Handchir Mikrochir Plast Chir 2023; 55(02): 155-158
DOI: 10.1055/a-1933-2949
Der interessante Fall

Replantation des funktionell-dominanten Kleinfingers bei Dysmelie mit Daumenaplasie (Blauth Typ IV) und residualem Daumenanhängsel nach fötaler Schädigung durch Thalidomid (Contergan) und Handgedenksdeformität

Replantation of the Functionally Dominant Little Finger in Dysmelia with Thumb Aplasia (Blauth type IV) after Fetal Damage from Thalidomide (Contergan) (Blauth Typ IV) and Wrist Deformity
Felix Steinhauer
1   Abteilung für Plastische, Hand- und Rekonstruktive Mikrochirurgie, Handtrauma- und Replantationszentrum, BG Unfallklinik Frankfurt am Main, Frankfurt am Main, Germany
,
Athanasios Terzis
1   Abteilung für Plastische, Hand- und Rekonstruktive Mikrochirurgie, Handtrauma- und Replantationszentrum, BG Unfallklinik Frankfurt am Main, Frankfurt am Main, Germany
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Jessica Gruenewald
1   Abteilung für Plastische, Hand- und Rekonstruktive Mikrochirurgie, Handtrauma- und Replantationszentrum, BG Unfallklinik Frankfurt am Main, Frankfurt am Main, Germany
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Benjamin Ziegler
1   Abteilung für Plastische, Hand- und Rekonstruktive Mikrochirurgie, Handtrauma- und Replantationszentrum, BG Unfallklinik Frankfurt am Main, Frankfurt am Main, Germany
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Christoph Hirche
1   Abteilung für Plastische, Hand- und Rekonstruktive Mikrochirurgie, Handtrauma- und Replantationszentrum, BG Unfallklinik Frankfurt am Main, Frankfurt am Main, Germany
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Einleitung

Circa 45,000 Menschen erleiden in den USA jährlich eine traumatische Fingeramputation [1]. Die Amputation eines Fingers und speziell des Daumens führt neben dem Verlust der körperlichen Integrität zu bedeutsamen funktionellen Einschränkungen für das soziale und berufliche Leben, weshalb für die erfolgreiche und bestmögliche Versorgung spezielle Versorgungsnetzwerke und Kliniken vorgehalten werden [1]. Die Replantation eines erhaltenswürdigen Amputats kann nach Daumenamputation, dem synchronen Verlust mehrere Finger und speziell bei Kindern sowie unter Berücksichtigung sorgfältig gewählter Kriterien bei einzelnen Langfingern die funktionellen Behandlungsergebnisse und die Lebensqualität verbessern. Das Arbeitsumfeld wie auch die soziale Integrität, Ansprüche an die Handfunktion und die Belastbarkeit spielen bei der Entscheidungsfindung für und mit dem Patienten eine wesentliche Rolle [6].

Neben den intrinsischen, patientenzentrierten Faktoren spielen multiple extrinsische Faktoren eine bedeutsame Rolle für den Erfolg, u. a. die Höhe der Amputation, die Verfügbarkeit, Auswahl und Qualität von Anschlußgefäßen [2] und auch der Verletzungsmechanismus, so dass in selten Fällen spezielle Konzepte wie die heterotope Replantation und präfabrizierte, chimäre Lappenplastiken für den Erfolg angewendet werden müssen.

Im Vergleich zu den Langfingern stellt der Daumen hier sicher eine übergeordnete Funktion und Rolle bei der Evaluation zur Replantation dar. Bei Monoamputationen der Fingern ist eine frustrane Replantation oder ein nicht replantationswürdiger Befund häufig ohne größere Nachteile für die Handfunktion und Kraft einzuordnen [3].

Eine besondere Ausnahme stellen hierbei Patienten dar, welche bereits vorbestehend eine Deformität der Hand aufweisen (angeborene Fehlbildung, funktionelle Behinderung) oder eine vorausgegangene schwere Handverletzung mit Einschränkungen aufweisen. Häufig haben sich diese Patienten mit Blick auf die veränderte Anatomie und die funktionellen Einschränkungen im Verlauf an die bestehende Situation erfolgreich adaptiert. Dabei gewinnen die frei-funktionellen Finger anteilig eine deutlich wichtigere Bedeutung an der Gesamtfunktion als bei Händen ohne Beeinträchtigung oder Verletzung.

Ein bedeutsames Ereignis mit Einfluss auf die Entwicklung der Hand im Rahmen der Embryogenese und auf die spätere Handfunktion mit resultierenden, gehäuft angeborenen Fehlbildungen war die Einnahme von Thalidomid (Contergan) als Schlaf- und Beruhigungsmittel bei schwangeren Müttern.

Zwischen 1957 und 1962 verursachte die Einnahme von Thalidomid fötale Fehlbildungen bei über 10,000 Kindern. Die Defekte waren vor allem an den Extremitäten, aber auch im Gesicht, den Augen, Ohren und Genitalien, aber auch an den inneren Organen lokalisiert [4].

Die Phokomelie ist die auffälligste aller Gliedmaßendeformitäten, die durch Thalidomid verursacht wird. Radiale Dysplasien (charakterisiert durch den Verlust des Radius und des Daumens) werden auch bei Thalidomid-Überlebenden beobachtet.

Bei dieser Fehlbildung ist der Daumen die Struktur, die am häufigsten betroffen ist, gefolgt von Radius, Humerus und schließlich Ulna [5].

Der Patient des vorliegenden, besonderen Falls mit nahezu vollständiger Amputation des funktionell-dominanten Kleinfingers bei Dysmelie mit Daumenaplasie litt an einer radialen Dysplasie durch Schädigung nach maternaler Thalidomid-Einnahme und fötaler Schädigung [4].



Publication History

Article published online:
13 December 2022

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  • Literatur

  • 1 Haas EM, Volkmer E, Holzbach T. Über Versorgungsstrukturen und Möglichkeiten der Optimierung durch Vernetzung bei schweren Handverletzungen und Replantationen. Handchir Mikrochir Plast Chir 2013; 45: 318-322 Epub 2013 Dec 19
  • 2 Kotsougiani D, Ringwald F, Hundepool CA. Safety and Suitability of Finger Replantations as a Residency Training Procedure: A Retrospective Cohort Study With Analysis of the Initial Postoperative Outcomes. Ann Plast Surg 2017; 78: 431-435
  • 3 Kevin C. Chung, MD, MS,corresponding author1 Alfred P. Yoon, MD,2 Sunitha Malay, MPH,2 Melissa J. Shauver, MPH,2 Lu Wang, PhD,3 and Surinder Kaur, PhD4, for the FRANCHISE Group Patient-Reported and Functional Outcomes After Revision Amputation and Replantation of Digit Amputations. The FRANCHISE Multicenter International Retrospective Cohort Study
  • 4 Vargesson N. Thalidomide-induced teratogenesis: History and mechanisms. Birth Defects Res C Embryo Today 2015; 105: 140-156
  • 5 Blauth W. Der hypoplastische Daumen. Arch Orthop Unfall Chir 1967; 62: 225-245
  • 6 Braig D, Thiele JR, Penna V. Ergebnisse nach Fingerendgliedreplantation - Ist der Aufwand gerechtfertigt?. Handchir Mikrochir Plast Chir 2017; 49: 29-36