Aufsuchende Behandlung wird von Nutzenden und Angehörigen präferiert, ist evidenzbasiert und international weit verbreitet
Aufsuchende Behandlung wird von Nutzenden und Angehörigen präferiert, ist evidenzbasiert und international weit verbreitet
Nutzende und Angehörige präferieren die aufsuchende gegenüber der stationär-psychiatrischen Behandlung. Sie wird als niederschwelliger, weniger stigmatisierend, ressourcen- und recovery-orientierter erlebt [1]
[2]
[3]. Auch die DGPPN S3-Leitlinien empfehlen „Akutbehandlung im häuslichen Umfeld (AHU) und längerfristige „Intensiv-aufsuchende Behandlung“ (IAB) aufgrund der internationalen Datenlage mit dem höchsten Empfehlungsgrad zur Implementation [2]
[3]. Dabei lagen die ersten positiven Evaluationen aus randomisiert-kontrollierten Studien bereits vor mehr als 50 Jahren vor. Laut den Leitlinien reduzieren AHU oder IAB zusätzlich zur Präferenz der Nutzenden und Angehörigen Krankenhausaufenthalte, führen zu besseren klinischen und funktionellen Behandlungsergebnissen, fördern die Inklusion und sind kosteneffizient. Ähnliche Ergebnisse zeigten auch Studien im deutschsprachigen Raum [4]. Die internationalen Befunde führten dazu, dass AHU und IAB z. B. in Großbritannien, Irland, Dänemark, Norwegen, den Niederlanden, Italien, Australien und Kanada z. T. seit über 50 Jahren zur Regelversorgung gehören und oft das Kernangebot psychiatrischer Behandlung für Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen darstellen [2].
Evidenz-Practice-Gap beträgt für Deutschland mehr als 50 Jahre
Evidenz-Practice-Gap beträgt für Deutschland mehr als 50 Jahre
Trotz der eindeutigen Präferenzen der Nutzenden und Angehörigen, ausreichender empirischer Evidenz und der jahrzehntelangen internationalen Erfahrungen haben alle bisherigen Implementationsversuche von AHU oder IAB nicht zu einer relevanten Verfügbarkeit dieser Behandlungsform in Deutschland geführt. Modellprojekte nach § 64b und Intergierte Versorgungsverträge nach § 140 erlauben oft zwar AHU oder IAB, bestehen aber nur in wenigen Regionen, sodass für die Mehrzahl der Betroffenen deutschlandweit über diesen Weg kein Behandlungsangebot zu erwarten ist. Die einzige, relativ flächendeckend vorhandene Versorgungsform, die aufsuchende Behandlung erlaubt – die Psychiatrische Institutsambulanz (PIA) – ist in der Regel so unterfinanziert, dass im Durchschnitt nur 0,3 aufsuchende Behandlungskontakte pro PatientIn im Quartal angeboten werden können [5]. Somit ist in der Regel weder AHU noch IAB im Rahmen der PIA in relevantem Umfang möglich. Infolgedessen ist die Behandlung von Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen in Deutschland im internationalen Vergleich stark stationär- und institutionszentriert organisiert.
