit der Postmoderne einordnet und welche nach ihrem Goldmedaillensieg im 800-Meter-Lauf 2008 vom Internationalen Leichtathletikverband (IAAF) einem sogenannten Sex-Test unterzogen wurde und seitdem unter dem Vorwurf des Hyperandrogenismus große mediale Aufmerksamkeit erlangt hat. 2018 klagte sie gemeinsam mit dem Südafrikanischen Leichtathletikverband (ASA) gegen die neu eingeführten DSD Regulations, welche eine Testosteronmenge von über 5 nmol/l Blut bei Sportler*innen, die Strecken zwischen 400 m und einer Meile laufen wollen und einen 46-XY-Chromosomensatz besitzen, als Ausschlusskriterium aus der Frauenklasse benennt.
Der Autor versteht die mediale Verhandlung dieser drei Personen als historisch prägnante „Fälle“ und Diskursereignisse, die es ihm ermöglichen, die jeweiligen zeitgenössischen Machtformationen und Deutungshoheiten in Bezug auf Intersexualität – im Sport, aber auch außerhalb dessen – herauszuarbeiten. Dabei betrachtet er besonders die Medizin als einen Diskurs, der sich mit dem Mediendiskurs verstrickt und ebenfalls einen hegemonialen Machtdiskurs in der Frage nach der Geschlechterregulierung im Sport ausmacht. Folglich sind es diese beiden Diskurse und ihre Beziehung zueinander, denen Krämer sich in seiner Arbeit widmet. Die Forschungsergebnisse der Studie werden nach einer transparenten Darlegung der angewandten Theorien und Methoden dargelegt und sind in drei Analysekapiteln in ähnlicher Struktur zusammengefasst. Jedes Kapitel bezieht sich auf eine*n der Sportler*innen. Auf eine Einleitung folgen jeweils eine Verortung des Sports in der jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Situation, eine Erläuterung des Quellenmaterials, die Ergebnisse der Diskursanalyse, eine Erfassung der Beziehung des zeitgenössischen Medien- und Medizindiskurses und schließlich ein Zwischenresümee.
Die große Leistung dieser Studie ist nicht nur, dass Krämer zeigt, dass und wie die als relevant eingestuften Geschlechtsmerkmale und damit die medizinischen Praktiken zur Ermittlung eines „wahren“ Geschlechts (Sex) im Sport im Laufe der letzten 90 Jahre eine starke Transformation durchmachten. Sondern es wird auch verdeutlicht, dass im jeweiligen zeitgenössischen Mediendiskurs die Strukturkategorie Geschlecht als ein Differenzmerkmal herangezogen wird, das eine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nation, einem System oder einer Gesellschaft impliziert und jeweils auf diesem Hintergrund konstruiert wird.
In dem Kapitel über Ratjen legt Krämer dar, dass es in ihrem*seinem Falle die äußeren Genitalien waren, die in der medizinischen Untersuchung als männlich interpretiert wurden. Die Folgen dessen – ein Ausschluss aus dem Sport, mehrere Monate später ein erzwungener Wechsel des Geschlechtseintrags als männlich und eine Namensänderung (Heinrich Ratjen) sowie ein erlassenes Berichterstattungsverbot – analysiert Krämer als ein Produkt der binär naturalistischen und heteronormativen Körperpolitik des nationalsozialistischen Deutschlands, in der Sport als eine „Säule der öffentlichen Beglaubigung“ (S. 189) dieser Politik diente. Durch einen Vergleich der Berichterstattung zu Ratjen vor versus nach dessen*deren medizinischer Untersuchung (nennenswert sind hier die medizinische Behandlungsakte Ratjens sowie zwei trotz des Berichterstattungsverbots veröffentlichte Artikel) veranschaulicht Krämers Analyse einen drastischen Wechsel von der Darstellung Ratjens als ideale, deutsche Sportlerin hin zu einer anschließenden Tabuisierung und Kriminalisierung des*der Sportler*in, bei der die Intersexualität als ein Merkmal eines nicht-deutschen „Reichssports“ markiert wurde. Zudem macht die Analyse deutlich, dass liberale medizinische Positionen zur Intersexualität – die durchaus existierten – im Mediendiskurs gänzlich fehlen (vgl. S. 184 ff.) und stattdessen fälschliche Vermischungen mit Begriffen des Transvestitismus und der Transsexualität vorzufinden sind.
