Schlüsselwörter
Altersbedingter Hörverlust - Presbyakusis - zentrale Hörstörung - Neurokognitive Störung - milde kognitive Beeinträchtigung - Alzheimer-Krankheit - Parkinson Syndrom - Hörrehabilitation
1. Einleitung
Erfolgreiche Kommunikation in komplexen Hörsituationen erfordert nicht nur
das Detektieren des Zielsignal und die Zerlegung des Szenarios in verschiedene
Schallquellen. Der Zuhörer muss auch verfolgen, wer spricht, die Bedeutung
der Äußerung erfassen, abspeichern, mit bereits vorhandenem Wissen
abgleichen, irrelevante Störsignale unterdrücken, parallel die
eigene Antwort formulieren und zum richtigen Zeitpunkt ausführen.
Längere Gespräche in Gruppen erfordern die Integration von neuer
Information mit bereits geäußerten Inhalten jedes einzelnen
Sprechers während immer wieder die Aufmerksamkeit zwischen den beteiligten
Personen wechselt.
Das heißt, um die in gesprochener Sprache enthaltene Information zu erfassen
und zu nutzen, ist ein flüssig und zügig funktionierendes
integratives System von wahrnehmungs- und kognitiven Prozessen erforderlich. Sowohl
das auditorische als auch kognitive System unterliegen dabei typischen
Alterungsprozessen, zusätzlich wächst mit zunehmendem Lebensalter
die Häufigkeit neurodegenerativer Erkrankungen, mit zum Teil erheblichem
Einfluss auf die Kommunikationsfähigkeit. In den letzten Jahren sind
Hörstörungen als potentiell modifizierbarer Risikofaktor für
neurokognitive Beeinträchtigungen der alternden Gesellschaft zunehmend in
den Fokus wissenschaftlicher Arbeiten gerückt. Im Rahmen dieses Referates
sollen Hypothesen zum Kausalzusammenhang ebenso vorgestellt werden, wie die
spezifischen auditorischen Beeinträchtigungen im Rahmen der
häufigsten neurodegenerativen bzw. neurokognitiven Störungen des
älteren Menschen, sowie der Effekt der Hörrehabilitation.
2. Kognition und Sprachverstehen
2. Kognition und Sprachverstehen
2.1 Definition und Domänen
Kognition (engl. cognition, lat. cognoscere –
(wieder-)erkennen, erfahren, wahrnehmen) ist ein Sammelbegriff sowohl
für Prozesse der Aufnahme, Verarbeitung, Speicherung und Abruf von
Information als auch deren Ergebnisse (Wissen, Einstellungen,
Überzeugungen, Erwartungen). Wobei diese sowohl bewusst, wie
z. B. beim Lösen von Aufgaben, als auch unbewusst, z. B.
bei der Meinungsbildung [1] ablaufen
können. Menschliche kognitive Fähigkeiten umfassen unter anderem
Prozesse der Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Lernen und Gedächtnis, Denken,
aber auch Erkennen von Emotionen und Kontrolle des eigenen Verhaltens. Die
Fähigkeit, diese Kompetenzen zu nutzen, um Probleme zu lösen,
sich an neue Situationen anzupassen und effektiv mit der Umwelt zu interagieren,
wird in der Psychologie als „Intelligenz“ (lat. intelligentia
– Erkennungsvermögen, Verstand) bezeichnet.
Während in dem Intelligenzmodell von Cattell nur zwischen fluider
Intelligenz (angeborene, erfahrungsunabhängige Fähigkeit zum
Schlussfolgern und Problemlösen) und kristalliner Intelligenz
(überwiegend kulturabhängige Fähigkeit, erworbenes
Wissen anzuwenden) unterschieden wurde, gilt heutzutage das Cattell-Horn-Carroll
(CHC-)Modell als dasjenige, welches die Struktur der Intelligenz am
umfassendsten umschreibt [2]. Es
inkludiert 16 Faktoren aus den Bereichen erworbenes Wissen,
Denkfähigkeit, Verarbeitungsgeschwindigkeit, Gedächtnis,
Sensorische Verarbeitung, Psychomotorik und Kinästhetik und dient als
Grundlage für die weitverbreitetsten Intelligenztests.
Für die Diagnostik von neurokognitiven Störungen wurden im
„Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen
– DSM-5“ [3] 6 kognitive
Domänen definiert, auf denen die Diagnosekriterien basieren und die im
Rahmen standardisierter neuropsychologischer Testungen erfasst werden
können ([Tab. 1]).
Tab. 1 Kognitive Domänen für die
Diagnostik neurokognitiver Störungen im DSM-5 [3].
Kognitive Domäne
|
Unterdomänen
|
Komplexe Aufmerksamkeit
|
Daueraufmerksamkeit
|
Geteilte Aufmerksamkeit
|
Selektive Aufmerksamkeit
|
Verarbeitungsgeschwindigkeit
|
Exekutivfunktionen
|
Planen
|
Entscheidungen treffen
|
Arbeitsgedächtnis
|
Verwerten von Feedback/Fehlerkorrektur
|
Handeln entgegen der Gewohnheit/Verhaltenshemmung
|
Mentale Flexibilität
|
Lernen und Gedächtnis
|
Unmittelbares Gedächtnis*
|
Kurzzeitgedächtnis (einschließlich freier
Abruf, Abruf mit Hinweisreizen und Wiedererkennen)
|
Ultralangzeitgedächtnis (semantisch und
autobiografisch)
|
Implizites (prozedurales) Lernen
|
Sprache
|
Sprachproduktion (inkl. Benennen, Wortfindung,
Wortflüssigkeit, Grammatik und Syntax)
|
Sprachverständnis
|
Perzeptiv-Motorisch
|
Visuo-Perzeption
|
Visuo-Konstruktion
|
Perzeptiv-Motorisch
|
Praxis
|
Gnosis
|
Soziale Kognition
|
Erkennen von Emotionen
|
Theory of Mind (Fähigkeit, die Befindlichkeit oder
das Erleben einer anderen Person zu beachten)
|
*wird teilweise unter Arbeitsgedächtnis gefasst.
