Prof. Dr. med. Jens Kuhn Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik
Johanniter Krankenhaus Oberhausen und Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Uniklinik
Köln. Quelle: ©privat
Über die Inhaltsstoffe der Hanfpflanze (u. a. Cannabis sativa, Cannabis indica) wurde
in den letzten Jahren sowohl gesundheitspolitisch als auch in der breiten Öffentlichkeit
wiederholt diskutiert. Thema war zum einen der potenzielle Nutzen von medizinischem
Cannabis als erstattungsfähiger therapeutischer Ansatz bei verschiedenen Indikationen,
zum anderen die Legalisierung von Cannabisprodukten als Genussmittel für den Eigenbedarf.
Hinsichtlich des letztgenannten Aspektes beinhaltete die Koalitionsvereinbarung der
derzeitigen Bundesregierung die klare Absicht, dass Erwerb (über staatlich kontrollierte
Quellen) sowie Anbau und Besitz von definierten Höchstmengen an Cannabis (bzw. -pflanzen)
nicht mehr dem Betäubungsmittelgesetz unterliegen solle [1]. Bis zur finalen Gesetzesänderung und einer für 2024 in Aussicht gestellten Legalisierung
wird nach letztem Kenntnisstand noch eine Kompatibilität mit bestehendem europäischem
Recht gutachterlich geprüft. Die vorgebrachten Argumente für eine Legalisierung waren
und sind vielschichtig: So wurde etwa datengetrieben angeführt, dass trotz eines Cannabis-
Verbotes in den letzten Dekaden der Freizeitkonsum in der Bevölkerung zugenommen habe.
Um die Glaubwürdigkeit des Rechtsstaats nicht zu gefährden, müssten also noch mehr
exekutive und judikative Ressourcen aufgebracht werden, um die Gesetzeseinhaltung
sicherzustellen, die wiederum anderorts womöglich notwendiger seien [2]. Auch das geringere Abhängigkeits- und Schädlichkeitspotenzial von Phytocannabinoiden
im Vergleich zu den legalen psychotropen Substanzen Alkohol und Nikotin [3] wurde wiederholt thematisiert, um eine rechtliche Gleichstellung aller 3 Substanzen
zu fordern. In dem Zusammenhang muss der offensichtliche Wunsch vieler Menschen berücksichtigt
werden – analog etwa zum Alkoholkonsum – durch Cannabisverwendung in der Freizeit
positive Effekte zu erfahren. Und schließlich wird für den Fall einer kontrollierten
Erwerbbarkeit von Cannabis argumentiert, dass dies zu einer Entkriminalisierung (Beschaffungskriminalität,
Drogendealen etc.) führen werde und ein kontrollierter Markt die beste Option sei,
einen Jugendschutz zu gewährleisten. Potenziell gesundheitsgefährdende Verunreinigungen
von illegalem Cannabis würden dann ebenso vermieden, wie Substanzmischungen mit übermäßig
hohem Tetrahydrocannabinol (THC)-Gehalt.