In dem Kapitel zu Klobukowska arbeitet Krämer auf, dass die Sportverbände im Zuge eines wachsenden Verständnisses über die Möglichkeiten der Geschlechtsanpassungen und Hormontherapien die Untersuchung der äußeren Geschlechtsmerkmale nicht mehr für ausreichend hielten; mit der Einführung des Barr-Body-Tests waren es nun die Chromosomen, die die Deutungshoheit in der Frage nach „wahrer“ Weiblichkeit erhielten. Dass speziell Klobukowkas Geschlecht medial angezweifelt wurde – und auch, dass das Bedürfnis nach „genaueren“ Geschlechtertests überhaupt bestand –, schreibt Krämer dabei einem medial ausgetragenen System-Antagonismus zu, der sich im westlichen Mediendiskurs in der Darstellung von „Ostblock“-Sportler*innen als unweiblich, männlich und homosexuell zeigte. Gleichzeitig wurde den Sportler*innen vorgeworfen, unfreiwillig gegen den Westen anzutreten und sich Laborexperimenten, Genitaloperationen und anderen geschlechtlichen Modifikationen unterziehen zu müssen. In einem Vergleich zwischen dem westlichen und polnischen Mediendiskurs erfasst Krämer, im Einklang mit dem soeben beschriebenen Narrativ, im westlichen Mediendiskurs eine Pathologisierung und Kriminalisierung der Intersexualität sowie Gerüchte über Klobukowskas intersexuellen Körper und seine Organe, die im Gegensatz zu einem polnischen Widerstandsdiskurs stehen. In letzterem wird der Sportlerin ihr weibliches (soziales) Geschlecht – trotz ihrer Intersexualität – nicht abgesprochen; in der westlichen Verhandlung werden Klobukowska zudem politische Motive vorgehalten. Krämer zeigt auch im Falle Klobukowskas, wie medizinisches Wissen über die Intersexualität, hier besonders die Chromosomen, im Mediendiskurs ignoriert oder gezielt umgedeutet wurde, um die binäre Klassifikationslogik des Sports zu stützen. So wurde Klobukowskas Geschlecht und damit die Intersexualität zu Zeiten des Kalten Krieges in den westlichen Medien nicht tabuisiert, sondern zur „systematischen Diskreditierung einer politischen Gruppe“ (S. 290) genutzt.
Bei dem westlichen Mediendiskurs um Semenya spricht Krämer von einer „androzentrischen Deutungspraxis“ (S. 323), in der nun Hormonwerte, insbesondere das Androgen Testosteron, herangezogen werden, um „wahre“ biologische Weiblichkeit zu attestieren. Krämer erkennt in der Postmoderne und so auch in der Verhandlung Semenyas, gestützt auf aktuelle Forschungen, zudem einen Trend, in dem nun im westlichen Mediendiskurs nicht mehr das Geschlecht von Sportler*innen aus kommunistischen Staaten, sondern besonders das Geschlecht Schwarzer und afrikanischer Frauen angezweifelt wird. In einem Vergleich zwischen dem westlichen und südafrikanischen Mediendiskurs (leider machen hier nur 30 von 150 erhobenen Artikeln südafrikanische Medien aus) macht Krämer deutlich, dass die Markierung Semenyas als intersexuelle, hyperandrogene und zudem lesbische Sportler*in im westlichen Mediendiskurs – ähnlich wie bei Klobukowska – von einem Solidaritätsdiskurs in den südafrikanischen Medien begleitet wird, in dem besonders die westliche Konstruktion der Intersexualität auf dem Hintergrund rassistischer Praktiken im Vordergrund steht. Im Gegensatz zu den „Fällen“ Ratjen und Klobukowska bezeichnet Krämer die mediale Verhandlung Semenyas als einen ambivalenten Diskurs, in dem auch Politiker*innen, Wissenschaftler*innen, Aktivist*innen und zudem Semenya selbst zu Wort kommen und so einen direkten Einfluss auf den Diskursverlauf nehmen. Krämer schließt im Resümee zu Semenya so auf eine Umbruchsphase in der Verhandlung der Intersexualität, in der letztlich dennoch eine Pathologisierung und Normierung der Intersexualität im Sport im Sinne binärer Leistungsklassen im Vordergrund steht.
Dennis Krämer legt in diesem Band eine spannende Analyse vor, die die Transformation der medialen Verhandlung und Macht-Wissen-Komplexe in Bezug zur Intersexualität seit den 1930er-Jahren aufzeigt. Trotz des Wandels medizinischer Praktiken und Deutungshoheiten, der verwendeten Begriffe und vielleicht sogar dem Grad der Stigmatisierung der Intersexualität ist es die naturalisierende Logik der Zweigeschlechterordnung, die den Sport regiert und den drei in der Arbeit untersuchten Zeitfenstern gemein ist. Festzuhalten ist, und dies macht Krämer klar: Weder Genitalien noch Chromosomensätze noch Hormonwerte sind binär; stattdessen werden sie medial und von den Sportverbänden in dieser Form verhandelt, passend gemacht; Intersexualität wird als grenzüberschreitend markiert und pathologisiert, was die quasievidente binäre Klassifikationslogik des Sports beglaubigt.
Ich empfehle diese Lektüre wärmstens – nicht nur Sportler*innen, Sportfunktionär*innen und Mediziner*innen, sondern auch allen Menschen, die ihr Verständnis über die westliche Konstruktion der binären Geschlechterordnung im Sport und ihrer mehrdimensional diskriminierenden Praxis – ganz besonders im Kontext aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen – erweitern wollen.
Lydia Schneider-Reuter (Bochum)
Publication History
Article published online:
06 September 2022
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