2.2 Normales kognitives Altern
Kognitive Prozesse sind in unterschiedlichem Ausmaß chronologischen
Alterungsprozessen unterworfen und in hohem Maße mit dem Verlust von
Alltagsfunktionen, Beginn von Demenz und allgemeiner Mortalität
assoziiert [4]
[5]. Es gilt als etabliert, dass basale,
wissensunabhängige „fluide“ Funktionen dabei einen
stärkeren Altersabbau zeigen, als lebenslang erworbenes,
„kristallines“ Wissen, welches bis ins hohe Lebensalter noch
Zuwachs zeigen kann [6]. Die intelligente
Gesamtleistungsfähigkeit wird als Ergebnis von Funktions- bzw.
Wissensaufbau, -verlust und Kompensationsmechanismen gesehen. D.h. mit
zunehmendem Verlust fluider Fähigkeiten werden zur
Aufgabenbewältigung mehr und mehr etablierte, automatisierte kristalline
Prozesse herangezogen, um die kognitive Leistungsfähigkeit
aufrechtzuerhalten [6]
[7]. Gegenstand der Forschung ist weiterhin,
inwiefern durch Training dem Funktionsverlust entgegengewirkt werden kann und
welchen Stellenwert dabei die einzelnen kognitiven Domänen haben. In
einer großen Querschnittsuntersuchung von 48537 Versuchspersonen sowie
Auswertung von Normwerten standardisierter IQ- und Gedächtnistests
konnten Hartsthorne und Germine zeigen, dass größere
Heterogenität bezüglich des Zeitpunkts der maximalen
Funktionsfähigkeit zwischen den einzelnen Domänen besteht, als
bisher angenommen [8]:
Kurzzeitgedächtnis und Verarbeitungsgeschwindigkeit erreichen
Maximalwerte bereits im Teenageralter, das Arbeitsgedächtnis erst im
jungen Erwachsenenalter mit Beginn des Abbaus in den 30er Jahren.
Spitzenleistungen in z. B. Wortschatz und Emotionserkennung werden
hingegen erst im mittleren Lebensalter erreicht und über eine deutlich
längere, mehrjährige Periode aufrechterhalten. Als
Erklärung für individuelle Leistungsunterschiede müssen
neben diesen domänen- und funktionsspezifischen Veränderungen
aber auch unspezifische Alterseffekte, wie z. B. eine generelle
Verlangsamung bedacht werden. Neuere Langzeitstudien weisen darauf hin, dass ca.
30–50% der individuellen Unterschiede im Altersverlauf auf einen
„Generalfaktor“ zurückzuführen sind [9]. Neben im Vergleich zu jüngeren
deutlich reduzierter allgemeiner Verarbeitungsgeschwindigkeit sowie
Arbeitsgedächtnis kommt es im höheren Lebensalter vor allem zu
Verlusten von Exekutivfunktionen sowie episodischem Gedächtnis [10]
[11]. Morphologisch werden Veränderungen im mittleren
Temporallappen (episodisches Gedächtnis) sowie dem
präfrontalen/striatalen System (Exekutivfunktionen) gesehen
[12]. Neurodegenerative Erkrankungen
wie z. B. die Alzheimer-Demenz oder das Parkinsonsyndrom betreffen diese
Areale in unterschiedlichem Ausmaß und führen zu spezifischen
Funktionsdefiziten.
2.3 Kognitive Reserve
Menschen im gleichen Alter mit ähnlichen zentralen Veränderungen
z. B. i.R. einer neurodegenerativen Erkrankung aber auch normaler
Alterungsprozesse können dennoch stark in ihrer klinischen Symptomatik
als auch kognitiven Leistungsfähigkeit variieren. Um diese Beobachtung
zu erklären, wurde der Begriff der kognitiven Reserve eingeführt
[13]. Gemeint ist die
Fähigkeit, durch Verwendung alternativer neuronaler Netzwerke neu
aufgetretene Schädigungen auszugleichen und bestehende Funktionen
aufrecht zu erhalten [14]. Dabei spielen
sowohl angeborene als auch erworbene bzw. Umweltfaktoren (z. B.
Intelligenz, Bildungsniveau, körperliche Betätigung, freizeit-
und soziale Aktivitäten) eine Rolle. Unterschiede in der kognitiven
Reserve werden auch als Erklärung für die individuelle
Betroffenheit von sensorischer Beeinträchtigung (z. B.
Hörstörung) im höheren Lebensalter angeführt
[15].
2.4 Informationsverarbeitungsmodell und Kognitive Konzepte im Zusammenhang
mit Hören und Sprachverstehen
Lautsprachliche Kommunikation lässt sich aus kognitionspsychologischer
Sicht als ein Prozess der Informationsverarbeitung begreifen: Der ankommende
Reiz wird vom sensorischen System wahrgenommen, verarbeitet und führt
schließlich zu einer Reaktion ([Abb.
1], adaptiert von [16] ). Dieser
komplexe Verarbeitungsprozess wird einerseits bereits von den Eigenschaften des
eintreffenden Reizes gesteuert (Bottom-Up), andererseits von psychischen
Prozessen (Top-Down) beeinflusst. In dem theoretischen Modell von Wingfield und
Tun [17] ([Abb. 2]) werden die interaktiven Rollen
von peripheren, zentralen, kognitiven und linguistischen Faktoren beim
Hören und Verstehen von Sprache noch einmal genauer
aufgeschlüsselt: In der Peripherie muss das sensorische System die
spektralen und zeitlichen Eigenschaften des Sprachsignals aufnehmen und zur
weiteren Verarbeitung möglichst ungestört an das zentrale
verarbeitende System weitergeben. Im nächsten Abschnitt der zentralen
auditiven Verarbeitung (perzeptives System) werden dann neben spektralen und
zeitlichen Eigenschaften des Sprachsignals (insbesondere Signal-Onset und
-dauer) auch binaurale Informationen enkodiert. Auch die sog.
„Objektformation“, d. h. die Fähigkeit ein
Zielsignal zu erkennen und ihm in Gegenwart von konkurrierenden
Hintergrundgeräuschen- oder Sprechern zu folgen, geschieht auf dieser
Ebene. Es schließen sich die linguistischen Operationen der Lautanalyse
und lexikalischen Erkennung auf Wortebene an. Basierend auf syntaktischem
(Stellung eines Wortes im Satz) und semantischen (Wortbedeutung) Vorwissen
werden Sätze erfasst. Der Abgleich mit kontextueller Information
(Sprecher, Situation, Objekt, Zeit usw.) ermöglicht schließlich
das Äußerungsverstehen innerhalb der Konversation [18]. Die einzelnen Verarbeitungsschritte
werden dabei von kognitiven Fähigkeiten bzw. Prozessen wie z. B.
