Fragestellungen und Themen
Versorgungsanalysen dienen, dazu vielfältige Fragen zu beantworten, die sich
in ein Schema Wer-Was-Wann-Wie-Warum-Welche Effekte einordnen lassen:
A) Wer versorgt Bürger:innen und Patient:innen mit gesundheitsbezogenen
Leistungen? [Wer?]
Hierbei sind unter anderem Fragen nach den Versorgenden und deren Anzahl,
Qualifikation, räumlichen Verteilung bzw. Flächendeckung, ihre
Sektorierung und Kooperationen sowie die Delegation und Substitution von Leistungen
in Bezug auf verschiedene Nutzergruppen zu thematisieren (Input).
B) Was wird an gesundheitsbezogenen Leistungen erbracht? [Was?]
Bei der Frage danach, welche Leistungen erbracht werden, wird vor allem der
„Output“ in seiner Vielfalt und Verfügbarkeit im Hinblick
auf die jeweiligen Leistungserbringer und deren regionale Verteilung betrachtet.
C) Wann werden gesundheitsbezogene Leistungen erbracht? [Wann?]
Die Frage nach der zeitlichen Komponente der Leistungserbringung beleuchtet
u. a. jahreszeitliche Schwankungen bei Bedarf und Angeboten, zeitliche
Trends, aber auch eventuelle Wochentags- und Uhrzeit-abhängige Unterschiede,
die für Planungszwecke bedeutend sein und potenzielle Situationen der Unter-
und Überversorgungen identifizieren können. Es kann auch eine
wichtige Frage sein, wann im Erkrankungsverlauf bestimmte Versorgungsleistungen
erbracht werden und ob dieser Zeitpunkt angemessen ist.
D) Wie werden gesundheitsbezogenen Leistungen erbracht? [Wie?]
Mit diesem Aspekt wird die Frage nach dem Zielerreichungsgrad auf der Prozessebene
der Gesundheitsversorgung am stärksten berührt: Wird das Richtige
auf richtige Art und Weise durchgeführt (Throughput)? Es geht also darum zu
analysieren, inwieweit die Gesundheitsversorgung bedarfsgerecht, aber auch
verteilungsgerecht in Bezug auf die verschiedenen Nutzergruppen, sicher, effektiv
und patient:innenzentriert gestaltet wird. Welche Strukturen erbringen welche
Prozesse? Entsprechen diese dem Stand der medizinischen Wissenschaft –
werden sie leitlinienkonform bzw. fachgerecht erbracht? Und sind die Prozesse an den
Werten und Bedarfen der Patient:innen orientiert? Daraus ergeben sich auch die
Messgrößen und -verfahren, die für die Bewertung der
Prozessqualität von Gesundheitsversorgung geeignet sind.
E) Warum findet die Gesundheitsversorgung so statt, wie sie stattfindet?
[Warum?]
Hier wird nach den Determinanten der Fragen A-D gefragt. Welche Anreize oder
Barrieren existieren dafür, dass Leistungen eventuell zu häufig, zu
selten, nicht patient:innenzentriert, nicht qualifiziert, nicht sicher, nicht
rechtzeitig erbracht werden? Können regionale Unterschiede oder Best
Practice Beispiele aufgedeckt werden, die als Ausgangspunkt für ein
Voneinander-Lernen genutzt werden können? Über diese Fragen hinaus
lässt sich hier auch die Politikfolgenforschung einordnen: welche
gesundheitspolitischen Maßnahmen wirken auf die Gestaltung der
Gesundheitsversorgung mit welchen Auswirkungen auf die Versorgung ein?
F) Welche Effekte erzielt die Gesundheitsversorgung? [Welche Effekte?]
Die Frage nach den Effekten der in A-E genannten Komponenten der
Versorgungsgestaltung umfasst verschiedene Ebenen. Zunächst einmal ist hier
die Zielerreichung im Sinne von Ergebnisqualität (Outcome) angesprochen.
