NOTARZT 2022; 38(05): 290-291
DOI: 10.1055/a-1917-5679
Verbandsmitteilungen

Stellungnahme des agbn-Vorstandes zu Vorwürfen des Deutschen Berufsverbandes für den Rettungsdienst (DBRD) gegenüber den Ärztlichen Leitern Rettungsdienst (ÄLRD) in Bayern

Die Kompetenzen der Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitäter sind auch 9 Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes über den Beruf der Notfallsanitäterin und des Notfallsanitäters (NotSanG) immer noch Gegenstand von Diskussionen, spekulativen Behauptungen und polemischer Überspitzung.

Die Geister scheiden sich vor allem an der Delegation heilkundlicher Maßnahmen wie z. B. der Medikamentengabe für Patienten, welche nicht akut vital bedroht sind.

Denn zunächst gilt, dass alle heilkundlichen Maßnahmen inkl. Medikamentengaben Ärzten vorbehalten sind. Das NotSanG formuliert Umstände, unter denen Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitätern die Durchführung dieser Maßnahmen möglich wird: zur Vermeidung einer Verschlechterung des Patientenzustandes bei einer vitalbedrohlichen Situation oder wenn wesentliche Folgeschäden zu erwarten sind ohne juristisch den Rechtfertigenden Notstand (§ 34 StGB) bemühen zu müssen.

Dazu werden mit verschiedenen Paragrafen unterschiedliche Situationen beschrieben:

  1. In § 4 Abs. 2 Nr. 2c wird als Ausbildungsziel „eigenständiges Durchführen von heilkundlichen Maßnahmen, die vom ÄLRD oder entsprechend verantwortlichen Ärztinnen oder Ärzten bei bestimmten notfallmedizinischen Zustandsbildern und -situationen standardmäßig vorgegeben, überprüft und verantwortet werden“ beschrieben. Hier handelt es sich um eine Delegation von Maßnahmen durch die ÄLRD an die NotSan. Die Verantwortung für diese Maßnahmen liegt bei den ÄLRD.

  2. § 4 Abs. 2 Nr. 1c umfasst invasive Maßnahmen, wenn das Leben oder die Gesundheit eines Patienten akut gefährdet ist. Dies entspricht weiterhin dem Rechtfertigenden Notstand (§ 34 StGB). Damit solche invasiven Maßnahmen sowie die erforderlichen Medikamentengaben im Notfall angewendet werden können, gehören sie zur Ausbildung der Notfallsanitäter. Die Patientenversorgung macht hier in Anbetracht der Vitalbedrohung immer einen schnellstmöglichen Arztkontakt erforderlich – d. h. wenn primär kein Notarzt durch die Rettungsleitstelle entsandt wurde, wird von der Notfallsanitäterin oder dem Notfallsanitäter abhängig von Einsatzort und Situation abgewogen, ob dieser Arztkontakt besser ein nachzufordernder Notarzt oder ein weiterbehandelnder Arzt im Krankenhaus ist, ohne jedoch die Durchführung der erforderlichen Maßnahmen zu verzögern. Für diese heilkundlichen Maßnahmen und Medikamentengaben bei vitaler Bedrohung bestehen bayernweit einheitliche Empfehlungen seitens der ÄLRD Bayern:

  3. § 2a beschreibt eine Ergänzung, die es den Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitäter ermöglicht, bis zum Eintreffen eines Notarztes oder bis zum Beginn einer weiteren ärztlichen, auch teleärztlichen Versorgung „heilkundliche Maßnahmen, einschließlich heilkundlicher Maßnahmen invasiver Art“, eigenverantwortlich durchführen zu dürfen, wenn diese „jeweils erforderlich sind, um Lebensgefahr oder wesentliche Folgeschäden von der Patientin oder dem Patienten abzuwenden“. Damit muss der Rechtfertigende Notstand (§ 34 StGB) in diesen Fällen nicht mehr als Grundlage herangezogen werden. Dies erfordert die Abwägung, dass die vorzunehmende Maßnahme zum Zeitpunkt ihrer Durchführung die einzig mögliche und angemessene Option ist. Entsprechend übernehmen die Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitäter zu diesem Zeitpunkt auch haftungsrechtlich die alleinige Verantwortung für ihre Tätigkeit. Treffen diese Voraussetzungen zu, sind die Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitäter durch Amtshaftung abgesichert.