Gedächtnisleistungen (Vorwissen, Arbeitsgedächtnis) und
allgemeine Verarbeitungsgeschwindigkeit, Aufmerksamkeit und Exekutivfunktionen
(Top-Down) beeinflusst. Gleichzeitig bestimmen die Eigenschaften des Reizes
(z. B. Sprechtempo, Akzent, Art und Anzahl von
Störgeräuschen, Hall…) die nachfolgenden
Verarbeitungsprozesse (Bottom-Up). Auditive und kognitive Prozesse sind so eng
miteinander verwoben, dass eine scharfe Trennung von
„peripheren“ und „zentralen“
Hörfunktionen die Komplexität der Sprachverarbeitung nicht
ausreichend erfasst [19]. Die typische
Beschwerde des älteren Menschen – zu hören, aber
schlecht zu verstehen – ist lediglich klinisches Symptom einerseits
normaler altersbedingter Veränderungen in allen Abschnitten dieses
Systems von der Peripherie bis zum Cortex, die darüber hinaus durch
neurodegenerative Erkrankungen zusätzlich beeinträchtigt werden
können.
Abb. 1 Generalisiertes Modell der Bottom-Up und Top-Down
Verarbeitung von auditorischer Information (adaptiert von [16]). Der Reiz wird
zunächst in der Peripherie in neurale Information codiert,
relevante Informationen werden selektiert und im nächsten
Schritt interpretiert. Schließlich folgt die Speicherung im
Gedächtnis, während parallel die Antwort formuliert
wird. Qualität und Inhalt des Reizes beeinflussen die weitere
Verarbeitung (Bottom-Up), bereits extrahierte Information bzw. erfasste
Inhalte können zu Veränderung der Verarbeitung
nachfolgender Reize (Top-Down) führen.
Abb. 2 Informationsverarbeitungsmodell von Wingfield und Tun [17]. Sensorisches, perzeptives und
kognitives System greifen bei der Verarbeitung der auditorischen
Information ineinander. Das gemischte Eingangssignal muss
zunächst in relevante (Zielsignal) und irrelevante Information
(Störsignal) zerlegt werden. Der Aufmerksamkeitsfilter bestimmt,
in welchem Umfang die einzelnen Signalanteile weiter verarbeitet werden.
Über mehrere Zwischenschritte wird zunächst die
Worterkennung erreicht, nach weiteren linguistischen Operationen
schließlich die Äußerungserkennung. Der
Informationsverarbeitungsprozess kann auf allen Ebenen von sowohl
kognitiven als auch akustischen Faktoren beeinflusst werden.
3. Altersbedingter Hörverlust
3. Altersbedingter Hörverlust
3.1 Prävalenz und Sozioökonomische Folgen
2019 waren laut WHO etwa 1,5 Milliarden Menschen weltweit von Hörverlust
betroffen [20], bei 430 Millionen (etwa
5,5% der Weltbevölkerung) war der Hörverlust mindestens
mittelgradig. Die WHO erwartet einen Anstieg auf 700 Millionen Menschen mit
versorgungsbedürftigem Hörverlust bis 2050 bei einer
prognostizierten Gesamtzahl von 2,5 Milliarden Betroffenen. Die individuelle
Entwicklung des Hörvermögens im Laufe des Lebens hängt
von verschiedenen protektiven und schädigenden Faktoren ab [21]. Neben genetischen, biologischen und
umweltbezogen Einflüssen spielt auch der individuelle Lebensstil
(Nikotinabusus, Ernährung, Lärmexposition) eine Rolle. Die
altersbedingte Schallempfindungsschwerhörigkeit (Presbyakusis, engl. age
related hearing loss, ARHL) stellt aufgrund der hohen Prävalenz in der
Bevölkerung die größte sozio-ökonomische
Belastung im Laufe eines Lebens dar. Nach aktuellen Schätzungen waren
ca. 42% aller von Hörverlust betroffenen Menschen 2019
mindestens 60 Jahre alt [20]. Mit
zunehmendem Lebensalter steigt der Anteil der versorgungsbedürftigen
Hörverluste exponentiell an (Prävalenz bei 60–69 Jahre
15,4%; mehr als 90 Jahre 58,2%). Die WHO schätzt die
jährlichen durch Hörverlust verursachten Kosten auf rund 980
Milliarden US-Dollar. In den letzten Jahren wurde die
Altersschwerhörigkeit zunehmend als möglicher Risikofaktor
für neurokognitive Störungen identifiziert [22]
[23]
[24]
[25]. Positive Effekt der audiologischen
Rehabilitation mit Hörhilfen für den Verlauf dieser Erkrankungen
[26]
[27]
[28] sowie die
gesundheitsbezogene Lebensqualität [29] werden gesehen. Dennoch werden apparative Hörhilfen in
Europa nur von etwa 33% der etwa 57 Millionen Menschen mit
versorgungsbedürftiger Hörminderung genutzt, obwohl diese
flächendeckend verfügbar sind [20]
[30].
3.2 Altersabhängige Veränderungen des peripher-auditorischen
Systems
Altersabhängige degenerative Prozesse betreffen sowohl die
äußeren und inneren Haarzellen, Stützzellen, Stria
vascularis und Spiralganglienzellen [31]
[32]
[33]
[34]
[35]
[36]. Im Reintonaudiogramm findet sich
typischerweise ein Hochtonhörverlust [36]
[37]
[38]. Für gutachterlicher
Tätigkeiten ist die DIN EN ISO 7029:2017 heranzuziehen, die eine
Abschätzung der Normalhörigkeit für die Altersstufen
20–80+Jahre erlaubt [39]
([Abb. 3]). Die aktuelle 3. Fassung
beruht auf Daten von ohrgesunden Männern und Frauen, die nach 2000
publiziert wurden. Im Vergleich zu den Vorgängerfassungen ist der
mittlerer Hörverlust für alle Altersgruppe geringer, was die
veränderten Lebens- und Arbeitsbedingungen reflektiert.