Dies können eine erreichte Genesung, der nachweisbare Erhalt der Gesundheit
oder eine gelungene Risikominimierung durch Prävention sein. Neben den von
den Leistungserbringern qua Profession festgestellten Outcomes (z. B.
Arbeitsunfähigkeit) und harten Outcomes wie der Mortalität
zählen hierzu die von den Patient:innen berichteten Outcomes und Erfahrungen
(PROs und PREs). Auch die vom System gemessenen Effekte auf die physische,
psychische und soziale Funktionalität, auf die Integration und
gesellschaftliche Teilhabe und auf die Morbidität der Bevölkerung
zählen dazu. Letztlich steht die Frage im Raum, ob die Gesundheitsversorgung
einen positiven Beitrag zur Gesundheit und zur Lebensqualität der
Bürger:innen leistet. Die Effekte des Wer-Was-Wann-Wie-Warum können
sich aber auch auf Kosten, auf den regionalen Wirtschaftsstandort, den Arbeitsmarkt
oder die Ausbildungsgestaltung und andere soziale und gesellschaftliche Bereiche
beziehen.
Datenquellen
In Abhängigkeit von den zu beantwortenden Fragestellungen (Kapitel 2) stehen
in Deutschland verschiedene Datenquellen zur Verfügung. Die Datenquellen
sind teilweise öffentlich zugänglich oder können in
Absprache mit den Datenhaltern für spezifische Fragestellungen ausgewertet
und mit weiteren Datenquellen abgeglichen oder verbunden werden. Dabei ist aufgrund
der unterschiedlichen Formate der verschiedenen Datenquellen die
Zusammenführung jedoch häufig (noch) schwierig. Neben der Analyse
bereits zur Verfügung stehender Informationen aus unterschiedlichen
Datenquellen kann es geboten und notwendig sein, in den versorgenden Einrichtungen
oder Versorgungssettings Primärdaten prospektiv zu erheben, um eine
Fragestellung zu beantworten.
Grundsätzlich abzugrenzen sind Primärdaten, die zum Zwecke der
Beantwortung einer konkreten Fragstellung durch die Forschenden oder die
Patient:innen (z. B. PREs und PROs) selbst erhoben werden, von
Sekundärdaten, die nicht dem originären Verwendungszweck
entsprechend für die Beantwortung einer neuen Fragestellung genutzt werden.
Tertiärdaten wiederum sind Daten, die nur auf aggregiertem Niveau
(z. B. auf Einrichtungen, auf geographische oder andere administrative
Einheiten bezogen) zur Verfügung stehen.
Mögliche Datenquellen für die sekundäre und tertiäre
Datenauswertung (Auswahl) sind:
-
Routinedaten der gesetzlichen Kranken-, Pflege-, Renten- und
Unfallversicherung: Daten, die im Verlauf der Anspruchsprüfung bzw.
Leistungserbringung anfallen und durch die Behandelnden dokumentiert werden.
Bei Krankenkassendaten gehören dazu Daten aus den verschiedenen
Hauptleistungsbereichen wie ambulante Versorgung mit Arzneimitteln und Heil-
und Hilfsmitteln, ambulante (zahn-)ärztliche Versorgung,
Krankenhausversorgung (Diagnosen, Prozeduren),
Arbeitsunfähigkeitsdaten sowie Stammdaten.
-
InEK DatenBrowser: Recherche in anonymisierten Krankenhaus-Falldaten aus den
Datenlieferungen gemäß § 21 KHEntgG,
zugänglich gemacht je nach Erforderlichkeit für die
jeweilige spezifische Forschungsfrage unter Beachtung der Datensparsamkeit
(https://www.g-drg.de/Datenlieferung_gem._21_KHEntgG/InEK_DatenBrowser).
-
Daten der vertragsärztlichen Versorgung, die bei unterschiedlichen
Institutionen vorliegen (u. a. Daten des Zentralinstituts
für die kassenärztliche Versorgung, der
Disease-Management-Programme, Daten der ambulant-ärztlichen
Versorgung bei den einzelnen kassenärztlichen Vereinigungen).
