Z Gastroenterol 2022; 60(11): 1678-1698
DOI: 10.1055/a-1934-1989
Leitlinie

S1-Leitlinie zur Versorgung von Lebertransplantierten während der COVID-19-Pandemie – AWMF-Registernummer: 021-031 – Stand 15. Juni 2022

Federführende Fachgesellschaft:
Frank Tacke
1   Charité – Universitätsmedizin Berlin, Medizinische Klinik m. S. Hepatologie und Gastroenterologie, Campus Charité Mitte/Campus Virchow-Klinikum, 13353 Berlin
,
Markus Cornberg
2   Klinik für Gastroenterologie, Hepatologie und Endokrinologie, Medizinische Hochschule Hannover, 30625 Hannover; Centre for individualised infection Medicine (CiiM), Hannover; Deutsches Zentrum für Infektionsforschung (DZIF)
,
Martina Sterneck
3   Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, I. Medizinische Klinik und Poliklinik, 20246 Hamburg
,
Jonel Trebicka
4   Universitätsklinikum Münster, Medizinische Klinik B, 48149 Münster
,
Utz Settmacher
5   Universitätsklinikum Jena, Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Gefäßchirurgie, 07747 Jena
,
Wolf Otto Bechstein
6   Universitätsklinikum Frankfurt, Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Transplantationschirurgie, 60590 Frankfurt
,
Thomas Berg
7   Universitätsklinikum Leipzig AöR, Bereich Hepatologie, Klinik und Poliklinik für Onkologie, Gastroenterologie, Hepatologie, Pneumologie und Infektiologie, 04103 Leipzig
,
Deutsche Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (DGVS), vertreten durch Frank Tacke, Markus Cornberg, Martina Sterneck, Jonel Trebicka, Thomas Berg, Deutsche Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie (DGAV), vertreten durch Wolf Bechstein Deutsche Transplantationsgesellschaft (DTG), vertreten durch Utz Settmacher Die Leitlinie wird von der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie (DGP) unterstützt.› Institutsangaben
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Lebertransplantationsprogramme und Lebertransplantation

1. Sind Anpassungen für die Durchführung von Organentnahmen und Lebertransplantationen während der COVID-19-Pandemie notwendig?

Empfehlungen
  • Während der COVID-19-Pandemie sollen Organentnahmen und Lebertransplantationen grundsätzlich weiterhin vorgenommen werden.

  • In Abhängigkeit von der Pandemie-Entwicklung und regionalen bzw. lokalen Ressourcen können an den Zentren Anpassungen in den Lebertransplantationsprogrammen notwendig werden.

Kommentar:

Die Lebertransplantation ist eine lebensrettende Option für Patienten mit Leberzirrhose, hepatozellulärem Karzinom, genetischen, metabolischen oder cholestatischen Erkrankungen sowie akutem Leberversagen [1] [2]. Daher besteht international Konsens darüber, dass Organentnahmen und Lebertransplantationen während der COVID-19-Pandemie grundsätzlich weiterhin erfolgen sollen [3]. Die COVID-19-Pandemie erschwert die Versorgung vieler Patienten, darunter auch besonders solche mit fortgeschrittenen Lebererkrankungen. Eine Einschränkung der Transplantationsaktivitäten würde zu einer zusätzlichen Benachteiligung dieser vulnerablen Patientengruppe führen [4]. Eine gemeinsame globale Erhebung wichtiger internationaler Leber- und Lebertransplantationsgesellschaften (EASL, ESOT, ELITA, ILTS) zeigte, dass in Abhängigkeit von der SARS-CoV-2-Prävalenz teils starke Beeinträchtigungen der Lebertransplantationsprogramme während der ersten Phase der Pandemie aufgetreten sind [5]. Durch regionale und nationale Anpassungen konnte die Versorgung mittels Lebertransplantation aber aufrechterhalten werden, sodass die Gesamtzahl der Transplantationen in Europa annähernd stabil blieb, bei allerdings höherer Wartelisten-Sterblichkeit [5].