Abb. 3 Mittlerer Hörschwellenverlauf für
Männer und Frauen der Altersgruppen
20–80+gemäß DIN EN ISO 7029:2017:06
(nach [39]). Dargestellt ist
jeweils die 50. Perzentile der jeweiligen Altersgruppe.
Basierend auf Erfahrungen aus Tiermodellen hinsichtlich der zugrundeliegenden
Ätiologie klassifizierten Dubno et al. [37] audiometrische Phänotypen der
Altersschwerhörigkeit. Dabei spricht ein geringgradiger
Hörverlust bis 1 kHz und eher flach verlaufender
Hochtonhörverlust für eine metabolisch-verursachte Atrophie und
Degeneration der Stria vascularis, während eine zwischen
2–8 kHz steil abfallende Hörschwelle bei normalem
Tieftongehör auf eine sensorische Störung (Haar- oder
Stützzellschädigung) hinweist.
In derselben Studie [37] wurde etwa
11% der Reintonaudiogramme als „older normal“
klassifiziert, mit Hörverlusten von maximal 20 dB HL im
Hochtonbereich. Dennoch berichten Ältere mit normalen Tonaudiogrammen
von Hörschwierigkeiten und Tinnitus[40]
[41]. Für diesen
versteckten Hörverlust (engl. hidden hearing loss, HHL) werden in den
letzten Jahren verschiedene pathophysiologische Mechanismen diskutiert [42]
[43]
[44]: Neben
Störungen der afferenten Synapse der inneren Haarzellen
(cochleäre Synaptopathie, [35]
[42]
[43]
[45]
[46]) wurden auch
Demyelinisierungsprozesse (temporärer Verlust von cochleären
Schwann-Zellen [47] oder i.R.
demyelinisierender Neuropathie [48]) sowie
persistierende Funktionsstörungen der äußeren Haarzellen
[49]
[50] beschrieben. Diese Veränderungen führen zu einer
gestörten Übertragung der zeitlichen und spektralen
Feinstruktur[51], insbesondere von
schnellen Signaländerungen sowie der Signaldauer. Die für eine
präzise Worterkennung notwendigen phonetischen Kontraste nehmen ab, was
sich klinisch in reduziertem Sprachverstehen insbesondere in
geräuschvoller Umgebung äußert, noch bevor
Hochtonhörverluste im Tonaudiogramm nachweisbar sind.
Elektrophysiologisch sind beispielsweise Amplituden-Veränderungen der
Welle I der frühen auditorisch evozierten Potentiale (FAEP, engl.
brainstem evoked response audiometry, BERA bzw. auditory brainstem response,
ABR) bei überschwelliger Stimulation [34]
[46]
[51] oder eine Verändertes
SP/AP-Amplitudenverhältnis in der Elektrocochleografie [52] nachweisbar.
3.3 Altersabhängige Veränderungen des zentral-auditorischen
Systems
3.3. 1 Strukturell-morphologische sowie neurochemische
Veränderungen
Alterungsprozesse betreffen die gesamte zentrale Hörbahn vom Nucleus
cochlearis bis zum auditorischen Cortex (siehe [53]
[54] für eine umfassende Übersicht).
Während der gesamten Lebensspanne ist der menschliche Cortex
Umbauprozessen unterworfen, die dank moderner bildgebender Verfahren wie der
Kernspintomografie sicht- und messbar werden. Die MR-Spektroskopie
ermöglicht darüber hinaus metabolische und neurochemische
Veränderungen zu erfassen. Bei gesunden Erwachsenen kommt es mit
zunehmendem Lebensalter zu einer allgemeinen Hirnvolumenreduktion [55]
[56]
[57]. Nachgewiesen
wurden Volumenänderungen der grauen [58]
[59]
[60] und weißen Substanz [60]
[61]
[62] als auch der
Cortexdicke [58]
[63]. Zu den besonders betroffenen
Regionen gehören Temporallappen und Hippocampus [60]
[64]
[65] sowie der
präfrontale Cortex [59]
[61]
[66]
[67]. Lin et al. [68] konnten zeigen, dass
Schwerhörigkeit den Volumenrückgang sowohl im Gesamtvolumen
als auch im rechten Temporallappen beschleunigt. Weitere Untersuchungen
zeigten über die Altersnorm hinausgehende Reduktionen der grauen
Substanz im Gyrus temporalis superior und medius [69] sowie Gyrus frontalis superior und
medius [69]
[70]
[71], im primären auditorischen cortex [72]
[73] sowie Occipitallappen und Hypothalamus [70]. Diffusionsgewichtete MR-Aufnahmen
zeigten darüber hinaus Veränderungen der Myelinisierung,
Faserdichte und axonaler Parameter im superioren Olivenkomplex, Lemniscus
lateralis sowie Colliculus inferior [69]
[74]. Mit Hilfe der
MR-Spektroskopie konnten Funktionsstörungen der GABAergen
Neurotransmission im zentral-auditorischen System von Patienten mit
Presbyakusis nachgewiesen werden [54]
[75]
[76].
Das heißt einerseits kommt es bereits im Rahmen der normalen Alterung
zu strukturellen Veränderungen in der zentralen Hörbahn, die
sich negativ auf das Sprachverstehen auswirken können, andererseits
führt die altersbedingte Schwerhörigkeit zusätzlich
zur Beeinträchtigung weiterer Areale im Assoziationscortex [77].
3.3.2 Veränderungen der zentral-auditiven Verarbeitung und
Wahrnehmung
Strukturelle und neurochemische Veränderungen der zentralen
Hörbahn führen zu einer Beeinträchtigung der
Enkodierung zeitlicher Charakteristika von Sprache. Im Rahmen normaler
Alterungsprozesse kommt es zu Veränderungen von neuralem Timing und
Präzision bei der Sprachverarbeitung [18] mit Auswirkungen auf das Verstehen
von Sprache sowohl in Ruhe als auch im Störgeräusch.