-
Externe stationäre Qualitätssicherung: Datensätze,
die von den Krankenhäusern verpflichtend für verschiedene
Leistungsbereiche an das IQTIG gemeldet werden, um einen bundesweiten
Vergleich der Behandlung zu ermöglichen. Allerdings stehen diese
Daten für die Versorgungsforschung nur indirekt zur
Verfügung, denn ihre Auswertung muss durch die forschende
Institution beim IQTIG beauftragt werden.
-
Onkologischer Basisdatensatz des Krebsfrüherkennungs- und
Registergesetzes § 65c SGB V: Verpflichtende Meldung aller
Diagnose-, Therapie- und Nachsorge-relevanten Befunde durch onkologisch
Tätige an die durch alle Bundesländer eingerichteten
Krebsregister.
-
Qualitätsindikatoren des Leitlinienprogramms Onkologie: Daten der
Behandlungseinrichtungen für die evidenzbasierten onkologischen
Qualitätsindikatoren, die über die Krebsregister und
zertifizierten Zentren zur Verfügung stehen
-
Datensätze der zertifizierten Zentren in der Onkologie: Daten, die
zum Zwecke der Zertifizierung durch die Behandlungseinrichtungen
dokumentiert werden (u. a. Mindestmengen, Art und Ergebnisse der
Behandlungen).
-
Tertiärdaten, also Datensätze, die nur in aufbereiteter Form
und nicht mehr im Original verfügbar sind, aber für
Versorgungsanalysen hilfreich sein können. Dazu zählen die
Qualitätsberichte der Krankenhäuser nach §136 b
(Abs. 1, Satz 1, Nr. 5) SGB V, der INKAR-Datensatz (Indikatoren und Karten
zur Raum- und Stadtentwicklung) des Bundesinstituts für Bau-, Stadt-
und Raumforschung (BBSR) oder Daten des Statistischen Bundesamts,
insbesondere zu Diagnose- und Behandlungsdaten der
Krankenhauspatient:innen.
Methodische Anforderungen
Um zu wissenschaftlich fundierten Erkenntnissen zu kommen, sind auch bei Studien mit
versorgungsnahen Daten zur Versorgungsanalyse methodische Regeln und Vorgehensweisen
einzuhalten.
Fragestellung einer Versorgungsanalyse
Die Fragestellung soll möglichst präzise formuliert und die
geplante Vorgehensweise (z. B. quantitativ und/oder qualitativ)
prospektiv festgelegt werden. Bei quantitativen Verfahren ist festzulegen, zu
welchem Aspekt der Fragestellung welche Zielgröße gemessen
werden soll und wie Ergebnisse zu bewerten sind, um prospektiv formulierte
Hypothesen einem Falsifikationsversuch unterziehen zu können.
Planung
Das Studiendesign muss unter Berücksichtigung der Erfordernisse der
Fragestellung und der Machbarkeit angemessen ausgewählt werden. In einem
Studienprotokoll wird vorab u. a. detailliert festgelegt, welche
Determinanten oder welche Versorgungsvariationen untersucht werden sollen, um
deren Auswirkungen auf die Versorgungsergebnisse ermitteln zu können.
Die dazu angewandte Methodik ist prospektiv festzulegen. Studienprotokolle
sollten in der Regel vor Beginn der Studie an übergeordneter Stelle
registriert und damit auch veröffentlicht werden. In einigen
Versorgungsanalysen geht es spezifisch um die Auswirkungen vorgefundener
Versorgungsvarianz auf die Ergebnisqualität. Damit können
handlungsrelevante Wirkzusammenhänge sichtbar und nachvollziehbar
werden. Dies spielt z. B. eine Rolle bei der Analyse von Anreizsystemen.
Dazu bedarf es einer ebenso genauen Definition des Ziels, also was z. B.
als „gute Qualität“ definiert wird. Einrichtungsbezogene
Analysen müssen stets den Fallmix pro Einrichtung
berücksichtigen. Fallbezogene Analysen sollten ggf. nicht nur die
fallbezogenen Unterschiede (Alter, Geschlecht, Risikofaktoren), sondern auch die
Varianz der Versorgungskompetenz bei den Einrichtungen adressieren.