Die vorliegende aktualisierte Fassung der deutschen S1-Leitlinie zur Versorgung von Lebertransplantierten während der COVID-19-Pandemie behält daher die grundsätzliche Empfehlung zur Fortsetzung von Lebertransplantationsprogrammen währen der Pandemie bei. Allerdings beansprucht die Durchführung einer Lebertransplantation und die Aufrechterhaltung eines Transplantationsprogramms (Evaluation, Wartelistenführung, Nachsorge) viele Ressourcen im Gesundheitssystem wie hochqualifiziertes medizinisches Personal und intensivmedizinische Kapazitäten. Daher kann es sinnvoll sein, Anpassungen im Lebertransplantationsprogramm am Zentrum in Abhängigkeit der Pandemie-Entwicklung und den lokalen (regionalen) Ressourcen vorzunehmen. Dies ist für beispielsweise die Nierentransplantation von Lebendspendern sehr früh in der Pandemie umgesetzt worden, weil sich diese Eingriffe mit niedrigem Risiko für Empfänger (und Spender) verschieben lassen [6]. In den Handlungsempfehlungen verschiedener Transplantations-Fachgesellschaften wurden Optionen aufgezeigt, wie in Abhängigkeit von der Pandemielage priorisiert werden kann [7]. Dies beinhaltet im Wesentlichen das transiente Aussetzen von Leberlebendspende-Programmen für erwachsene Empfänger und das Aussetzen „nicht dringlicher“ Transplantationen (welche zumeist lokal anhand einer individuellen Durchsicht der Warteliste definiert wurden) [3]. Mit diesem abgestuften Vorgehen ist anhand aktueller Auswertungen zu verzeichnen, dass die Transplantationszahlen zwar international moderat zurückgegangen sind, aber eine Versorgung mit dringlichen Lebertransplantationen aufrechterhalten werden konnte [8] [9]. Patienten mit ungünstiger Kurzzeitprognose, z. B. bei akutem Leberversagen, akut-auf-chronischem Leberversagen oder mit hepatozellulärem Karzinom (HCC) an der Grenze der Mailand-Kriterien, sollten allerdings nicht aus pandemiebedingten Gründen aufgeschoben werden [9]. Sollten durch die Pandemie die Kapazitäten so eingeschränkt sein, dass Transplantationen am Zentrum nicht mehr durchgeführt werden können, so sollen rechtzeitig Kooperationsstrategien mit Transplantationszentren, die ihr Transplantationsprogramm aufgrund einer geringeren Belastung durch das Pandemiegeschehen aufrechterhalten können, etabliert werden.


2. Welche Diagnostik bezüglich einer SARS-CoV-2-Infektion sollte beim Empfänger vor Lebertransplantation durchgeführt werden?

Empfehlungen
  • Während der COVID-19-Pandemie sollen alle potenziellen Organempfänger unmittelbar vor Lebertransplantation auf das Vorliegen einer SARS-CoV-2-Infektion getestet werden.

  • Bei SARS-CoV-2-positiven Empfängern ohne pulmonale Symptomatik kann eine Lebertransplantation durchgeführt werden.

  • Wenn bei SARS-CoV-2-positiven Empfängern eine Lebertransplantation durchgeführt wird, sollte auf das Vorliegen von SARS-CoV-2-Antikörpern getestet und eine simultane Therapie gegen SARS-CoV-2 geprüft werden.

Kommentar:

Bei steigender und/oder hoher Prävalenz von SARS-CoV-2-Infektionen in der Allgemeinbevölkerung werden derzeit alle Patienten vor Notfall- oder elektiven chirurgischen Eingriffen einer Routinetestung auf SARS-CoV-2 mittels Antigen- und/oder PCR-Test unterzogen. Gemäß den aktuellen Empfehlungen des Robert-Koch-Institutes (RKI) soll Untersuchungsmaterial aus den oberen Atemwegen (Rachen- und Nasenabstrich) und, wenn möglich und klinisch geboten, aus den tiefen Atemwegen gewonnen werden (https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Vorl_Testung_nCoV.html).