Generell nimmt die Fähigkeit ab, schnelle zeitliche
Veränderungen im Sprachsignal wahrzunehmen. D.h. ältere
Menschen benötigen größere Differenzen oder zeitlich
längere Merkmale (Voice onset time, Vokaldauer, Pausen…), um
einzelne Sprachlaute zu unterscheiden [78]. Wird das Sprachsignal zusätzlich spektral
verändert, nehmen diese Schwierigkeiten zu, wie mehrere Studien mit
vokodierter Sprache zeigen konnten [79]
[80]. Dies ist
insbesondere im Hinblick auf die Versorgung mit Cochlea-Implantaten
relevant. Die gestörte neurale Enkodierung des Signalbeginns wird
auch als Ursache für die größeren Schwierigkeiten
Älterer, Sprache mit veränderter Geschwindigkeit, Betonung
oder Rhythmus zu verstehen gesehen: Untersuchungen von Gordon-Salant et al.
wiesen beispielsweise nach, dass ältere normalhörende
Probanden signifikant größere Probleme haben, schnelle
Sprecher oder Sprache mit ausländischem Akzent zu verstehen [81]
[82].
Die Fähigkeit, einzelne Sprachströme zu trennen, das
heißt, einem Sprecher in Gegenwart von
Störgeräuschen oder konkurrierenden Sprechern zu folgen,
nimmt mit zunehmendem Lebensalter ebenfalls ab und wurde in einer
Fülle von Studien nachgewiesen [83]
[84]
[85]
[86]. Dies wird auf eine gestörte Verarbeitung der
zeitlichen Feinstruktur sowie Wahrnehmung von kurzen
Amplituden-Änderungen in der Einhüllenden des Sprachsignals
(„listen to the dips“) zurückgeführt[87]. Darüber hinaus konnten
Alterseffekte bei der binauralen Verarbeitung von Sprachsignalen
nachgewiesen werden [88]
[89]
[90].
Eine umfassende Übersicht altersabhängiger
elektrophysiologischer Veränderungen der zentralen Hörbahn
findet sich bei [91]: Frühe
auditorisch evozierter Potentiale, insbesondere der sog. frequency following
response (FFR) sowohl nach Stimulation mit Tönen als auch
Sprachsignalen, objektivieren die gestörte zeitliche Verarbeitung
auf Hirnstammebene. Späte auditorisch evozierte Potentiale erlauben
je nach Versuchsaufbau sowohl die differenzierte Erfassung der
gestörten zeitlichen Verarbeitung auditorischer Stimuli auf
corticaler Ebene unabhängig von Aufmerksamkeit und Kognition (N1-P2)
als auch die Beurteilung von kognitiven Prozessen, wenn die Potentiale
ereigniskorreliert erfasst werden (P300, N200). Letztere können
deshalb auch zur Unterscheidung zwischen normalen Alterungsprozessen, milder
kognitive Beeinträchtigung und Alzheimer Demenz eingesetzt werden
[92].
3.3.3 Zentrale Presbyakusis
Im englischen Sprachraum werden die geschilderten altersbedingten
Störungen der zentralen Verarbeitung und Wahrnehmung von
auditorischer Information bei altersgerechter Reintonhörschwelle
häufig unter dem Begriff der central auditory processing disorder,
CAPD bzw. central presbycusis zusammengefasst [93]
[94]. Die Störung wird dabei als multifaktoriell
verursacht betrachtet, Zusammenhänge mit altersabhängigen
kognitiven Störungen werden gesehen, klinisch ist eine scharfe
Trennung zwischen kognitiven und auditiven Verarbeitungsprozessen kaum
möglich.
Die deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie
definiert die auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung (AVWS)
etwas enger: Gemäß der aktuellen Leitlinie sollte die
Diagnose AVWS nur dann gestellt werden, wenn bei altersgerechter
Reintonhörschwelle Defizite der „Analyse, Differenzierung
und Identifikation von Zeit-, Frequenz-und
Intensitätsveränderungen akustischer oder auditiv
-sprachlicher Signale sowie Prozesse der binauralen Interaktion
(z. B. zur Geräuschlokalisation, Lateralisation,
Störgeräuschbefreiung und Summation) und der dichotischen
Verarbeitung“ nachgewiesen werden, die nicht besser „durch
andere Störungen, wie z. B.
Aufmerksamkeitsstörungen, allgemeine kognitive Defizite,
modalitätsübergreifende mnestische
Störungen“ erklärt werden können [95]. Die Defizite im auditiven Bereich
müssen im Vergleich zu sprachunabhängigen kognitiven
Leistungen signifikant sein. Gleichzeitig besteht eine hohe
Komorbidität zu z. B. Störungen der Aufmerksamkeit.
Klinisch muss dann unter Einbeziehung aller Befunde entschieden werden,
welche Störung führend ist. Im Hinblick auf die in der Regel
modalitätsübergreifenden Alterungsprozesse scheint es auch
im Hinblick auf für die Abgrenzung zur kindlichen AVWS sinnvoll,
für im höheren Lebensalter neu aufgetretene
Störungen der zentralen Hörverarbeitung bei gleichzeitig
altersgerechtem Reintonaudiogramm eher den Begriff der „zentralen
Presby(a)kusis“ zu verwenden.
3.4 Einfluss kognitiver Prozesse auf das Sprachverstehen
Um einer Unterhaltung erfolgreich folgen und am Gespräch teilhaben zu
können, müssen Zuhörer und Sprecher das Gesagte nicht
nur wahrnehmen und die einzelnen Worte auch unter ungünstigen komplexen
Bedingungen (Nebengeräusche, Hall, hohes Sprechtempo, Akzent etc.)
verstehen, sondern auch den Inhalt im Kontext erfassen, mit dem eigenen
Vorwissen abgleichen und eine Antwort formulieren. Auf kognitiver Ebene
erfordert dies unter anderem, die Aufmerksamkeit auf dem Zielsignal zu halten,
dieses im Arbeitsgedächtnis zu speichern und mit dem
Langzeitgedächtnis abzugleichen – und zwar so zügig wie
möglich, um dem weiteren Konversationsverlauf folgen zu können.
Arbeitsgedächtnis, Exekutivfunktionen und Verarbeitungsgeschwindigkeit
werden daher als wichtigste kognitive Faktoren für das Sprachverstehen
insbesondere im Störgeräusch gesehen [96] und einer Vielzahl von Studien
untersucht (z. B. Exekutivfunktionen und Aufmerksamkeit [97]
[98], Verarbeitungsgeschwindigkeit und Arbeitsgedächtnis [87]). Der Bedeutung auditiver und
kognitiver Faktoren sowie deren Interaktion für die Qualität des
Sprachverstehens wird in den letzten 10–20 Jahren vermehrt Rechnung
getragen, so dass sich der Begriff „Cognitive Hearing Science“
etabliert hat [99].