Daten
Es können Primär-, Sekundär- und Tertiärdaten
genutzt werden. Die Daten müssen sich für die beabsichtigte
Fragestellung hinsichtlich ihrer Validität, Vollständigkeit,
Vollzähligkeit, Reliabilität, Plausibilität und
Granularität eignen. Sie müssen eine adäquate Abbildung
relevanter Einflüsse, möglicher Confounder temporaler und ggf.
geographischer Zusammenhänge ermöglichen. Dazu zählen
ebenfalls Berichte von Patient:innen über ihre Erfahrungen mit der
Gesundheitsversorgung (PREs) und die von ihnen erlebten Behandlungsergebnisse
(PROs). Die datenschutzrechtliche Zulässigkeit und regelkonforme
Durchführung der Nutzung muss auch bei Zusammenführung von
Versorgungsdaten gewährleistet sein.
Auswertung
Für Auswertungen, die nicht nur beschreiben, sondern die die erzielten
Messergebnisse auch bewerten wollen, sei es im Vergleich verschiedener
Grundgesamtheiten (z. B. behandelte Patient:innengruppen,
Inanspruchnahme von Versorgung, Versorgungsformen) oder anhand eines bereits
vorgegebenen Maßstabs, ist es erforderlich, beeinflussende Faktoren in
einer angemessenen Adjustierung zu berücksichtigen. Nicht nur die
berücksichtigten Einflussfaktoren, sondern auch die Güte der
Adjustierung sind darzustellen. Bei Vergleichen von Versorgungsstrukturen sind
Risikofaktoren und ggfs. Versorgungslevel zu berücksichtigen
(z. B. durch Multi-Level-Analysen).
Interpretation und Bewertung
Die Ergebnisse sind unter Berücksichtigung von Systemeinflüssen
auf die Versorgung (z. B. Regionalität, ökonomische
Faktoren, Systemstrukturen, Systemqualität, Steuerintentionen der
Gesundheitsakteure), von Confoundern und der Stichprobengröße
orientiert an prospektiv festzulegenden Kriterien zu interpretieren. Bei der
Interpretation muss der explorative oder konfirmatorische Charakter der Analyse
entsprechend berücksichtigt werden.
Publikation
Verfügbarkeit, Verständlichkeit und Vergleichbarkeit sind hier
die Maßstäbe für Publikationen, die auch nationale und
internationale Standards zum Vergleich heranziehen sollten. In der Regel sollten
die Ergebnisse in Publikationsmedien mit Peer-Review veröffentlicht
werden, wozu es auch eine ethische Verpflichtung gibt [1]. Dabei kann auf geeignete
Publikationsstandards zurückgegriffen werden, z. B. STROSA [2].
Nutzen für die Versorgung
Versorgungsnahe Erkenntnisse sind hinsichtlich ihrer Übertragbarkeit auf
die flächendeckende Versorgung unter Berücksichtigung der
Machbarkeit, der Akzeptanz und der Sicherstellung differenzierter
Versorgungsangebote zu prüfen. Die Implementierung von Ergebnissen soll
unter Berücksichtigung der Durchdringungsmechanismen von Innovationen
und der Durchsetzung von (neuen) Versorgungsstandards praxisnah geplant
werden.
Anwendungsbereiche und Beispiele
Die folgenden exemplarischen Anwendungen von Analysen mit versorgungsnahen Daten
verdeutlichen, dass eine Reihe von Fragestellungen zur Weiterentwicklung der
Gesundheitsversorgung nicht mithilfe von experimentellen Studien, sondern nur auf
der Basis von Analysen versorgungsnaher Daten beantwortet werden können.
Kapazitätsanalysen
Fragestellung des Beispiels:
Wer impft die
Bevölkerung?
Ziel:
Kapazitätsplanung auf der Basis von
Kenntnissen zur aktuellen Gesundheitsversorgung.
Prinzipielle Fragestellung:
Welche Kapazitäten
stehen für bestimmte Versorgungsziele zur Verfügung?