Von Seiten der DGPPN, aber auch kleinerer Fachverbände, wie des LLPP (Landesverband
leitender Ärztinnen und Ärzte für Psychiatrie und Psychotherapie in NRW e.V), gab
es Stellungnahmen bzw. direkte Anschreiben an die Entscheidungsträger, in denen große
Bedenken u. a. bezüglich des Jugendschutzes im Falle einer zukünftigen Legalisierung
von Phytocannabinoiden dargelegt wurden [4]. Diese Sorge erfolgt u. a. vor dem Hintergrund dessen, dass Assoziationsstudien
darauf hinweisen, dass sich THC-Konsum in jungen Lebensjahren nachteilig und potenziell
irreversibel auf die Hirnentwicklung auswirkt, die individuell unterschiedlich, aber
oftmals erst mit dem 25. Lebensjahr als abgeschlossen gilt. Menge und Häufigkeit des
THC-Konsums in der Adoleszenz scheinen dabei im Sinne eines dosisabhängigen Effektes
z. B. schlechtere Lern- und Gedächtnisleistungen im Verlauf des Lebens zu bedingen
[5] und führen statistisch gesehen zu einer geringeren Schulbildung. Bekanntermaßen
nachteilig ist, dass ein regelmäßiger Cannabiskonsum die Wahrscheinlichkeit für die
Ausbildung einer psychischen Erkrankung erhöht und darüber hinaus Verlauf und Therapieansprechen
verschlechtert. Dies gilt insbesondere für die Schizophrenie [6], aber auch für andere Störungsbilder, wie Depressionen; gleichzeitig steigt die
Suizidgefahr bezogen auf die Lebensspanne [7]. Schließlich ist bei einem zunehmenden Freizeitkonsum von Cannabis auch die Wahrscheinlichkeit
erhöht, dass Cannabis-assoziierte Notfälle bzw. stationäre Krankenhausaufenthalte
auftreten können; eine wichtige Thematik, die im ersten Artikel dieses Schwerpunktheftes
von Maximilian Gahr aufgegriffen wird.
Hinsichtlich der eigentlichen Schlüsselfrage im Rahmen der Legalisierungsdebatte,
nämlich ob eine liberalere Cannabisgesetzgebung zu einem noch stärkeren Anstieg des
Freizeitkonsums führt, mit all seinen möglichen nachteiligen Effekten für die psychische
Gesundheit, gibt es wenige und diskrepante Anhaltspunkte. Eine methodisch interessante
Studie berichtete unlängst darüber, dass sich statistisch bei Zwillingen, die in unterschiedlichen
Regionen der USA aufgewachsen waren, ein stärkerer Cannabiskonsum bei den Zwillingspartnern
zeigte, die in einem Bundesstaat großgeworden waren, in dem Cannabis legal zu erwerben
war [8]. Gleichzeitig war einer vor wenigen Wochen publizierten Kohortenstudie zu entnehmen,
dass sich hinsichtlich der Diagnosehäufigkeit von Erkrankungen aus dem schizophrenen
Formenkreis und der Verschreibungsanzahl von Antipsychotika keine Unterschiede fanden
zwischen Staaten mit und ohne Cannabislegalisierung [9]. Unabhängig von der Datenlage ist die Forderung nach hoher Verantwortung gegenüber
Kindern und Jugendlichen und damit verbundenen schützenden Regularien im Rahmen der
geplanten Cannabislegalisierung zu unterstreichen.
Aus den Hanfpflanzen sind mehr als 400 Inhaltsstoffe isoliert worden, wobei den Cannabinoiden
THC und Canabidiol (CBD) sowohl die entscheidenden Wirkeffekte im Rahmen des Freizeitkonsums
als auch beim medizinischen Einsatz zugesprochen werden. (Wie bei anderen pflanzlichen
Produkten liegen über eine mögliche Funktionalität der vielen weiteren Inhaltsstoffe
der Cannabispflanze bisher nur unzureichende Kenntnisse vor). THC und CBD beeinflussen
in unterschiedlicher Weise das Endocannabinoidsystem (ECS), dessen Existenz und physiologische
Funktion erst seit Anfang der 1990er- Jahre bekannt ist bzw. entschlüsselt wird [10]. Das ECS moduliert eine Vielzahl von Regelkreisen, die u. a. für Steuerung von Appetit
und Energiebilanz, Schmerzempfindung, Sozialverhalten und Stressreagibilität verantwortlich
sind. Aber auch Affektivität, Sensorik, Immunreaktion und neuroprotektive Effekte
werden mit dem ECS in Verbindung gebracht [11]. Daraus lässt sich unschwer ableiten, dass eine gezielte Modulation des ECS durch
medizinisch eingesetztes Cannabis oder synthetische Analoga ein therapeutisches Potenzial
für verschiedenartige Krankheitsbilder darstellen könnte. Und erklären, dass sedierende,
entlastende, euphorisierende und psychoaktive Effekte infolge eines Cannabiskonsums
auftreten und von vielen Menschen als angenehm erlebt werden. Für die psychomimetischen
Wirkungen ist fast ausschließlich THC verantwortlich, welches u. a. agonistische Effekte
an den Cannabinoidrezeptoren entfaltet. CBD nimmt über eine komplexere Pharmakodynamik
Einfluss auf das ECS, scheint dabei aber partiell nachteilige Wirkphänomene von THC
sogar zu antagonisieren [12].
