Nervenheilkunde 2023; 42(01/02): 3-5
DOI: 10.1055/a-1925-7958
Zu diesem Heft

Schwindel, Ataxien, Nystagmus, Okulomotorik- und Gangstörungen: Neues zu Diagnose und Therapie

Michael Strupp
 
    Zoom Image
    Prof. Dr. med. Michael Strupp Neurologische Klinik und Deutsches Schwindel- und Gleichgewichtszentrum Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität, München

    Schwindel, Ataxien und Gangstörungen sind keine Krankheitseinheit, sondern transdiagnostische Symptome und klinische Zeichen, die verschiedene multisensorische und sensomotorische Syndrome unterschiedlicher Pathophysiologie und Ätiologie umfassen. Beim Leitsymptom Schwindel lassen sich im Wesentlichen 3 Formen unterscheiden:

    • Störungen des peripheren vestibulären Systems (Labyrinth und/oder Gleichgewichtsnerv) oder des zentralen Systems, meist ausgehend vom Hirnstamm, Kleinhirn („zerebellärer Schwindel“) oder vom extrapyramidalem System („extrapyramidaler Schwindel“, z. B. neurodegenerative Erkrankungen wie Morbus Parkinson, progressive supranukleäre Blickparese, Multisystematrophien) sowie die vestibuläre Migräne,

    • funktioneller Schwindel mit verschiedenen Unterformen und

    • andere Ursachen wie Blutdruckregulationsstörungen, insbesondere orthostatischer Schwindel, unerwünschte Wirkungen von Medikamenten oder Stoffwechselerkrankungen. Diese Erkrankungen können zu Schwankschwindel oder Gangunsicherheit führen und gehen mit einem erhöhten Sturzrisiko einher, werden aber zu oft als Ursache von Schwindel angenommen.

    Sowohl physiologischer Schwindel (z. B. Drehschwindel beim Karussellfahren) als auch pathologischer Schwindel (z. B. akute unilaterale Vestibulopathie) sind trotz der unterschiedlichen Pathomechanismen durch eine ähnliche Symptomkombination gekennzeichnet: Dreh-/Schwankschwindel, Nystagmus, Fallneigung und/oder Übelkeit. Diese Störungen im Bereich der Wahrnehmung (Schwindel), der Blickstabilisation (Nystagmus), der Haltungsregulation (Fallneigung) und des Vegetativums (Übelkeit) entsprechen den Hauptfunktionen des vestibulären Systems und können unterschiedlichen Orten im Gehirn zugeordnet werden.

    Dieses Themenheft umfasst ein breites Spektrum von Beiträgen zur aktuellen Diagnose und Therapie, nicht nur der genannten Formen von Schwindelsyndromen und Nystagmus, Okulomotorik- und Gangstörungen, sondern auch zerebellärer Erkrankungen.

    Im Einzelnen werden dargestellt:

    1. Die 6 häufigsten peripheren vestibulären Syndrome mit den aktuellen Diagnosekriterien des Internationalen Klassifikationskomitees der Bárány Society. In Bezug auf deren Therapie ergeben sich neue Behandlungsmöglichkeiten für die verschiedenen Formen des benignen peripheren Lagerungsschwindels, des Morbus Menière und der Vestibularisparoxysmie.

    2. Zentrale vestibuläre Syndrome: Die Differenzierung zwischen einem akuten zentralen und einem akuten peripheren vestibulären Syndrom; dazu liegen eine Reihe aktueller Studien vor, die klinisch sehr relevant sind. Außerdem die vestibuläre Migräne, deren verschiedenen Manifestationsformen und die wichtigsten Differenzialdiagnosen sowie deren aktuelle Therapie. Und der zerebelläre Schwindel, einer oft übersehenen Ursache für persistierende Symptome; hier ist die Untersuchung der Okulomotorik mit der Frage nach zerebellären Okulomotorikstörungen wie einem Downbeat-Nystagmus, allseits sakkadierter Blickfolge oder allseitigem Blickrichtungsnystagmus zur korrekten diagnostischen Einordnung entscheidend, da fast alle diese Patienten derartige Okulomotorikstörungen aufweisen.

    3. Funktioneller Schwindel als die häufigste Ursache für Schwindel in Spezialambulanzen mit den verschiedenen Unterformen, in dessen aktuellen pathophysiologischen Konzepten und dessen spezifische Therapie, wobei bislang keine placebokontrollierten Studien vorliegen und hier Forschungsbedarf besteht.

    4. Okulomotorikstörungen und Nystagmus, welche häufig ein Schlüssel zur Diagnose der verschiedenen Erkrankungen, die mit den Leitsymptomen Schwindel und Sehstörungen einhergehen, sind. Gerade beim Nystagmus ergeben sich daraus unmittelbare therapeutische Konsequenzen.

    5. Gangstörungen, die sich bei verschiedenen Erkrankungen finden und durch eine sorgfältige Ganganalyse in Kombination mit anderen Befunden differenzieren und so häufig spezifisch behandeln lassen.

    6. Zerebelläre Erkrankungen mit den Schwerpunkten genetische Diagnostik „zerebellärer Schwindel“ und aktuelle Therapien zerebellärer Ataxien. Hier wurden in den letzten Jahren erhebliche Fortschritte erzielt, die eine präzise Diagnose ermöglichen, was für die Prognosebeurteilung wichtig ist und hoffentlich in Zukunft zu spezifischen ätiologisch und pathophysiologisch begründeten Therapien führt. Durch die Identifizierung verschiedener Antikörper bei autoimmunologischen Kleinhirnerkrankungen lassen sich inzwischen verschiedene Unterformen unterscheiden, die auf die immunsuppressiven Therapien auch unterschiedlich ansprechen, sodass eine diagnostische Differenzierung therapeutische Konsequenzen hat. Abschließend werden die Therapieverfahren von Kleinhirnerkrankungen beschrieben, die auf pharmakologischen und physiotherapeutischen Prinzipien beruhen, wobei basierend auf präklinischen Studien spezifischere Behandlungen in Zukunft möglich sein werden.

    Nach der Lektüre dieser vom Labyrinth über den Hirnstamm bis zum Kleinhirn reichenden Beiträge wird der Leser auf dem aktuellen Stand der Forschung und klinischer Studien zur Diagnose und Therapie von Schwindel und Kleinhirnerkrankungen sein, die unmittelbar in den klinischen Alltag überführt werden können.

    Michael Strupp, München


    #

    Publikationsverlauf

    Artikel online veröffentlicht:
    13. Februar 2023

    © 2023. Thieme. All rights reserved.

    © Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
    Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

    Zoom Image
    Prof. Dr. med. Michael Strupp Neurologische Klinik und Deutsches Schwindel- und Gleichgewichtszentrum Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität, München