Vor dem Hintergrund der weit verfügbaren, hocheffektiven Impfungen gegen SARS-CoV-2 muss der bisherige Reflex, asymptomatische SARS-CoV-2 positiv getestete Patienten nicht zu transplantieren, überdacht werden. Zwar ist die Impfantwort bei Patienten mit fortgeschrittenen Lebererkrankungen schlechter als bei lebergesunden Probanden [10] [11] doch zumindest nach erfolgreicher Booster-Impfung treten bei Patienten mit Leberzirrhose oder auch nach Lebertransplantation nur sehr selten schwere Verläufe einer COVID-19-Erkrankung auf [12]. Zwar sollte man bei Nachweis einer SARS-CoV-2-Infektion den potenziellen Empfänger in den meisten Fällen als „nicht transplantabel“ melden (aufgrund der Notwendigkeit der Isolation und des potenziellen Risikos für eine später manifeste COVID-19-Erkrankung, siehe auch Empfehlung 6), doch unter Beachtung der individuellen Faktoren, d. h. derzeit vorherrschende SARS-CoV-2-Variante, Impfstatus des Empfängers, potenzielle Risikofaktoren für einen schweren Verlauf (z. B. Adipositas, begleitende Lungenerkrankung) und Dringlichkeit der Transplantation (z. B. akutes Leberversagen) kann unter strenger Risiko-Nutzen-Abwägung bei einem asymptomatischen Nachweis einer SARS-CoV-2-Infektion eine Lebertransplantation erfolgen [13]. Vor der Transplantation kann in solchen Einzelfällen eine Computertomografie des Thorax zur Beurteilung des Vorliegens möglicher Infiltrate erfolgen. Die Möglichkeit einer Therapie sollte bei Nachweis einer SARS-CoV-2-Infektion bedacht werden (siehe Empfehlungen 6–7).


3. Können Organe eines SARS-CoV-2-infizierten Spenders für eine Lebertransplantation akzeptiert werden?

Empfehlungen
  • Die Transplantation einer Leber von einem Spender mit SARS-CoV-2-Infektion kann unter Nutzen-Risiko-Abwägung erfolgen.

  • Bei unklarem oder fehlendem Immunschutz des Empfängers sollte bei Transplantation einer Leber eines SARS-CoV-2-positiven Spenders die Gabe eines neutralisierenden monoklonalen Antikörpers gegen das Spike-Protein erfolgen.

  • Die passive Immunisierung mit einem neutralisierenden monoklonalen Antikörper gegen das Spike-Protein kann auch unabhängig vom Immunschutz des Empfängers bei Transplantation einer Leber eines SARS-CoV-2-positiven Spenders erfolgen.

Kommentar:

In Deutschland werden alle Organspender auf SARS-CoV-2 mittels PCR aus Rachen- und/oder endotrachealem Abstrich getestet. Bis vor Kurzem wurden nur SARS-CoV-2-negative Organspender durch die Deutsche Stiftung Organtransplantation akzeptiert. Aktuell ist dies jedoch in Änderung, und es werden jetzt in ausgewählten Fällen auch Organe von SARS-CoV-2-positiven Spendern angeboten werden https://dso.de/organspende/news-veranstaltungen/news/Organspende%20und%20SARS%20COV-2/COVID-19/19).

Prinzipiell ist die Übertragung einer SARS-CoV-2-Infektion durch einen infizierten Spender denkbar, da in der Leber verstorbener Patienten SARS-CoV-2 nachgewiesen werden konnte [14]. Bisher ist jedoch kein Fall einer gesicherten Übertragung des Coronavirus auf einen Lebertransplantatempfänger bekannt. Lagana et al. [15] vermuteten zwar, dass es zu einer Übertragung durch eine infizierte Mutter auf ihr Kind im Rahmen einer Lebendspende gekommen sein könnte. Die Lebendspenderin wurde erstmals 2 Tage postoperativ positiv auf das SARS-CoV-2 getestet. Das Kind entwickelte am vierten postoperativen Tag Fieber, Dyspnoe, Diarrhoe sowie eine ausgeprägte Hepatitis und hatte eine positive SARS-CoV-2-PCR. Somit ist eine perioperative Übertragung bei engem Kontakt zwischen Mutter und Kind nicht auszuschließen.

