Praxis Handreha 2023; 04(01): 36-39
DOI: 10.1055/a-1964-9483
Aus der Praxis – für die Praxis

Der kindliche Schmerz: verstehen – befunden – behandeln

Andrea Zander
 

Schmerz ist eine subjektive Empfindung, die im zentralen Nervensystem entsteht. Sie ist objektiv schwer zu greifen. Zu erkennen, dass ein Kind Schmerzen hat, ist meist kein Problem. Die Schmerzqualität und die Schmerzintensität zu beurteilen, ist dagegen schwieriger, z. B. wenn ein Kind nicht sprechen kann. Indikatoren wie die Schreistärke lassen nicht automatisch auf die Schmerzintensität schließen.


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In Deutschland leidet nach Schätzungen jedes 3. Kind unter chronischen, also länger als 3 Monate andauernden Schmerzen [1]. Über die Schmerzverarbeitung, das subjektive Schmerzempfinden und die Schmerzbewältigung bei Kindern ist bisher nur unzureichendes Wissen vorhanden.

Was beeinflusst Schmerzen?

Die Schmerzverarbeitung findet im limbischen System des zentralen Nervensystems (ZNS) statt. Sie gliedert sich in 3 Dimensionen, die den Schmerz kennzeichnen und beeinflussen ([Abb. 1]): Die nozizeptiven Signale, die aus der verletzten, erkrankten Struktur gesendet werden, stellen die sensible Dimension dar. Im Zusammenspiel mit den Schmerzerfahrungen (kognitive Dimension), die bisher gesammelt wurden, und der entsprechenden Reizaufnahme aus dem Umfeld (affektive Dimension) entwickelt sich die subjektive Wahrnehmung, der Schmerz. Die verschiedenen Dimensionen wirken dauerhaft auf das Schmerzempfinden von Kindern und Jugendlichen ein.

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Abb. 1 Die 3 Dimensionen des Schmerzes. (Quelle: Thieme Group)

Bei Kindern spielt vor allem die affektive Dimension eine zentrale Rolle. Diese ist geprägt durch die Reaktion der Eltern auf das Schmerzempfinden ihrer Kinder. Steht das Kind wegen seiner Schmerzen vermehrt im Zentrum der Aufmerksamkeit, kann es zum unbewussten Erlernen des Schmerzverhaltens kommen. Man spricht dann von Krankheits- bzw. Schmerzgewinn. Aus zahlreichen Studien geht zudem hervor, dass auch der Schmerzbewältigungsstil, den Eltern ihren Kindern vorleben, vom Kind übernommen zu werden scheint [2]. So kann schon bei Kindern ein chronisches Schmerzproblem entstehen.

Erkenntnisse der Schmerzforschung

Nach dem aktuellen Stand der Schmerzforschung ist die periphere Schmerzschwelle bei Säuglingen bereits voll entwickelt [3]. Schmerzforscher nehmen an, dass Schmerzerfahrungen, die als Kind gemacht wurden, das Schmerzerleben auch in der Zukunft verändern. Dies wird damit begründet, dass die periphere Schmerzschwelle bei Säuglingen vergleichsweise niedriger ist, die Reaktion auf den Schmerz stärker.

Mithilfe von EEG-Verfahren konnten Forscher die kortikale Verarbeitung von nozizeptiven Reizen beim Neugeborenen nachweisen. In einer Reihe von Studien mit Kindern zwischen 10 und 14 Jahren, die bereits frühe Schmerzerlebnisse hatten, wurden Testungen der Schmerzschwelle gemacht. Diese Kinder hatten eine niedrigere Schmerzschwelle als Kinder, die weniger Schmerzerlebnisse hatten oder mehr Schmerzmedikation bekommen haben [2].

Ein interessantes Ergebnis, zumal Eltern oft beim Einsatz von Schmerzmedikation für ihre Kinder eher mit Zurückhaltung reagieren, teils aus Angst vor möglichen Nebenwirkungen oder Spätfolgen. Hier bedarf es immer noch weiteren Untersuchungen und Aufklärung der Eltern über das Auswirken des Schmerzerlebens ihrer Kinder im späteren Alter. Auf der anderen Seite stellt die Bagatellisierung des Schmerzes bei Kindern ein weiteres Problem dar. Jeder hat schon einmal den Satz „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“ gehört. Das Kind evaluiert für sich, dass sein Schmerzempfinden nicht ernst genommen wird. So lernt das Kind mit der Zeit, seiner eigenen Schmerzwahrnehmung zu misstrauen. Das entstandene Misstrauen beeinflusst seine Schmerzwahrnehmung und die Schmerzverarbeitung zusätzlich negativ.