Müssen andere Versorgungsformen entwickelt werden, weil die
vorhandenen Kapazitäten nicht ausreichen?
Beispiel:
Es ist das Ziel, schnell eine hohe
Durchimpfungsrate der Bevölkerung im Rahmen von Pandemien
impfpräventabler Erkrankungen zu erreichen. Wenn dieses nicht
alleine durch Impfzentren erfolgen soll, dann stellen sich die folgenden
Fragen: Welche Arztgruppen beteiligen sich tatsächlich an den
Impfungen? Wie hoch sind deren Impfkapazitäten? Müssen
alternative Impfmöglichkeiten geschaffen werden? Das Zentralinstitut
für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland (ZI) hat
zu dieser Thematik Meldungen der Praxen an die Kassenärztliche
Bundesvereinigung (KBV) ausgewertet [3]. Die Analysen ergaben, dass zwar weniger als die
Hälfte aller Praxen impften, dass aber 94,6% der
Hausärzt:innen solche Impfungen durchführten und dass
76,9% aller Praxis-basierten Impfungen durch diese
Hausärzt:innen erfolgten. Deren Kapazitäten sollten daher
bei Planungen gezielt adressiert und ggf. gefördert werden, wenn sie
entweder in Ergänzung zu Impfzentren oder künftig als deren
Alternative in Pandemiezeiten bevölkerungsweite Impfungen
durchführen sollen. Zu ergänzen ist, dass bis zum 3.10.2021
40.9% aller COVID-19 Impfungen im niedergelassenen Bereich
erfolgten.
Outputanalysen
Fragestellung des Beispiels:
Bei welchen Leistungen
besteht eine Unterversorgung?
Ziel:
Allen Patient:innen eine angemessene Versorgung
bieten.
Prinzipielle Fragestellung:
Welche evidenzbasierten
diagnostischen und therapeutischen Verfahren erhalten Patient:innen bzw.
bestimmte Gruppen nicht im angemessenen Umfang?
Beispiel:
Analysen des Registers der
Arbeitsgemeinschaft Leitender kardiologischer Krankenhausärzte
(ALKK) zur Versorgung von Patient:innen mit Drug Eluting Stents (DES) bei
koronarer Herzerkrankung ergaben, dass Frauen im Vergleich zu
Männern seltener mit DES versorgt werden, obwohl sogar öfter
Indikationen vorlagen; damit liegen Hinweise auf eine Unterversorgung vor
[4].
Manchmal gibt bereits das Aufzeigen von Versorgungsunterschieden direkte
Hinweise auf Versorgungsmängel. Oft ist es aber auch erforderlich,
Ursachenanalysen hierfür durchzuführen, um gezielte
Verbesserungsmaßnahmen einleiten zu können.
Alert-Verfahren
Fragestellung des Beispiels:
Wie sicher sind bestimmte
Versorgungsformen?
Ziel:
Drohende Gefährdungen von Patient:innen
bei risikobehafteten Versorgungs-formen frühzeitig erkennen und
abwenden (Patient:innensicherheit).
Prinzipielle Fragestellung:
Durch ein
flächendeckendes Monitoring sollen frühzeitig Warnhinweise
generiert werden, wenn bei einem Behandlungsverfahren vermehrt schwere
adverse Ereignisse auftreten. Die ersten Fälle können
erfahrungsgemäß von den Leistungserbringern noch nicht klar
zugeordnet und hinsichtlich ihrer Tragweite korrekt eingeschätzt
werden. Erst die übergreifende Analyse macht sichtbar, dass es sich
nicht um Einzelfälle handelt, sondern um ein sich anbahnendes
flächendeckendes Qualitätsproblem. Es ist oft keine
Vollzähligkeit der Erfassung erforderlich, da bei einer bundesweiten
Erfassung schon eine geringe Anzahl von einzelnen Störfällen
(z. B. Frühkomplikationen) ausreicht, um statistische
Signifikanz zu erreichen, sodass gezielte, fokussierte Analysen zu den
Ursachen der vermehrt auftretenden adversen Ereignisse eingeleitet werden
können.
