Max Hirsch (1877–1948), der als einer der ersten soziologische und sozialhygienische Aspekte in der Gynäkologie hervorhob [1], beschreibt
in seinem 1914 veröffentlichten Buch „Fruchtabtreibung und Präventivverkehr im Zusammenhang mit dem Geburtenrückgang“ im Kapitel 2 zunächst sehr ausführlich die verschiedenen „Motive der
Fruchtabtreibung“, um dann zusammenzufassen: „Das häufigste Motiv entspringt aus der Gestaltung der wirtschaftlichen Verhältnisse. Wenn auch in den sogen. besitzenden Klassen von einem
Notstand schlechterdings nicht gesprochen werden kann, so haben sich doch immerhin die Lebensweisen im Vergleich zu früheren Zeiten derart geändert, dass der zum standesgemässen Leben
notwendige Aufwand und die Ausgaben für die Erziehung der Kinder und die Sicherung der Zukunft der Familie eine Höhe erreicht haben, die mit den Einkünften aus Erwerb und Vermögen nicht im
Einklang stehen. In den unteren Schichten des Volkes aber sind die Beweggründe zur Fruchtabtreibung in den überwiegend meisten Fällen die Not des Lebens…“
[2]. Ob dieses Zitat inhaltlich den heutigen Verhältnissen, über 100 Jahre später, noch entspricht, kann aufgrund der dürftigen aktuellen
Datenlagen zu Gründen eines Schwangerschaftsabbruchs in der Bundesrepublik Deutschland nicht beantwortet werden. In der unlängst in der GebFra publizierten retrospektiven Datenauswertung von
Dienerowitz et al. nimmt der Schwangerschaftskonfliktgrund „materielle Sorgen“ (d. h., 32,4% der 1207 Schwangeren gaben dies an) Rang 4 einer Liste ein, die von den Motiven
„Partnerschaftsgründe“ (60,6%) und „Überforderung“ (53,4%) angeführt wird [3]. Die in der Arbeit von Dienerowitz et al. mehrfach zitierte
BZgA-Studie „frauen leben 3“ kann lediglich auf 324 Frauen mit einem oder mehreren Schwangerschaftsabbrüchen in der Vorgeschichte zurückgreifen [4]. Von diesen hatten, zum Teil Jahre nach der eigenen Abruptioerfahrung, 34% als Grund für den damaligen Schwangerschaftsabbruch eine „schwierige/keine Partnerschaft“,
20,3% „berufliche oder finanzielle Unsicherheit“ und 19,7% „gesundheitliche Bedenken“ angeben, wobei es Häufigkeitsunterschiede zwischen den Altersgruppen in dem Befragungskollektiv gab [4].
In ihrer verdienstvollen und interessanten Arbeit, der offenbar ein umfangreiches Datenmaterial zugrunde liegt, machen Dienerowitz et al. allerdings keine Angaben zum Lebensalter oder zu
anderen soziodemografischen Parametern in ihrem Untersuchungskollektiv [3]. Zwar werden Nachteile der Datengrundlage (anonymisierte
Dokumentation von Gedächtnisprotokollen einer freien Telefon- und Onlineberatungsstelle aus den Jahren 2012 bis 2018) zumindest angeschnitten, diese werden aber leider nicht ausreichend
kritisch gewürdigt. Wie Dienerowitz et al. sehr richtig schreiben, nehmen die kontroversen Diskussionen zum medizinethisch und medizinrechtlich relevanten Thema Schwangerschaftsabbruch,
„bei dem sich das Lebensrecht des Kindes und das Selbstbestimmungsrecht der Frau scheinbar unvereinbar gegenüber stehen…“ [3], in
jüngerer Zeit wieder zu. Um hier aber auf einer wissenschaftlichen Faktengrundlage zur Diskussion fundiert beitragen zu können, muss jeweils die Methodik der zugrunde liegenden Studien und
Umfragen qualitativ hochwertig sein. Repräsentativität ist eine wichtige Voraussetzung, Limitationen sollten klar benannt werden. Diesbezüglich müssen die von Dienerowitz et al. publizierten
Daten kritisch gesehen werden. Die Arbeit enthält keine Angaben dazu, wie viele Personen (weibliche Beraterinnen?) die Telefonate führten (mit durchschnittlich 172 Schwangeren pro Jahr),
welche Qualifikation sie hatten, wann und in welcher Form die Gedächtnisprotokolle erstellt wurden, ob dies eine Routinemaßnahme ist und ob diese Aufzeichnungen prinzipiell auch
soziodemografische Angaben enthalten. Ebenfalls unklar bleibt, wer die Protokolle ausgewertet, zusammengefasst und den Kategorien zugeordnet hat – war es eine Person, waren es mehrere Personen
und welche Qualifikation bzw. Erfahrungen hatten diese mit einem solchen semiquantitativen Forschungsansatz? Auch Informationen darüber, wer bei Unklarheiten oder Meinungsverschiedenheiten
bezüglich der Kategorienzuordnung entschieden hat, fehlen, ebenso wie Angaben dazu, von wie vielen Telefonkontakten keine Gedächtnisprotokolle angefertigt wurden („Drop-out-Rate“) und warum
nicht.
