Nervenheilkunde 2023; 42(01/02): 89
DOI: 10.1055/a-1925-8062
Buchbesprechungen

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BurnOn. Immer kurz vorm BurnOut

Das unerkannte Leiden und was dagegen hilft

Bert te Wildt, Timo Schiele: BurnOn. Immer kurz vorm BurnOut. Das unerkannte Leiden und was dagegen hilft. München: Droemer 2021, 304 Seiten, 20,00 Euro, ISBN 9783426278482

Burnon ist ein Leiden, das darin besteht, mehr im Beruf zu geben als einem gut tut. Langfristig kurz vor dem Burnout. Ein neuentdecktes Leiden? Wohl eher eine Skizze dessen, was als Spiegelbild aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen zum Alltag gehört. Potenziert durch die Digitalisierung ist heute jede elaborierte Arbeit potenziell unendlich. Zumal im Sinne der Baby-Boomer sozialisierte Menschen sind (frustran) bemüht, das Tempo weiter zu steigern. Von solchen Konstellationen handelt das Buch, wobei die Autoren versuchen, epochale Dimensionen als Krankheit auf Individuen herunterzubrechen. Das Therapieziel liegt darin, den notorischen Leistungsmodus hinter sich zu lassen. Jedem ehrlichen High-Performer müsse klar sein, dass er sich nur nicht traut aus seiner Dynamik auszusteigen. Dazu geben die Autoren Hinweise, die mit Werte-Klärung beginnen. Wir brauchen Gelassenheit, „die uns einfach so sein lässt, wie wir sind“… Die Frage ist, wie sind wir eigentlich?

Burnon als Diagnose? Das hat schon bei Burnout nicht funktioniert, wo die Symptomatik bei jedem anders sein kann und nur maßgeblich ist, dass Betroffene dies auf Überlastung zurückführen. Nein, eine reliable ICD-XY-Diagnose wird Burnon sicher nicht! Subjektive Störungsmodelle wie Burnout, Boreout etc. und Burnon sind gleichwohl wichtige Identifikations-, Positionierungs- und Selbsterklärungs-Chiffren, die in einer konturschwachen Gegenwart Standortbestimmung und Perspektivklärung versprechen. Die Identifikation mit einem solchen Label wird bereits für sich genommen zur Therapie, einhergehend mit der Berechtigung, sich über internalisierte Normen hinaus etwas „herausnehmen“ zu dürfen. Bei Baby-Boomern kann der vorgezogene Ruhestand legitimieren. Ansonsten bleibt das, was man sich herausnehmen sollte, ebenso konturschwach wie fast alles, was die Postmoderne ausmacht. Unverbindliche Werte sind absehbar wenig tragfähig: Sport machen, Familie, Zeit mit Freunden, Kultur, was für die Umwelt tun etc. Die Nebenwirkungen eines notorischen Individualismus sollen so mit ein wenig anders ausgerichtetem Individualismus geheilt werden. Solange ich z. B. nur etwas für die Umwelt tue, solange es Spaß macht und ich es sein lassen kann, wenn es mir zu viel wird, dann bleiben auch die besten Werte: Individualismus. Alternative Modelle, etwa solche, die mit Selbstrelativierung bis Demut einhergehen, sind in der westlichen Welt anscheinend fast unvorstellbar und, als Therapieprogramm wie als Buch, praktisch unverkäuflich.

So wie Herbert Freudenberger entdeckten die – u. a. mit dem Aufbau einer wunderschönen Klinik beschäftigten – Autoren ihr neues Phänomen am eigenen Leib. Das Buch ist ein anregender Streifzug durch die Folgen, die sich aus der Kombination individualistischer Ansprüche und entgrenzter Arbeit bei guter finanzieller Absicherung ergeben. Wobei, wörtlich genommen ist Burnon („weiter brennen“) doch gar nicht schlecht! So steht es bereits in der Bibel (Psalm 90:10): „und wenn‘s köstlich gewesen ist, so ist‘s Mühe und Arbeit gewesen.“ Es geht um Akzeptanz dessen, dass im Leben nicht alles unterzubringen ist. Hätten die Autoren auf das Buch und ihre Klinik verzichten wollen, für mehr Muße und mehr „bei sich sein“? Waren sie nicht, indem sie es schrieben, über Belastungsgrenzen hinaus, ganz bei sich? So gesehen ist uns allen Burnon zu wünschen, mit Bodenhaftung und in Balance. Was dann auf Weisheit hinausläuft, die letztendlich auch die Akzeptanz einschließt, dass „einfach so sein, wie wir sind“ keine Lösung, sondern eine romantische Fiktion ist. Wenn das neue Label Burnon dazu beiträgt, Weisheit zeitgemäß einzukleiden, und sich viele damit auseinandersetzen, bleibt nur, sich bei den Autoren zu bedanken, trotz ihres Burnon dieses Buch geschrieben zu haben.

Andreas Hillert, Prien am Chiemsee


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Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
13. Februar 2023

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