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DOI: 10.1055/a-1930-2928
Ein Zuhause auf Zeit – Kinderhospiz
- Ein multiprofessionelles Team
- Eine Idee aus England
- Ab der Diagnose
- Kraft schöpfen
- Zwischen Tagen und Jahren
- Wie eine zweite Familie
- Vertrauen gewinnen
- Jedes Kind ist anders
- Intuitiv spüren und handeln
- Mit den Kindern lachen
- Das Leben genießen
- Unglaublich schön
- Abschied nehmen
Ein Wort, das bei vielen Menschen Beklemmung auslöst, vielleicht auch Gedanken an traurige, blasse Kinder ohne Haare, verzweifelte Eltern, einen viel zu frühen Tod: Kinderhospiz. „Da könnte ich nicht arbeiten“, mögen Sie vielleicht jetzt denken. Aber stimmt der Eindruck? Tauchen Sie mit zwei Pflegenden in ihre Arbeit im Kinder- und Jugendhospiz Stuttgart ein.
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50 000
iKinder und Jugendliche leben in Deutschland mit einer lebensverkürzenden Erkrankung.
18
stationäre Hospizeinrichtungen für Kinder und Jugendliche gibt es in Deutschland.
Die lange, kopfsteingepflasterte Auffahrt ist regennass, als die Mutter die Jugendstilvilla in der Stuttgarter Diemershalde zum letzten Mal verlässt. Vom steinernen Torbogen im Eingangsbereich winkt eine blonde Frau ihr nachdenklich hinterher. Erst als die Mutter mit ihrem Köfferchen um die nächste Häuserecke verschwunden ist, atmet die Frau tief durch, geht nach drinnen und schließt die Tür. Aus den oberen Stockwerken der großen Villa dringen lebhafte Stimmen und Kinderlachen zu ihr herunter.
Ein multiprofessionelles Team
Die blonde Frau heißt Birgit Borho. Sie ist Kinderkrankenschwester und eine von 48 Mitarbeitenden des Kinder- und Jugendhospizes Stuttgart, das 2017 als erstes in Baden-Württemberg eröffnet wurde. Zum Team, das sich um bis zu 8 schwerstkranke Kinder, deren Eltern und Geschwisterkinder kümmert, gehören neben Pflegenden auch Sozialpädagogen, Erzieher, Heilerziehungspfleger und Hauswirtschaftskräfte. Mehrmals pro Woche kommen zudem Physio- und Ergotherapeuten ins Haus, eine Reflexzonentherapeutin behandelt auf Wunsch auch die Eltern.
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Eine Idee aus England
„Die Wurzeln der Kinderhospizarbeit kommen aus England“, weiß Michaela Müller, die das Stuttgarter Kinder- und Jugendhospiz seit seinen Anfängen leitet. Dort lernte Ende der 1970er Jahre Schwester Francis Domenica, eine Kranken- und Ordensschwester, die schwerkranke Helen kennen. Um deren Familie zeitweilig zu entlasten, entstand die Idee für das weltweit erste stationäre Kinderhospiz. In Deutschland war es 1998 so weit: In Olpe eröffnete das Kinderhospiz Balthasar. Heute gibt es 18 stationäre Einrichtungen sowie ca. 150 ambulante Kinder- und Jugendhospizdienste. „Oberste Priorität hat immer die ambulante Begleitung der Familien“, betont Müller. „Denn die Kinder und Jugendlichen möchten ja im Normalfall am liebsten in ihrer gewohnten Umgebung sein.“
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Ab der Diagnose
In Deutschland leben ca. 50 000 Kinder und Jugendliche mit lebensverkürzenden Erkrankungen. Angesicht dieser Zahl erscheinen die bundesweit 18 stationären Hospize recht überschaubar, zumal die Aufgaben und Ziele andere sind als in der Erwachsenenhospizarbeit: Die Begleitung im Kinder- und Jugendbereich beginnt mit der Diagnosestellung und hat immer die gesamte Familie im Blick. Es geht darum, alle Familienmitglieder während ihrer verbleibenden gemeinsamen Zeit bestmöglich zu unterstützen. Das können Tage oder Wochen sein, oft jedoch Monate oder Jahre – ganz anders als in der Erwachsenenhospizarbeit, wo der Fokus auf einer Sterbebegleitung in der letzten Lebensphase liegt.
Die gesamte Familie wird bestmöglich unterstützt.
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Kraft schöpfen
Kinder- und Jugendhospize ermöglichen es Eltern und Kindern, in schöner Atmosphäre neue Kraft zu tanken für den oft anstrengenden Alltag zu Hause. Zeit haben für sich, für die Geschwisterkinder, Zeit auch, um gemeinsam mit dem kranken Kind Spaß zu haben, Erinnerungen zu schaffen, ohne sich um Pflege und Haushalt kümmern zu müssen. Vielleicht auch einmal die Ruhe zu finden, um in Gesprächen oder für sich selbst mehr Klarheit zu erhalten über das, was vielleicht noch kommt. Bis zu 4 Wochen im Jahr finanzieren die Krankenkassen in der Regel für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene bis 27 Jahre, wobei nur Pflege und Unterbringung übernommen werden. Alles andere, auch die Übernachtungen der Eltern, wird größtenteils durch Spenden ermöglicht.