Beispiel:
EPRD (Deutsches Endoprothesenregister):
Erfasst werden alle Patient:innen mit Knie- oder Hüftimplantat sowie
Implantat-assoziierte unerwünschte Ereignisse in einem
frühen Zeitfenster (z. B. mechanisches Versagen,
Implantatlockerung, Bruch, Wechselerfordernis) [5]. Ab einer gewissen Häufung
der Komplikationen werden frühzeitige Analysen und ggf.
Schutzmaßnahmen getriggert. Bei Gefährdung erfolgt eine
Klärung über das BfArM und evtl. der Stopp des weiteren
Einsatzes, ggf. eine Rückrufaktion und/oder
Überwachung der bereits behandelten Patient:innen.
Innovationsbegleitung
Fragestellung des Beispiels:
Wie können
Innovationen bei ihrer Umsetzung in der Versorgungsroutine kontinuierlich
verbessert werden?
Ziel:
Nutzen der Erkenntnisse der Routineversorgung
bei der Einführung einer Innovation.
Prinzipielle Fragestellung:
Werden innovative
Verfahren mit der richtigen Indikationsstellung eingesetzt?
Beispiel:
Aortenklappenregister: Im Rahmen der
Einführung des kathetergestützten Klappenersatzes
gegenüber dem klassischen, operativen Verfahren haben die
Fachgesellschaften von Kardiologen und Herzchirurgen das
Aortenklappenregister aufgebaut. Dieses soll die Indikationsstellung und die
medizinischen Ergebnisse der Therapieoptionen erfassen und so eine
kontinuierliche Verbesserung der Versorgung von Patient:innen
ermöglichen. Dabei werden insbesondere die Risikoeinstufung von
Patient:innen, das Therapieverfahren und die Lebensqualität vor der
Operation erfasst. Es folgen Telefoninterviews mit den Patient:innen nach
einem und drei Jahren nach Operation mit Erfassung des Vitalstatus und der
Lebensqualität im Verlauf. Anhand der Registerergebnisse konnten die
Indikationsstellung und die Wahl des geeignetsten Klappenersatzverfahrens
weiterentwickelt werden, während gleichzeitig auch die Klappen
selbst technisch weiter verbessert wurden. Aus den Ergebnissen der
Auswertungen des Aortenklappenregisters konnten Qualitätsstandards
für die Versorgung von Patient:innen mit Aortenklappenersatz
entwickelt werden, die auch Anstoß für Regelungen des G-BA
gegeben haben (MHI-RL) [6]
[7].
Entwicklung von Steuerungsinstrumenten
Fragestellung des Beispiels:
Wie soll Versorgung
künftig gesteuert werden?
Ziel:
Nutzung von Registerdaten zur Entwicklung von
Steuerungsinstrumenten im Gesundheitswesen.
Prinzipielle Fragestellung:
Von wem werden die
gesundheitsbezogenen Leistungen auf welche Weise erbracht, welche Effekte
ergeben sich und was muss geändert werden, damit die Versorgung
weiter verbessert werden kann? Es geht um die Ableitung von
Wirkzusammenhängen aus spezifischen Register- oder Routinedaten zur
Entwicklung von Steuerungsinstrumenten im Gesundheitswesen, z. B.
zur Allokation oder Indikationsstellung.
Beispiel Transplantationsregister:
Ein wichtiges
Instrument in der Transplantationsmedizin ist die gewichtete Warteliste,
nach der in Deutschland derzeit Organe primär nach Dringlichkeit zur
Transplantation alloziert werden. Seit längerem besteht das
Anliegen, diese Warteliste weiterzuentwickeln, um ggf. Aspekte wie die
erwartete Organlebensdauer zu berücksichtigen und somit die wenigen
verfügbaren Spenderorgane mit möglichst hohem Gesamtnutzen
zu allozieren – bei gleichzeitiger Achtung der ethischen
Erfordernisse gegenüber den betroffenen Einzelpersonen. Für
diese Weiterentwicklung wurde mit dem Transplantationsregister erstmals die
Möglichkeit geschaffen, medizinische Daten von Spenderorganen und
Spendern mit denen von Empfängern und deren weitere
Behandlungsgeschichte datenschutzkonform zusammenzubringen. Es ist zu
prüfen, welche Spender-Empfänger-Konstellationen mit
längeren Organlebensdauern verbunden sind, um ggf. datenbasiert die
Kriterien der Warteliste und der Organallokation weiterentwickeln zu
können. Aufgrund der geringen Fallzahlen bei einigen Organen wird
eine hohe Vollzähligkeit angestrebt.