Für die im § 4 Abs. 2 Nr. 2c NotSanG genannten Maßnahmen werden im Gegensatz zu den Maßnahmen nach § 4 Abs. 2 Nr. 1c NotSanG weder ein vitalbedrohlicher Zustand noch zu erwartende schwere Folgen für den Patienten vorausgesetzt. Deshalb ist für diese Maßnahmen nach § 4 Abs. 2 Nr. 2c NotSanG eine Delegation durch die verantwortlichen ÄLRD erforderlich, welche auf der Basis von standardisiert vorgegebenen Handlungsanweisungen (sog. Standard Operating Procedures – SOP) erfolgt. Diese SOPs stellen verbindliche Beschreibungen der Abläufe in der notfallmedizinischen Versorgung dar und beziehen sich auf wissenschaftliche Leitlinien und Empfehlungen der medizinischen Fachgesellschaften. Solche konkret festgelegten heilkundlichen Maßnahmen und Medikamentengaben wurden für erste Zustandsbilder bereits für die in Bayern tätigen Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitäter von allen bayerischen ÄLRD konsentiert und sind damit bayernweit einheitlich gültig. Weitere SOPs sind seitens der ÄLRD Bayern bereits in Vorbereitung.

Neben vielen anderen SOPs wurde seitens der ÄLRD Bayern auch eine für die Sauerstoffapplikation bei moderater Hypoxämie erstellt. Diese ermöglicht der Notfallsanitäterin und dem Notfallsanitäter Patienten mit einer peripheren Sauerstoffsättigung < 94% Sauerstoff als Medikament über eine Nasenbrille zu applizieren, und zwar mit einem Flow von bis zu 4 l/min.

Wenn unter dieser Maßnahme die periphere Sauerstoffsättigung des Patienten nicht in einen Bereich zwischen 94% und 98% ansteigt, wird von einem vital bedrohlichen Zustand des Patienten ausgegangen, der weitere Maßnahmen von der Applikation ausgewählter Medikamente bis hin zur Beatmung erforderlich machen kann. Deshalb macht diese vitale Bedrohung mit einer Anhebung des Sauerstoffflows (ggf. über eine Maske mit Reservoirbeutel) zwingend auch einen schnellstmöglichen Arztkontakt erforderlich, da nun unter Umständen weitergehende ärztliche Maßnahmen unumgänglich sind.

Trotz dieser klar beschriebenen Situation hat der Deutsche Berufsverband für den Rettungsdienst (DBRD) mit einer aus Sicht des agbn-Vorstandes undifferenzierten Polemik deutschlandweit dazu aufgerufen, Abgeordnete des Bayerischen Landtages anzuschreiben und zu beklagen, dass Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitäter in Bayern angeblich weniger Rechte hätten als ihre gleich ausgebildeten Kollegen im übrigen Bundesgebiet.

Der Vorstand der agbn kann diese Argumentation und dieses Vorgehen nicht nachvollziehen. Die bayerische Notärzteschaft ist dankbar, dass den Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitätern auf Grundlage der landesweit gültigen SOPs die Möglichkeit gegeben wird, nicht vital bedrohte Patienten eigenständig zu versorgen. Denn damit stehen Bayerns Notärzte häufiger für die Versorgung vital bedrohter Patienten zur Verfügung, die keinesfalls ohne notärztliche Kompetenz erfolgen darf.

Deshalb empfiehlt der agbn-Vorstand dringend, von der Emotions- auf die Sachebene zurückzukehren und den therapeutischen Rahmen zur Applikation von Sauerstoff bei der moderaten Hypoxie basierend auf wissenschaftlichen Leitlinien und Empfehlungen miteinander zu diskutieren. Möglicherweise könnte die Anhebung des O2-Flows auf 6 l/min über Maske mit Sauerstoffreservoir eine pragmatische Lösung sein, mit der ÄLRD und Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitäter im Interesse einer bestmöglichen Patientenversorgung gut leben können.

Klar muss aber sein, dass Patienten mit einer ernsten Hypoxie, die unter der o. g. Empfehlung nicht signifikant besser oxygenieren, zwingend einer (not-)ärztlichen Behandlung zugeführt werden müssen.

Ziel sollte es sein, dass die Verantwortung gemeinsam von ÄLRD und NotSan getragen werden kann, wie es durch die Schaffung von SOPs zur Delegation möglich wird. Um dies zu erreichen, sind gemeinsame Anstrengungen von Notärzteschaft, Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitätern erforderlich. Ein möglicher Ansatz hierzu wäre, Vertreter der bayerischen NotSan an der Ausarbeitung dieser SOPs zu beteiligen, um nicht nur die ärztliche Sicht auf die jeweilige Problematik zu haben.

Aus Sicht des agbn-Vorstandes brauchen wir in dieser Thematik dieselben Teamleistungen, wie wir sie alle tagtäglich gemeinsam an den Einsatzstellen für unsere Patienten erbringen.



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Article published online:
10 October 2022

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