StäB als Chance zur Implementation klinisch-aufsuchender Behandlung auch in Deutschland
StäB als Chance zur Implementation klinisch-aufsuchender Behandlung auch in Deutschland
Vor dem Hintergrund des beschriebenen Implementationsdesasters ist es sehr begrüßenswert, dass in dem Gesetz zur Weiterentwicklung der Versorgung und Vergütung für psychiatrische und psychosomatische Leistungen (PsychVVG) 2017 mit der stationsäquivalenten Behandlung (StäB) endlich die Möglichkeit zu einer angemessen finanzierten und flächendeckend implementierbaren AHU auch in Deutschland geschaffen wurde. Im Vergleich zu den international verbreiteten, was Teamzusammensetzung und Behandlungsfrequenz betrifft, relativ flexiblen AHU ist StäB durch wesentlich engere regulatorische Vorgaben charakterisiert. Um mit den Kassen abrechnungsfähig zu sein, muss das StäB-Team z. B. Vertreter*innen dreier Berufsgruppen umfassen, täglichen Patientenkontakt, eine wöchentliche fachärztliche Visite und eine verbindliche multiprofessionelle Fallbesprechung organisieren sowie jederzeitige Eingriffsmöglichkeit durch das Krankenhaus vorhalten. Zudem ist die Implementation derzeit dadurch erschwert, dass die Krankenhäuser einzeln das jeweilige StäB-Budget mit den Kassen verhandeln müssen und es z. T. eine bis zu 100 %ige MD-Prüfquote gibt. Dennoch wird StäB in den Kliniken, die bereits verhandelt haben, einigermaßen kostendeckend – in etwa mit dem vollstationären Erlös – entgolten, sodass aktuell bereits etwa 50 Kliniken deutschlandweit StäB anbieten.
Erste Erfahrungen positiv
Erste Erfahrungen positiv
Nach den ersten klinischen Erfahrungen erfreut sich StäB einer hohen Akzeptanz bei Nutzenden und Angehörigen – insbesondere bei Menschen, die sonst schwer von stationären Angeboten zu erreichen sind, wie Menschen, deren PsychKG-Unterbringung ausläuft, Menschen mit ersten Krankheitsepisoden oder Patientinnen und Patienten mit Kindern [1]. Außerdem wird eine relevante Menge von Betroffenen überhaupt erst über STäB von der Regelversorgung erreicht. Auch entstand der Eindruck, dass Zwangsmaßnahmen durch frühzeitigeren niederschwelligen Kontakt mit den Betroffenen in der Krise z. T. vermieden werden konnten. Aber auch viele Menschen, die sonst stationäre Behandlung in Anspruch genommen haben, präferieren StäB, da die therapeutischen Ziele mit Unterstützung vor Ort oft besser erreicht werden können als im vom sozialen Bezugsraum fernen Krankenhaussetting. Nicht zuletzt sind die Mitarbeitenden, die StäB anbieten, aufgrund der größeren Personenzentrierung der Behandlung, häufig zufriedener mit ihrer Arbeit als stationär tätige Kolleg*innen. Erste Pilotevaluationen zeigen, dass StäB bezüglich der Wiederaufnahmerate der stationären Behandlung nicht unterlegen ist [6]. Weitere methodisch anspruchsvolle Daten sind von der AKtiV-Studie Ende 2023 zu erwarten [7].
StäB jetzt für die Stärkung einer partizipativen, evidenzbasierten, wenig stigmatisierten und attraktiven Psychiatrie nutzen
StäB jetzt für die Stärkung einer partizipativen, evidenzbasierten, wenig stigmatisierten und attraktiven Psychiatrie nutzen
Zweifelsohne hat StäB durch die im internationalen Vergleich starren formellen Vorgaben Nachteile und Verbesserungspotenzial. Auch ist es wünschenswert, noch Möglichkeiten zur IAB zu schaffen. Nichtsdestotrotz erscheint StäB derzeit als ein großer Meilenstein im Ausbau des psychiatrischen Versorgungssystems. Mit Jahrzehnte dauernder Verspätung kann die Versorgung dem Wunsch der Betroffenen und Angehörigen nach Behandlung im häuslichen Umfeld mit evidenzbasierter aufsuchender Behandlung nachkommen. Die Implementation von StäB hat großes Potenzial, die psychiatrische Versorgung in Deutschland personenzentrierter, partizipativer und weniger stations- und institutionsorientiert zu gestalten und dabei die Arbeit in der Psychiatrie für Mitarbeitende attraktiver zu machen. StäB stellt damit einen großen Meilenstein im Ausbau des psychiatrischen Versorgungssystems dar, den wir zum Ausgangspunkt einer recovery-orientierten, effektiven, für alle Beteiligten attraktiveren und weniger stigmatisierenden Psychiatrie machen sollten. Diese Chance sollten wir unbedingt nutzen!