Evaluation
Fragestellung des Beispiels:
Welche Effekte zeigen
Behandlungsverfahren in der Routine?
Ziel:
Evaluation kurz- und langfristiger Effekte der
Anwendung diagnostischer und therapeutischer Verfahren in der
Routineversorgung. Ableitung neuen Wissens aus der Routine.
Prinzipielle Fragestellung:
Erbringen diagnostische
und therapeutische Verfahren in der Routineversorgung die gleichen Effekte
wie sie in experimentellen oder klinischen Studien belegt wurden? Welche
Determinanten sind für eventuell geringere (oder stärkere)
Effekte aber auch Nebenwirkungen verantwortlich? Welche neuen Erkenntnisse
für die Weiterentwicklung von Behandlungen lassen sich aus den
Analysen versorgungsnaher Daten ableiten?
Beispiel:
Weiterentwicklung von Versorgungsleitlinien
auf der Basis klinischer Krebsregisterdaten: Die Arbeitsgemeinschaft
Deutscher Tumorzentren (ADT) nutzt die Daten des onkologischen
Basisdatensatzes (oBDS) der Klinischen Landeskrebsregister, um offene Fragen
zu Empfehlungen von Leitliniengruppen mit Versorgungsdaten zu beantworten.
Solche Fragen betreffen u. a. Empfehlungen, für die
Studienevidenz fehlt. Eine Arbeitsgruppe aus Forschenden, Klinikern und
Vertreter:innen der Krebsregister operationalisiert die offenen Fragen,
erstellt Auswertungen und stellt diese den Leitliniengruppen zur
Verfügung [8].
Monitoring und Implementierung neuer Versorgungsformen
Fragestellung des Beispiels:
Wie können
versorgungsnahe Daten (VeDa) die Umsetzung neuer Versorgungsformen
unterstützen?
Ziel:
Begleitendes Feedback an die Akteure neuer
Versorgungsformen anhand der dabei dokumentierten Daten im Sinne eines
lernenden Systems.
Prinzipielle Fragestellung:
Wird eine neue
Versorgungsform so in der Praxis umgesetzt, wie sie geplant war (wer, was,
wie) und erreicht sie dabei die angestrebten Ziele und Effekte? Aus welchen
Gründen werden bestimmte Ziele sehr gut erreicht, andere verfehlt
(warum)? Versorgungsnahe Daten ermöglichen die Analyse neuer
Versorgungsformen z. B. in Bezug auf ihre Patient:innenzentrierung,
Vernetzungsgrad der Versorgung und Verbesserung der
Versorgungsqualität.
Beispiel:
Neue Versorgungsformen, wie z. B.
die Disease Management Programme, sollen die Qualität und die
Koordination der Versorgung für definierte Patient:innengruppen
verbessern. Im Rahmen der Programme werden quartalsweise Daten zu den
eingeschriebenen Patient:innen dokumentiert. DMP Daten weisen die
Besonderheit auf, dass medizinische Primärdaten, wie Blutzucker oder
Blutdruck, enthalten sind und über einen langen Zeitraum
systematisch erfasst werden. Die Daten werden zur Qualitätssicherung
der Programme genutzt. Auf der Basis der verpflichtenden, quartalsweisen
Routinedokumentation werden z. B. Qualitätsberichte erstellt
und veröffentlicht sowie Feedbackberichte und Benchmarkberichte an
die teilnehmenden Ärzt:innen geschickt. Es findet eine
Risikoadjustierung statt. Dabei kann die Zielerreichung der nationalen
Versorgungsziele sowie Prozess- und Ergebnisqualität bestimmt
werden. Zusätzlich können Kohortenstudien mit einer hohen
Fallzahl durchgeführt werden.