3.4.1 Inhibitionskontrolle
Im Informationsverarbeitungsmodell von Wingfield und Tun [17] ([Abb. 2]) symbolisiert der „Aufmerksamkeitsfilter“
die Fähigkeit, in Gegenwart von Störgeräuschen oder
konkurrierenden Sprechern selektiv einem einzelnen Signal zu folgen und
damit bereits sehr früh in dem Prozess die weitere Verarbeitung der
nicht-selektierten Sprachströme zu unterdrücken. Eine
Störung der Inhibitionskontrolle z. B. im Rahmen des
normalen Alterns limitiert diese Fähigkeit und kann dadurch das
Sprachverstehen beeinträchtigen.
Auf Wortebene müssen die wahrgenommenen Phoneme mit dem mentalen
Lexikon abgeglichen werden. Der Erfolg dieses lexikalischen Prozesses
hängt von der Häufigkeit des Vorkommens eines Wortes
innerhalb einer Sprache sowie der Anzahl der Worte, mit
überlappenden Phonemen (Nachbarschaftsdichte) ab. Das
Nachbarschafts-Aktivierungs-Modell (Neighborhood Activation Model, [100]) stellt die Theorie auf, dass die
korrekte Worterkennung umso einfacher ist, je häufiger ein Wort
innerhalb einer Sprache vorkommt (hohe Frequenz) und je weniger Worte mit
überlappenden Phonemen vorhanden sind (geringe
Nachbarschaftsdichte). Bei Worten mit hoher Nachbarschaftsdichte sind
demnach mehr Kompetitoren vorhanden, die vom Zuhörer
unterdrückt werden müssen, um einen korrekten Wortabruf zu
ermöglichen. Untersuchungen zum Nachbarschaftsdichteeffekt konnten
zeigen, dass bei älteren Erwachsenen ein signifikanter Zusammenhang
zwischen Maßen der Inhibitionskontrolle und Sprachverstehen im
Störgeräusch besteht (z. B. [101]). Zudem sind mit zunehmendem Alter
häufig vorkommende konkurrierende Worte stärker intrusiv,
d. h. sie werden häufiger fälschlich als Zielsignal
erkannt [102]
[103].
3.4.2 Arbeitsgedächtnis
In der Kognitionspsychologie wird das Arbeitsgedächtnis als eine
limitierte Ressource gesehen, die es erlaubt, Informationen im unmittelbaren
Gedächtnis zu halten und zu verarbeiten [104]. Bei der phonologischen Analyse
wird dem Arbeitsgedächtnis eine bedeutende Rolle als Schnittstelle
zum Langzeitgedächtnis zugeschrieben. Um zu erklären, warum
in manchen Situationen Sprachverstehen mühelos gelingt,
während in anderen eine vermehrte Höranstrengung
erforderlich ist, entwickelten Rönnberg et. al das „Ease of
Language Understandig“ (ELU) Modell (siehe [105] für eine umfassende
Übersicht): Das ankommende, multimodale Signal wird schnell und
automatisch (innerhalb von 180–200ms [16]) mit dem mentalen Lexikon
abgeglichen. Findet sich eine Mindestanzahl übereinstimmender
phonologischer Attribute, schreitet der implizite lexikalische Prozess
schnell fort, das Signal wird verstanden. Wird keine Übereinstimmung
erreicht, muss unter Zuhilfenahme des Arbeitsgedächtnisses explizit
auf semantisches und episodisches Langzeitgedächtnis zugegriffen
werden, um die Sprachverarbeitung zu ermöglichen. Ist das
Eingangssignal schwer verständlich – z. B. aufgrund
einer Hörstörung oder ungünstiger akustischer
Umgebung – muss es länger im Arbeitsgedächtnis
gehalten und mehr kognitive Ressourcen aufgebracht werden, um das Gesagte zu
verstehen, die Höranstrengung steigt [106]. Insbesondere für das
Sprachverstehen im Störgeräusch konnte eine signifikante
Abhängigkeit von der Kapazität des
Arbeitsgedächtnisses gezeigt werden, und zwar unabhängig vom
Lebensalter [107]
[108].
3.4.3 Bedeutung des Kontextes
Der phonologische Abgleich kann durch Zuhilfenahme kontextueller Information
erleichtert werden und eine partielle Kompensation der durch eine
Hörstörung hervorgerufenen Defizite ermöglichen:
Benichov et al. [109] wiesen
beispielsweise nach, dass Hörverlust zwar einen signifikanten
Einfluss auf das Sprachverstehen im Störgeräusch hat, dieser
aber mit zunehmender Auftretenswahrscheinlichkeit des Zielwortes im Kontext
des Satzes abnimmt. Gleichzeitig waren sowohl Alter als auch kognitive
Leistungsfähigkeit (insbesondere Arbeitsgedächtnis als auch
Verarbeitungsgeschwindigkeit) signifikante Prädiktoren für
das Sprachverstehen unabhängig vom Ausmaß der kontextuellen
Information.
Im Alter zunehmende Defizite der Inhibitionskontrolle können wiederum
dazu beitragen, dass akustisch unverständliche Worte
häufiger fälschlich als innerhalb des Kontexts
wahrscheinliche Äußerungen verstanden werden [110]
[111]
[112]. Eine neuere
Studie von van Os et al. [113] konnte
zeigen, dass auch ältere Versuchspersonen darüber hinaus in
der Lage sind, ihr Antwortverhalten innerhalb eines Versuches rational
anzupassen und sich beispielsweise mehr auf die akustische Information als
den Kontext zu verlassen, wenn der angebotene Kontext irreführend
ist.