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Kindlichen Schmerz erheben

Bei Kindern lassen sich 3 Arten von Schmerzen unterscheiden:

  • postoperative Schmerzen

  • Schmerzen bedingt durch medizinische Maßnahmen

  • krankheitsbedingte Schmerzen

Krankheitsbedingte Schmerzen sind gekennzeichnet durch Muskel- und Gelenkschmerzen (wie beispielsweise bei rheumatischen Erkrankungen oder posttraumatischen Erkrankungen), durch Wachstumsschmerzen, Kopfschmerzen und wiederholt auftretende Bauchschmerzen.

Kinder können sich oft nicht so differenziert ausdrücken. Zudem fehlen effiziente, validierte Schmerzerhebungsinstrumente. Diese Tatsachen machen einen Schmerzbefund in der Therapie schwierig. Die subjektive Beurteilung des Schmerzes gelingt Kindern in etwa ab dem 6. Lebensjahr. Dagegen zeigen 11–12-jährige Kinder ähnliche Schmerzreaktionen wie Erwachsene und machen ähnliche Schmerzangaben.

Kinder klagen im Vergleich zu Erwachsenen eher weniger über Schmerzen; einige Kinder sind beispielsweise bei hohem Fieber noch fröhlich aktiv. Indirekte Schmerzsymptome sind deshalb eine gute Möglichkeit für den Therapeuten, die Schmerzsituation einzuschätzen ([Abb. 2]).

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Abb. 2 Indirekte Schmerzsymptome erkennen können, hilft, die oft unzureichende Ausdrucksmöglichkeit der Kinder zu kompensieren. (Quelle: Thieme Group)

Kinder<4 Jahre Der Einsatz des COMFORT-Verhaltenscores zur Bestimmung der Schmerzstärke ist bei Kindern bis 4 Jahren sinnvoll. Dabei schätzen Eltern verschiedene Parameter ein: z. B. das Schlafverhalten, die Bewegungen, den Muskeltonus, die Gesichtsspannung, die Aufmerksamkeit und die Ruhe/Unruhe. Entsprechend der Anzahl der Parameter werden Punkte vergeben. 17 oder mehr Punkte zeigen eine schmerztherapeutische Intervention an [4].

Kinder>4 Jahre Bei Kindern ab 4 Jahren kann der Einsatz von Smiley-Skalen (visuelle analoge Schmerzskala) oder der Faces Pain Scale revised ([Abb. 3]) zur Schmerzstärkenbestimmung hilfreich sein [4] [5]. Dabei sollte der Therapeut darauf achten, dass er bei deren Einsatz keine Bilder verwendet, auf denen Tränen zu sehen sind. Für ältere Kinder kann Weinen ein Zeichen von Schwäche sein, weshalb sie oft ein niedrigeres Schmerzlevel angeben. Jüngere Kinder verbinden mit Tränen eine höhere Schmerzintensität. Zudem habe ich festgestellt, dass junge Schmerzpatienten im Beisein der Eltern oft ein höheres Schmerzlevel angeben. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn sie in der Krankheit sehr viel mehr Aufmerksamkeit von ihren Eltern erfahren als sonst. Hier erlebe ich den bereits erwähnten Krankheitsgewinn.

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Abb. 3 Die Faces Pain Scale revised ist ein Tool zur Bestimmung der Schmerzstärke für Kinder ab 4 Jahren. (Quelle: Karin Baum, Paphos, Zypern)

Sowohl die Befundung als auch die Behandlung ohne Beisein der Eltern setzen jedoch die Einwilligung des jungen Patienten und seiner Eltern voraus! Ist das nicht möglich, muss der Therapeut diesen Aspekt bei der Beurteilung der kindlichen Schmerzen immer berücksichtigen. Schmerzrelevante Faktoren des sozialen Umfeldes müssen also nicht zuletzt mit in die Befundung einfließen. Dazu gehört die häusliche, familiäre Situation, die soziale Situation im Kindergarten oder in der Schule.


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Schmerzedukation

Die Schmerzedukation umfasst die sozioemotionalen Aspekte und neurophysiologischen Schmerzaspekte. Sie soll jungen Schmerzpatienten und deren Eltern vermitteln,

  • wie Schmerzen entstehen,

  • wie sie durch das soziale Umfeld beeinflusst werden und

  • wie man damit umgeht.

Ein gutes Krankheitsverständnis und der effektive Umgang mit den schmerzbedingten Symptomen stellen die wichtigste Voraussetzung für den Erfolg der oft langwierigen und schwierigen Therapie dar [6]. Die Rolle der Eltern ist dabei ein wesentlicher Faktor. Schon im Vorfeld der ersten Therapieeinheit nutzen Eltern heutzutage das Internet, um weitere Informationen über die Erkrankung und die Therapiemethoden ihres Kindes zu erhalten. Diese Informationen sind jedoch für Laien oft missverständlich, nicht auf das Kind im Speziellen zutreffend und teilweise auch angsteinflößend. Ein dysfunktionales Schmerzbild mit einem verzerrten Krankheitsbild kann sich entwickeln.