Inzwischen wurden einige kleine Fallserien [16] [17] [18] [19] und einzelne Fälle [20] [21] [22] [23] [24] beschrieben, bei denen Lebertransplantate von SARS-CoV-2-positiven Spendern mit oder ohne positive SARS-CoV-2-PCR zum Zeitpunkt der Transplantation auf Empfänger mit durchgemachter SARS-CoV-2-Infektion transplantiert wurden. Bei einigen der Empfänger konnte zum Zeitpunkt der Transplantation noch SARS-CoV-2 mittels PCR im Nasenrachenraum nachgewiesen werden. Bisher kam es in keinem der Empfänger zu einer COVID-19-Erkrankung mit klinisch relevanter Symptomatik.

In 2 Fällen [25] wurden im Rahmen einer Leberlebendspende die Organe von SARS-CoV-2-positiven Spendern mit niedrigen Viruskonzentrationen auf ungeimpfte Empfänger ohne vorherige SARS-CoV-2-Infektion transplantiert. Keiner der Empfänger entwickelte eine SARS-CoV-2-Infektion [25]. Weiterhin kam es durch einen Lebendspender, der 2 Tage nach Spende mit SARS-CoV-2 diagnostiziert wurde, nicht zu einer Transmission auf den ungeimpften Empfänger ohne bisherige SARS-CoV-2-Infektion [26].

Hierauf basierend kann die Transplantation einer Leber eines SARS-CoV-2-positiven Spenders unter Nutzen-Risiko-Abwägung erfolgen, insbesondere bei Empfängern mit durchgemachter oder auch noch aktiver SARS-CoV-2-Infektion. In Italien wird dies seit November 2020 durchgeführt [17]. Aber auch die Transplantation der Leber eines SARS-CoV-2-positiven Spenders auf einen Empfänger ohne Nachweis einer durchgemachten SARS-CoV-2-Infektion erscheint, insbesondere vor dem Hintergrund der inzwischen verfügbaren antiviralen Behandlungsoptionen, gerechtfertigt, wenngleich dazu noch keine Erfahrungen vorliegen. Bei unklarem oder fehlendem Immunschutz des Empfängers sollte dann perioperativ eine prophylaktische antivirale Therapie erfolgen. Diese kann auch bei Empfängern mit vorangegangener Impfung in Erwägung gezogen werden. Als Prophylaxe kann eine passive Immunisierung mit vorzugsweise intravenös zu applizierenden neutralisierenden monoklonalen Antikörpern gegen das Spike-Protein erfolgen, wobei darauf zu achten ist, dass diese eine Effektivität gegenüber der beim Spender vorliegenden Virusvariante aufweisen. Die aktuell zur intravenösen Gabe zur Verfügung stehenden Antikörper Casirivimab plus Imdevimab zeigten in In-vitro-Studien keine Wirksamkeit gegenüber der SARS-CoV-2-Variante Omikron (Voc: variant of concern), die Wirkung des intravenös zu verabreichenden Sotrovimab gegen VoC-Omikron BA.2 ist unklar (ggf. könnte eine doppelte Dosis notwendig sein), während Tixagevimab plus Cilgavimab mit gewisser In-vitro-Aktivität gegenüber VoC-Omikron bisher nur in intramuskulärer Applikation vorliegen (siehe auch Empfehlung 7). Alternativ kann eine antivirale Therapie mit intravenös zu verabreichendem Remdesivir oder oral zu verabreichendem Molnupiravir erwogen werden, während aufgrund relevanter Medikamenteninteraktion mit den Calcineurininhibitoren das mit Ritonavir geboosterte Nirmatrelvir nicht gegeben werden sollte.

Für die Entscheidungsfindung zur Akzeptanz eines Lebertransplantats von einem SARS-CoV-2-positiven Spender sollte neben der Dringlichkeit der Transplantation und dem Serostatus des Empfängers auch der Verlauf der SARS-CoV-2-Infektion des Spenders mit einbezogen werden, insbesondere hinsichtlich der Dauer der Infektion, Schwere der COVID-19-Erkrankung, Höhe der SARS-CoV-2-Konzentration im nasopharyngealen und endotrachealem Abstrich, Vorliegen von Antikörpern und ggf. auch Kenntnis des Variantentyps. In jedem Fall muss eine ausführliche Aufklärung des Empfängers erfolgen und dessen Einverständnis vorliegen.




Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
11. November 2022

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