3.4.4 Höranstrengung
Wenn kognitive Ressourcen verwendet werden müssen, um ein
gestörtes Sprachsignal zu verstehen, fehlen diese für andere
Prozesse wie z. B. Enkodierung des Gehörten in das
Gedächtnis. Das sogenannte „Framework for Unterstanding
Effortful Listening“ (FUEL) [114] beschreibt erfolgreiches Sprachverstehen als
abhängig von der Qualität des akustischen Stimulus, der
Anforderung der Aufgabe und der Motivation des Zuhörers, die
dafür notwendige Anstrengung aufzubringen. Vermehrte
Höranstrengung kann nicht nur die vorhandenen kognitiven Ressourcen
rascher erschöpfen, sondern auch die Motivation des Zuhörers
reduzieren, diese Anstrengung überhaupt aufzubringen – und
zwar auch, wenn die Äußerung selbst korrekt verstanden
wurde.
4. Hörstörungen bei häufigen neurodegenerativen
Erkrankungen des höheren Lebensalters
4. Hörstörungen bei häufigen neurodegenerativen
Erkrankungen des höheren Lebensalters
4. 1 Neurokognitive Störungen
Als neurokognitive Störungen (neurocognitive disorder, NCD) werden
Erkrankungen bezeichnet, die mit einem subjektiven oder objektiven Verlust zuvor
vorhandener kognitiver Fähigkeiten in mindestens einer der 6 kognitiven
Domänen komplexe Aufmerksamkeit, Exekutivfunktionen, Lernen und
Gedächtnis, Sprache, perzeptiv-motorische Kognition, sozialen Kognition
(Vgl.
[Tab. 1]) einhergehen und
nicht ausschließlich im Rahmen eines Delirs vorkommen bzw. durch eine
andere vorhandene psychische Störung (wie z. B. Major
Depression, Schizophrenie) erklärbar sind [3]. Im DSM-5 wird zwischen leichten (minor
Form) und schweren (major) Formen unterschieden, die auf einem Kontinuum
kognitiver und funktioneller Beeinträchtigungen gesehen werden: Bei der
minoren NCD liegen moderate kognitive Leistungseinbußen vor, die jedoch
nicht die Fähigkeit zur selbstständigen Verrichtung von
Alltagsaktivitäten beeinträchtigen, wobei
größere Anstrengungen oder Kompensationsstrategien notwendig
sein können. Eine major NCD liegt vor, wenn die kognitive Leistung
erheblich abgenommen hat und die Unabhängigkeit in der Verrichtung
alltäglicher Aktivitäten beeinträchtigt. Die
Beeinträchtigung der Alltagsaktivitäten kann dabei leicht
(lediglich instrumentelle Aktivitäten wie Hausarbeit, Umgang mit Geld
beeinträchtigt), mäßig (Einschränkungen bei
Grundlegenden Alltagsaktivitäten wie Nahrungsaufnahme, Ankleiden) oder
schwer (vollständige Abhängigkeit) sein. Die majore NCD soll
damit den weitverbreiteten, und teilweise stigmatisierenden Begriff der Demenz
ablösen. Für die Mehrzahl der neurokognitiven Störungen
sind spezifische pathophysiologische Prozesse bekannt, die eine weitere
Spezifizierung sowohl minorer als auch majorer NCD erlauben ([Tab. 2]).
Tab. 2 Spezifische Ätiologie der neurokognitiven
Störung (neurocognitive disorder, NCD) im DSM-5 [3].]
Minore/Majore NCD aufgrund …
|
Alzheimer-Erkrankung
|
Frontotemporaler Lobärdegeneration
|
Lewy-Körper Demenz
|
Vaskulärer Erkrankung
|
Schädel-Hirn-Trauma
|
Substanz-/Medikamentenkonsum
|
HIV-Infektion
|
Prionen-Erkrankung
|
Parkinson-Erkrankung
|
Huntington-Erkrankung
|
Anderer medizinischer Krankheitsfaktor
|
Multipler Ätiologien
|
Nicht näher bezeichnet
|
4.1.1 Sozioökonomische Bedeutung
Neurokognitive Störungen betreffen überwiegend das
höhere Lebensalter, so dass mit dem demografischen Wandel ein
weltweiter Anstieg der Betroffenen erwartet wird. Basierend auf Daten der
Global Burden of Disease Study 2019[115] wurde die Zahl an Demenzkranken weltweit 2019 auf 55,4
Millionen geschätzt, Vorausberechnungen erwarten einen Anstieg auf
152,8 Millionen Betroffene im Jahr 205 [116]. In einzelnen Regionen wurden jedoch auch
Rückgänge der Neuerkrankungen beobachtet: Eine aktuelle
Analyse der Inzidenzrate der letzten 25 Jahre für Europa und
Nordamerika ergab eine Abnahme der Demenzinzidenz 13% pro Dekade
[252]. Nach Angaben der deutschen
Alzheimer Gesellschaft waren Ende 2021 in Deutschland ca. 1,8 Millionen
Menschen von einer Demenz betroffen, die überwiegende Zahl (1,7
Millionen) waren über 65 Jahre alt [117], Frauen waren doppelt so häufig erkrankt, wie
Männer. Die Zahl der Neuerkrankungen in der Altersgruppe
65+wurde auf 436 000 geschätzt [117]. Bis zum Jahr 2050 wird ein
Anstieg auf 2,8 Millionen Betroffene erwartet. Durch den demografischen
Wandel wird gleichzeitig die Zahl der Personen im erwerbsfähigen
Alter, die Demenzkranke pflegen oder für deren Pflege aufkommen
erheblich zurückgehen [118].
In Anbetracht dieser großen gesellschaftlichen Herausforderung kommt
der Prävention besondere Bedeutung zu. Durch ein Expertenkonsortium
wurden zuletzt 12 potentiell modifizierbare Risikofaktoren identifiziert,
die zusammen knapp 40% aller Demenzen erklären ([Tab. 3]). Schwerhörigkeit ist
dabei der wichtigste Risikofaktor im mittleren Lebensalter.
Tab. 3 Modifizierbare Risikofaktoren für das
Entwickeln einer Demenz nach [23].