Es ist daher unabdingbar, dass der Therapeut mittels der pädiatrischen Schmerzedukation ein für den Patienten und seine Eltern schlüssiges Störungskonzept erstellt. Dieses Störungskonzept beantwortet Fragen wie: Was ist die Ursache des Schmerzes? Was beeinflusst den Schmerz? Wie zeigt sich der Schmerz? Es bietet eine sichere Basis, aus der Therapiemaßnahmen abgeleitet werden, die sich den Eltern und dem jungen Schmerzpatienten erschließen und immer wieder neu evaluiert werden können. Gleichzeitig können daraus Ziele für die Therapie benannt werden, wie z. B. „Ich lerne, den Schmerz zu begreifen und in den Griff zu bekommen.“

Die Schmerzedukation kann mit verschiedensten Werkzeugen gestaltet werden und sollte altersrelevant sein. Beispielhaft steht hier das Therapie-Manual von Michael Dobe und Boris Zernikow [7]. Die altersgerechten Grafiken, Bilder und Metaphern sind hilfreiche Instrumente, um das komplizierte Krankheitsgeschehen zu verdeutlichen und zu verstehen. Edukationsvideos wie z. B. „Den Schmerz verstehen und was zu tun ist – in 10 Minuten“ [8] sind eine weitere Möglichkeit, akute von chronischen Schmerzen zu unterscheiden und Schmerzbewältigungsstrategien zu erfahren. Als Ratgeber für Eltern von jungen Schmerzpatienten hat sich „Rote Karte für den Schmerz“ von Michael Daube und Boris Zernikow etabliert [9].


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Therapieansätze beim jungen Schmerzpatienten

Wie auch bei erwachsenen Schmerzpatienten beginnt die Therapie bei Kindern bereits im Warteraum. Besonders vor der ersten Behandlung sollte es nicht zu langen Wartezeiten kommen. Sind die Behandlungsräume freundlich und altersgerecht gestaltet, entwickelt das Kind eine entspanntere und positivere Grundeinstellung, die mitentscheidend für den Aufbau des Vertrauensverhältnisses sein wird.

Die bereits erwähnte Schmerzedukation hat als Bestandteil der Befundung einen zeitlich großen Anteil. Bei jüngeren Patienten erfolgt das Gespräch in erster Linie mit den Eltern bzw. den Bezugspersonen. Ich lasse die Kinder dann auch gern währenddessen den Behandlungsraum erkunden und beobachte dabei das Verhalten des Kindes. Rückschlüsse, die ich daraus ziehe, haben Einfluss auf die Auswahl der späteren Therapiemethoden.

Ängste reduzieren

Es ist wichtig, mögliche Ängste der Kinder zu reduzieren und kognitive und emotionale Strategien zu verwenden, die das Schmerzerleben positiv beeinflussen. Oft sorgen medizinische und therapeutische Interventionen für mehr Angst und Schmerz als die Erkrankung des Kindes selbst. Es ist wichtig, Ängste zu vermeiden und mit kognitiven und emotionalen Prozessen das Schmerzerleben günstig zu beeinflussen. Die Basis dafür ist Vertrauen, das sich der Therapeut zunächst einmal erarbeiten muss.

Codewort

In der Behandlung von Schmerzpatienten gibt es ein sogenanntes „Codewort“, das ich mit dem Kind vor der Behandlung ernenne. Das kann ein einfaches „Stopp“ sein. Dieses Codewort darf und soll das Kind zu jeder Zeit während der Therapiesitzung aussprechen dürfen. Es ist absolut unerlässlich, dass der Therapeut die Therapiemaßnahme sofort beendet, wenn er das Codewort hört, auch wenn er selbst keine Notwendigkeit dafür sieht. Nur so kann sich das so wichtige Vertrauensverhältnis entwickeln.

Die Schmerztherapie muss immer aus einer Kombination von medizinisch-therapeutischen und psychologischen Interventionen bestehen. So können beispielsweise spezielle Atemübungen, altersgerechte Rollenspiele und/oder Imaginationsverfahren in die Therapie mit eingebaut werden. Das Lieblingskuscheltier des Kindes, an dem ich im Vorfeld gerne Therapiemaßnahmen zeige und erkläre, ist bei mir in der Praxis immer gern gesehen.