Vor dem Hintergrund der physiologischen Funktionalität des ECS ist es durchaus verständlich,
dass Phytobzw. synthetische Cannabinoide seit vielen Jahren zur Schmerzbehandlung
eingesetzt werden und Zulassungen für die Indikationsgebiete „Spastik aufgrund von
Multipler Sklerose“ und „Anorexie bzw. Kachexie bei AIDS-Patienten sowie als Antiemetikum
für mit Bestrahlungstherapie behandelte Krebspatienten“ bestehen. Auch wenn die analgetische
Effektstärke als mild eingestuft wird, profitieren Anwender oftmals im Sinne einer
Schmerzbasistherapie. Bemerkenswert im Zusammenhang zwischen ECS und Schmerzempfinden
ist eine kasuistische Beobachtung einer Patientin mit genetisch bedingt hohen Anandamid-Konzentrationen
(Endocannabinoiden), die über eine nahezu aufgehobene Algesie berichtete [13].
Sicherlich auch zusätzlich getrieben von vielen positiven Erfahrungsberichten und
einer großen Patientenakzeptanz wurde im Jahre 2017 das Gesetz „Cannabis als Medizin“
verabschiedet, welches zur Zielsetzung hatte, den „Einsatz von Cannabisarzneimitteln
als Therapiealternative bei Patientinnen und Patienten im Einzelfall bei schwerwiegenden
Erkrankungen“ zu ermöglichen. Dieser außergewöhnliche Vorgang, der die Verordnungsfähigkeit
von Cannabis zu Lasten der gesetzlichen Krankenkassen eröffnete, ohne den normalen,
durch das AMNOG festgelegten Prozess „der Überprüfung von neuen Therapien“ zu durchlaufen,
wurde kontrovers diskutiert. Der zweite Schwerpunktartikel von Wolfgang Reuter widmet
sich diesem besonderen Gesetz, den prozessualen Abläufen im Rahmen der Kostenerstattung
und den Ergebnissen der verpflichtenden Begleiterhebung, die von der beim BfArM-ansässigen
Bundesopiumstelle ausgewertet wurde.
Eine besondere Kritik an der jetzigen, genutzten Verordnungsmöglichkeit ergibt sich
aus der nach Studienlage unzureichenden medizinischen Evidenzbasierung. Für verschiedene
Indikationen des psychiatrischen Fachgebietes wird anhand einer Übersichtsarbeit dieses
Schwerpunktheftes von Johannes Kramer und Oliver Pogarell eine „Evidenzlücke“ erneut
offensichtlich. Umso mehr bedarf es hochwertiger klinischer Studien, die das therapeutische
Potenzial der Phytocannabinoide bzw. Modulatoren des ESC explorieren. Der Eingangsfrage
nach „Fluch oder Segen“ folgend, ergeben sich dann hoffentlich doch therapeutische
Ansätze für Indikationen, für die kaum spezifische pharmakologische Optionen verfügbar
sind. Ein derartiges Einsatzgebiet könnte die Borderline- Persönlichkeitsstörung darstellen.
Der mögliche Nutzen von Cannabinoiden bei diesem herausfordernden Krankheitsbild wird
im vierten Artikel dieses Schwerpunktheftes von Eugenia Kulakova und Katja Wingenfeld
diskutiert.
Ich wünsche Ihnen, liebe Leser, viel Freude und neue Erkenntnisse.
Jens Kuhn, Oberhausen und Köln