Dienerowitz et al. (2022) wollen mit ihrer Publikation, wie sie in ihrem Fazit schreiben, einen wissenschaftlichen Ansatz für weitere Studien liefern, mit denen detaillierte Gründe für den
Schwangerschaftskonflikt erfasst und analysiert werden könnten. Dieses Ansinnen ist sehr zu unterstützen! Allerdings sollte dazu sowohl (1.) auf schon vorhandene, im Artikel nicht erwähnte
Quellen, als auch (2.) auf die beiden ebenfalls wichtigen, derzeit in Deutschland laufenden Versorgungsforschungsstudien zurückgegriffen werden.
Zu (1.) Das Thema Schwangerschaftsabbrüche wurde regelmäßig in Jahresbänden der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Frauenheilkunde und Geburtshilfe (DGPFG) bzw. deren
Vorläuferfachgesellschaften in der damaligen DDR bzw. BRD diskutiert. Insgesamt behandeln 37 Artikel im Zeitraum 1974 bis 2012 Aspekte des Schwangerschaftsabbruchs. So gab es Mitte der
1980er-Jahre in der „Ost“- und der „West“-Gesellschaft hierzu einen Tagungsschwerpunkt, wobei auch die Motive für einen Schwangerschaftsabbruch aus psychosomatischer Sicht diskutiert wurden
[5].
Zu (2.) Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) finanziert eine umfangreiche Studie „ELSA, Erfahrungen und Lebenslagen ungewollt Schwangerer, Angebote der Beratung und Versorgung“, deren
Resultate wahrscheinlich im Verlaufe des nächsten Jahres publiziert werden (Forschungsverbund von 6 Universitäten und Hochschulen unter Projektleitung der Hochschule Fulda https://elsa-studie.de/). 2023 ist auch damit zu rechnen, dass erste Ergebnisse der ebenfalls vom BMG geförderten Studie „CarePreg.
Betroffenenzentrierung von Versorgungs- und Unterstützungsangeboten für Frauen mit ungewollter Schwangerschaft“ (Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Institut und Poliklinik für
Medizinische Psychologie) veröffentlicht werden (www.uke.de/carepreg). Ob die genannten Studien detaillierte, repräsentative Daten zu Gründen für
den Schwangerschaftskonflikt von Frauen in Deutschland liefern werden, ist abzuwarten.
Die Datenlage wäre allerdings, wenn das gesundheitspolitisch gewollt wird, relativ einfach zu verbessern, indem zum einen der anonymisierten Pflichtmeldung der Schwangerschaftsabbrüche
durchführenden Kliniken, Praxen und MVZ an das Statistische Bundesamt die Variable „Gründe für den Schwangerschaftsabbruch“ hinzugefügt wird und/oder, indem alle
Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen bundesweit dazu verpflichtet werden, die ihnen im Rahmen des Beratungsgesprächs dargelegten Gründe quartalsweise anonymisiert und zusammengefasst zu
veröffentlichen.