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Schmerzbewältigungsstrategien

Leider ist bei manchen Patienten Schmerzbeseitigung aufgrund der bestehenden Erkrankung noch nicht oder nicht mehr möglich. Schmerzbewältigung ist dann das zentrale Element der Behandlung. Dafür gibt es verschiedene Strategien, die alters- und typabhängig sind und mit den Eltern und dem Kind ausgesucht werden müssen. Dazu gehören:

  • Erlernen von gezielten Entspannungstechniken wie Yoga, Autogenes Training, Progressive Muskelrelaxation nach Jacobson, „Wärme-Licht-Traumreisen“

  • Umlenkung schmerzbezogener Aufmerksamkeit

Kinder lernen dabei, sich bei einsetzenden Schmerzen auf andere Dinge zu konzentrieren und auftretende negative Gedanken mit positiven zu überspielen. Katastrophisieren der Situation („Jetzt habe ich schon wieder diese blöden Schmerzen und kann nicht spielen“) oder Pauschalisierungen („Ich kann gar nichts mehr tun“) führen dazu, dass das Schmerzerleben verstärkt wird. Dies spiegelt die kognitive Schmerzebene wider. Positive Gedankengänge müssen deshalb mit dem Kind besprochen, gesucht und verinnerlicht werden. Das können Sätze sein wie zum Beispiel „Wenn ich die Übungen mache, die ich in der Therapie gelernt habe, spüre ich meine Schmerzen nicht mehr so doll“ oder „Letzte Woche war an Klettern noch gar nicht zu denken. Heute schaffe ich schon 2 Stufen, bevor es wehtut“.

Ein Motto in meinem Leben ist: „Das Glas ist immer auch halb voll“. Ein Leitsatz, der in schmerzhaften und schwierigen Momenten den Blickwinkel ändern kann. Neben der manuellen Behandlung sind also immer auch psychische Behandlungsstrategien ein Teil der Therapie.


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Wahrnehmungsschulung

Biofeedback-Therapie stellt eine weitere Behandlungsmethode dar. Das Kind erlernt entweder durch selektiertes Anspannen (z. B. bei geschwächten Muskeln) oder durch selektiertes Entspannen (z. B. bei Überlastungsbeschwerden, Schreibkrampf) bestimmte Muskelgruppen zu kräftigen oder zu entspannen. In der Folge verbessert sich die Körperwahrnehmung. Die Kinder lernen, eigenverantwortlich mit ihrem Körper umzugehen und ihre Schwächen und Stärken zu erkennen und zu nutzen. Nicht zuletzt gehören auch zyklische Belastungsformen und geeignete Sportarten mit Spaßfaktor zur Therapie dieser Patientengruppe. Der entwicklungspsychologische Nutzen von Sport in Sachen Stress- und Frusttoleranz, Steigerung des Selbstwertgefühls und Verbesserung zielorientierten Wissens ist schon lange bewiesen.

Um eine effiziente und erfolgreiche Schmerztherapie unserer Kinder zu gewährleisten, ist gutes Teamwork zwischen Patient, Therapeut, Eltern und Ärzten die Voraussetzung.


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Autorinnen/Autoren

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Andrea Zander
Physiotherapeutin und zertifizierte Handtherapeutin. Sie arbeitet als fachliche Leitung der HLO Physiotherapie in einer handtherapeutischen Praxis im Krankenhaus Waldfriede in Berlin und ist Dozentin an der Akademie für Handrehabilitation.

Autorinnen/Autoren

Andrea ZanderPhysiotherapeutin und zertifizierte Handtherapeutin. Sie arbeitet als fachliche Leitung der HLO Physiotherapie in einer handtherapeutischen Praxis im Krankenhaus Waldfriede in Berlin und ist Dozentin an der Akademie für Handrehabilitation.Korrespondenzadresseandrea-zander@gmx.net


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Publication History

Article published online:
06 February 2023

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Georg Thieme Verlag
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany


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Andrea Zander
Physiotherapeutin und zertifizierte Handtherapeutin. Sie arbeitet als fachliche Leitung der HLO Physiotherapie in einer handtherapeutischen Praxis im Krankenhaus Waldfriede in Berlin und ist Dozentin an der Akademie für Handrehabilitation.
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Abb. 1 Die 3 Dimensionen des Schmerzes. (Quelle: Thieme Group)
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Abb. 2 Indirekte Schmerzsymptome erkennen können, hilft, die oft unzureichende Ausdrucksmöglichkeit der Kinder zu kompensieren. (Quelle: Thieme Group)
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Abb. 3 Die Faces Pain Scale revised ist ein Tool zur Bestimmung der Schmerzstärke für Kinder ab 4 Jahren. (Quelle: Karin Baum, Paphos, Zypern)