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Zwischen Tagen und Jahren
„Voll belegt sind wir vor allem in den Ferien, wenn viele Kinder für ein oder zwei Wochen zu uns kommen“, sagt Leiterin Müller. Diese kurzen Entlastungsaufenthalte seien sehr typisch. Für längere Zeiträume kämen die Familien oft in einer Krisensituation, wenn es dem Kind schlechter gehe, aber die Eltern nicht ins Krankenhaus möchten, oder wenn Mutter oder Vater erkrankt oder verhindert sind und die Versorgung zu Hause nicht gewährleistet ist. Auch in der letzten Lebensphase, wenn oft nicht klar sei, wie lange es dauert, blieben Kinder manchmal über mehrere Wochen oder Monate als Gäste im Hospiz.
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Wie eine zweite Familie
Über diese langen Zeiträume entsteht Vertrauen. „Wir sind für viele unserer Gäste Teil der Familie, manchmal auch Familienersatz“, sagt Birgit Borho. So war es auch im Falle der Mutter, an deren Abschied im Regen sich die Pflegende noch heute deutlich erinnert. „Sie ist nach dem Tod ihres kleinen Mädchens noch ein paar Tage bei uns geblieben. Als ich sie dann hinausbegleitet habe, war mir klar, sie verliert nun auch uns als Bezugspersonen. Das tat mir schon weh.“
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Vertrauen gewinnen
Das Vertrauen der Eltern zu gewinnen, ist für Borho ein sehr wichtiger Teil ihrer Arbeit. Wenn die Eltern mit ihrem Kind zum ersten Mal kommen, seien viele sehr angespannt. „Sie schauen uns noch sehr genau auf die Finger, geben Hinweise, korrigieren uns“, berichtet Borho, die dafür durchaus dankbar ist. „So lernen wir das kranke Kind besser kennen.“ Mit der Zeit würden viele Eltern nur noch kurz den Kopf zur Tür hereinstecken und fragen, ob alles in Ordnung ist. „Wenn sie anfangen, uns das Kind zu überlassen, und stattdessen etwas allein oder mit dem Geschwisterkind unternehmen, dann spüren wir, sie geben ihr Kind in unsere Hände“, so Borho. Dieses Vertrauen zu gewinnen, mache sie immer wieder stolz und auch ein bisschen dankbar.
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Jedes Kind ist anders
Vor dem Aufenthalt wird eine umfangreiche schriftliche Anamnese erhoben, die auch Gewohnheiten und Vorlieben beim Essen, Waschen oder Schlafen beinhaltet. „Auf welcher Seite liegt das Kind beim Einschlafen, hat es ein Lieblingskuscheltier, putzt es nicht gern Zähne oder liebt es ein bestimmtes Kleidungsstück“, gibt Borho Beispiele. Jedes Kind kennenzulernen, seine Signale lesen zu lernen, wie es kommuniziert, sei immer wieder ein spannender Prozess, der viel Geduld, Intuition und Einfühlungsvermögen erfordere. Über 70 Prozent der Kinder, die ins Hospiz kommen, sind kognitiv sehr eingeschränkt, können nicht sprechen, nicht laufen, sind inkontinent, benötigen nachts Hilfe beim Atmen. Viele leiden unter Spastiken, die meisten haben eine Epilepsie. Während sich die Probleme der Kinder durchaus ähneln, sind ihre Grunderkrankungen jedoch sehr vielfältig. „Wir sehen ein sehr breites Spektrum an unterschiedlichen lebensverkürzenden Erkrankungen“, so Borho. Dazu gehören beispielsweise Frühkindliche Enzephalopathien, Gendefekte wie Trisomie 18, Asphyxien aufgrund von Geburtstraumata, angeborene Stoffwechselerkrankungen wie Mukoviszidose oder Muskelerkrankungen. Auch Unfälle mit schwersten Spätfolgen einer Hypoxie kommen vor.
Im Hospiz werden gemeinsame Erinnerungen geschaffen.