Ein solches Projekt ist der Qualitätsbericht Disease Management
Programme Nordrhein. Erstellt vom ZI bzw. der Nordrheinischen Gemeinsamen
Einrichtung Disease-Management-Programme GbR gibt er einen Überblick
über Hintergrund, eingeschriebene Patient:innen,
Versorgungsqualität und weitere Themen wie z. B. Schulungen,
Komplikationen und medikamentöse Verordnungen für alle
bestehenden Disease Management Programme in Nordrhein. Ausgewertet wurden
für 2019 die Daten von rund 935.000 eingeschriebenen
Patient:innen[1].
Monitoring regionaler und überregionaler
Systemqualität
Fragestellung des Beispiels:
Wie kann mit VeDa die
Systemqualität regelmäßig überprüft
werden?
Ziel:
Umfassende Darstellung der regionalen
Versorgungsqualität für bestimmte Versorgungsbereiche zur
Unterstützung der Sicherstellung einer flächendeckend guten
Versorgungsqualität.
Prinzipielle Fragestellung:
Wie und durch welche
Versorgenden werden in einem regionalen oder überregionalen Umfeld
Patient:innen mit gesundheitsbezogenen Leistungen versorgt? Welche
Versorgungsqualität erzielt ein solches Versorgungsnetz für
die Menschen einer Region und wie kann es weiterentwickelt und verbessert
werden?
Beispiel:
Bislang bezieht sich die externe
Qualitätssicherung primär auf die einzelnen
Leistungserbringer und ihre Vergleiche untereinander. Künftig wird
aber die Gesundheitspolitik insbesondere auf Landesebene die
Systemqualität der regionalen Versorgung insgesamt adressieren
müssen. Im Rahmen des Ausbaus der Telematikinfrastruktur und der
Möglichkeit, spezifische Registermodule zu integrieren, werden
Register ein Instrument sein, um regionale Versorgung bei bestimmten
Erkrankungen in ihrem Vollzug abzubilden, Wirkzusammenhänge
darzustellen und die Umsetzung spezifischer Maßnahmen und ggf.
Handlungsoptionen aufzuzeigen. Dabei wird es auch erforderlich sein,
Bereiche wie stationäre und ambulante Pflegeeinrichtungen und
Rehabilitationsmaßnahmen einzubeziehen. Die Registermethodik wird
spezifisch weiterentwickelt werden müssen, damit sie das leisten
kann, was für die Abbildung und gezielte Gestaltung einer
umfassenden regionalen Gesundheitsversorgung erforderlich ist.
Literaturempfehlung
zum Umgang, Auswertung, Interpretation & Limitationen von Primär-,
Sekundär- und Tertiärdaten:
Gothe, H; Swart, E; Ihle, P. (2020) Datennutzung im Gesundheitswesen aus Sicht der
Versorgungsforschung. GGW 2020; 20: 7–13. Im Internet: Ausgabe 3/2020
| GGW – Gesundheit+Gesellschaft Wissenschaft | WIdO
– Wissenschaftliches Institut der AOK [Überblick über
Routinedaten & deren Limitationen]
Swart E, Gothe H, Geyer S et al. Gute Praxis Sekundärdatenanalyse (GPS):
Leitlinien und Empfehlungen. Gesundheitswesen 2015; 77: 120–126.
https://doi.org/10.1055/s-0034–1396815
[Leitlinie 6 „Datenaufbereitung“ und Leitlinie 7
„Datenanalyse“]
Glaeske G, Augustin M, Abholz H et al. Epidemiologische Methoden für die
Versorgungsforschung. Gesundheitswesen 2009; 71: 685–693.
https://doi.org/10.1055/s-0029–1239517
[Methodische Kriterien der Versorgungsforschung, einschließlich der Vor- und
Nachteilen der Datentypen]