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Intuitiv spüren und handeln
Überraschend selten sind Kinder mit malignen Tumoren, was daran liegt, dass die Onkologie ein eigenes Betreuungssystem hat. „Ab und zu sind Kinder oder Jugendliche mit Hirntumoren oder Leukämien bei uns zu Gast“, sagt Borho. Sie erinnert sich an eine junge Frau mit Tumoren im Rückenmark, deren größter Traum es war, das Abitur zu schaffen. Bei einem früheren Aufenthalt hatte sie Besuch von Freundinnen bekommen, die auf Matratzen in einem Zimmer der Villa schlafen durften, und war mit ihnen shoppen gegangen. In den Herbstferien sei sie dann wiedergekommen, voller Pläne, wollte ins Musical gehen und in Stuttgarts größte Einkaufsmall. Ganz plötzlich habe sich ihr Zustand dramatisch verschlechtert. „Sie verstarb bei uns innerhalb von 48 Stunden“, berichtet Borho nachdenklich. „Ich glaube, sie hat es gespürt und wollte ihren Eltern und sich selbst einen Tod zu Hause allein oder im Krankenhaus ersparen.“ Diese Intuition der Kinder und Jugendlichen angesichts ihres Schicksals beeindruckt Borho immer wieder. Oft wüssten sie instinktiv, was los sei, würden ihre Krankheit ganz anders als Erwachsene annehmen und das Beste daraus machen. „Manchmal bekommt ein Satz, den ein Kind zu mir sagt, im Nachhinein eine ganz neue Bedeutung“, so Borho. Diese spirituellen Begegnungen, wie sie es nennt, berühren die Pflegende sehr. „Oft denke ich dann: ‚Ah, das wollte das Kind mir vermutlich sagen, und ich habe es nicht gleich begriffen.’“ Die Pflegende hat festgestellt, dass viele ihrer Kollegen und auch sie selbst über die Jahre sensibler für Zwischentöne geworden sind. „Diese Feinfühligkeit für das, was gerade vonnöten ist, was Eltern oder Kind in einem bestimmten Moment brauchen, und dies dann umzusetzen, das wird bei uns allen immer ausgeprägter“, konstatiert Borho.
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Mit den Kindern lachen
Im Hospizalltag ist der Tod auf die eine oder andere Weise immer präsent, sei es ganz real oder in Gestalt des Erinnerungsgartens, in den Gesprächen der Eltern untereinander oder durch eine brennende Kerze im Abschiedsraum. Dennoch: Der weitaus größere Teil von Birgit Borhos Arbeit dreht sich um das Leben. „Bei uns wird viel mehr gelacht, als die meisten Leute denken“, sagt Borho und schmunzelt bei dem Gedanken an ihre Kollegen. „Wir sind ein sehr kommunikatives Team, flachsen viel rum, reden auch mal Blödsinn.“ Sie findet es sehr wichtig, mit den Kindern zu lachen. Da werde dann schon mal jemand im Lifter geschaukelt oder bei der Lagerung durchgekitzelt. Es gäbe sehr viele Momente, zusammen Spaß zu haben, denn schließlich könnten auch kognitiv eingeschränkte Kinder Freude erleben.
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Das Leben genießen
Und auch wenn ein Kind verstorben ist: Das Leben geht weiter. Es gehe für die anderen Kinder weiter, für ihre Eltern, für die Geschwisterkinder. „Ich glaube, gerade die Eltern genießen diese schönen Momente, in denen sie ein wenig loslassen können“, ist Borho überzeugt. Da würden Ausflüge organisiert, es würde im Bewegungsbad geplanscht, Fasching gefeiert, im Winter im Hof über der Feuerschale Stockbrot gebacken. „Einer unserer Gäste, ein junger Mann, hat mal ein Maultaschen-Tasting organisiert, von verschiedenen Anbietern in der Stadt“, berichtet Borho lachend. Das ganze Personal durfte blind verkosten, und er habe anschließend ausgewertet. „Das war ein unglaublich tolles Event für alle.“
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Unglaublich schön
Das umfangreiche Therapieangebot des Hospizes bietet ebenfalls die Chance für positive Erlebnisse. Neben Kunst und Musik spielen Tiere eine große Rolle. Über die Terrasse läuft daher ab und zu ein Therapiepferd, auf dem ältere Kinder liegen dürfen, und wenn jede Woche die Hundetrainer kommen, wird die Eingangshalle der denkmalgeschützten Villa zum Streichelparadies. Die Reaktionen der Kinder zu sehen, zu spüren, wie sich Vitalzeichen, Gesichtsausdruck, Stimmung oder Muskeltonus verändern, empfindet Borho als sehr bereichernd: „Das ist einfach immer unglaublich schön.“
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Abschied nehmen
Es ist das Nebeneinander von Leben und Tod, was den Alltag eines Kinder- und Jugendhospizes ausmacht. Schmerzlich offensichtlich wird dies an der Geschichte der Familie, die mit zwei Geschwisterkindern im Kindergartenalter und ihrem toten Baby aus dem Krankenhaus ins Hospiz kamen, um als Familie zu trauern und Abschied zu nehmen. Während die beiden Kinder halfen, im Kreativraum den Sarg für ihre kleine Schwester zu gestalten, erhielten die Eltern vom Team die Unterstützung und Begleitung, die nur in einer solchen Umgebung möglich ist. „Zum Abschied haben sie uns eine lange Girlande mit Wimpeln geschenkt, auf denen steht, wofür sie uns dankbar sind“, erzählt Borho, der anzumerken ist, wie sehr diese außergewöhnliche Familie sie noch heute bewegt. Unter der Decke des Dienstzimmers ist nun zu lesen: „Für die liebevolle Atmosphäre, für schöne Erinnerungen, die uns innere Ruhe geben, für ein bewegendes Gespräch bei Nacht im Abschiedsraum. Danke, dass ihr uns so angenommen habt, wie wir sind.“
Kristina Mohr
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Publikationsverlauf
Artikel online veröffentlicht:
03. Januar 2023
© 2023. Thieme. All rights reserved.
Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany
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