Zeitpunkt
|
Risikofaktor
|
Relatives Risiko
|
Attributables Risiko*
|
Jüngeres Lebensalter (<45 Jahre)
|
Bildung
|
1,6
|
7,1%
|
Mittleres Lebensalter (45–65 Jahre)
|
Schwerhörigkeit
|
1,9
|
8,2%
|
Schädelhirntrauma
|
1,8
|
3,4%
|
Bluthochdruck
|
1,6
|
1,9%
|
Übermäßiger Alkoholkonsum
(>24 g/d)
|
1,2
|
0,8%
|
Adipositas (BMI ≥ 30)
|
1,6
|
0,7%
|
Höheres Lebensalter (>65 Jahre)
|
Rauchen
|
1,6
|
5,2%
|
Depression
|
1,9
|
3,9%
|
Soziale Isolation
|
1,6
|
3,5%
|
Körperliche Inaktivität
|
1,4
|
1,6%
|
Luftverschmutzung
|
1,1
|
2,3%
|
Diabetes
|
1,5
|
1,1%
|
*das attributable Risiko gibt an, um welchen
Prozentsatz man die Krankheitshäufigkeit senken kann, wenn
man den Risikofaktor vollständig ausschaltet;
BMI=Body-Mass-Index.
Gesellschaftliche Veränderungen wie verbesserte Bildung sowie
Anpassungen des individuellen Lebensstils könnten demnach zu einer
erheblichen Reduktion des Demenzrisikos und damit Verbesserung der
Lebensqualität im höheren Lebensalter beitragen. Norton et
al. [119] schätzten
beispielsweise, dass bereits eine Prävalenzreduktion von
10–20% jedes einzelnen Risikofaktors pro Dekade die Zahl der
weltweiten Alzheimer- Erkrankten im Jahr 2050 um 8,8–16,2 Millionen
senken könnte.
Die 2020 verabschiedete nationale Demenzstrategien versucht, den steigenden
gesellschaftlichen Anforderungen durch Demenzerkrankungen Rechnung zu tragen
und hat zum Ziel, Leben und Versorgung von Menschen mit Demenz in
Deutschland zu verbessern. Ein konkretes Maßnahmenpaket für
die Umsetzung von Präventionsstrategien auf Basis der o.g.
Risikofaktoren fehlt jedoch bis dato [120].
4.2 Alzheimer-Erkrankung
Die Alzheimer-Erkrankung (englisch Alzheimer Disease, AD) ist mit einem
geschätzten Anteil von ca. 2/3 die häufigste Ursache
einer major NCD [121]. Es handelt sich um
eine fortschreitende neurodegenerative Erkrankung mit charakteristischen
biologischen Veränderungen, die vorrangig mit Störungen des
Gedächtnisses einhergeht und in eine Demenz mündet [121]. Biologisches Merkmal ist die
zunehmende Ablagerung von β-Amyloid- und Tau-Proteinen im Gehirn der
Betroffenen. Ca. 95% der Fälle treten sporadisch und meist nach
dem 65. Lebensjahr auf („late onset Alzheimer Disease, LOAD), in weniger
als 5% der Fälle zeigen sich erste Symptome vor dem 60.
Lebensjahr („early onset Alzheimer Disease, EOAD) [122]. Die sporadische Form schreitet meist
langsam über Jahre bis Jahrzehnte fort, während bei der EOAD
häufig raschere Verläufe beobachtet werden. Der wichtigste
genetische Risikofaktor für die sporadische Erkrankung ist das sog.
ApoE-ε4-Allel des Gens für Apoplipoprotein E, welches am
Fettstoffwechsel beteiligt ist und eine Rolle bei der Amyloid-Ablagerung spielt.
Für den frühen Erkrankungsbeginn wurde bisher 3 Gene
(Presenilin-1, Presenilin-2, Amyloid-Precursor-Protein) als Risikofaktoren
identifiziert [121], die in ca. 1%
aller Alzheimer-Erkrankten familiär gehäuft auftreten. Im
Verlauf der Erkrankung sammelt sich β-Amyloid zwischen den Nervenzellen
an, zunächst in Form von Oligomeren, später als Amyloid-Plaques,
es kommt zu einer Störung der Nervenzellfunktion und damit verbunden zur
Entwicklung der klinischen Symptomatik. Seit ca. 20 Jahren können
Unterformen des β-Amyloids im Liquor nachgewiesen und als Biomarker
für die AD eingesetzt werden (Aβ42 und
Aβ42/Aβ40- Ratio). Neben den
extrazellulären Amyloid-Ablagerungen finden sich typischerweise
intrazelluläre Ablagerungen von fehlerhaften Tau-Proteinen als
Neurofibrillenbündel oder „Tangles“. Im Liquor
können Gesamt-Tau und Phospho-Tau-Konzentration bestimmt werden.
Ersteres weißt auf einen unspezifischen Nervenzellschaden hin und kann
auch bei anderen neurodegenerativen Erkrankungen oder Schlaganfällen
erhöht sein. Phospho-Tau (pTau) hingegen ist ausschließlich bei
der AD deutlich erhöht. Die Deutsche S3-Demenz-Leitlinie empfiehlt daher
zur Differenzierung von neurodegenerativen und anderen Ursachen bei unklaren
Demenzen die kombinierte Bestimmung von Aβ42, Gesamt-Tau und
pTau [123].
Die Amyloid-Ablagerungen können darüber hinaus auch mit einer
Positronen-Emissions-Tomografie (Amyloid-PET) sichtbar gemacht werden.
Klinisches Leitsymptom sind langsam fortschreitende Störungen vorrangig
von Lernen und Gedächtnis, aber auch Aufmerksamkeit sowie
örtlicher und zeitlicher Orientierung [[121]
[122]. Radiologisch findet
man neben einer allgemeinen Hirnvolumenminderung typischerweise eine Atrophie
des medialen Temporallappens, insbesondere des Hippocampus [124]. In etwa 10% der Fälle
manifestiert sich die Erkrankung mit atypischen Symptomen wie Verlust von
visuell-räumlichen Fähigkeiten (Posteriore parietale Atrophie,
Benson-Syndrom) [125], oder als frontale
oder logopenische Variante [126]
[127], die beide den typischen
fronto-temporalen Demenzen ähneln. Parieto-temporale
Stoffwechselstörungen können mit der Fluorodeoxyglukose-PET
(FDG-PET) sichtbar gemacht werden und bei der Diagnosesicherung
unterstützen, eine sichere Zuordnung zur Alzheimer-Erkrankung ist jedoch
nur bei Vorliegen weiterer Marker wie typischen Liquorveränderungen oder
positiver Amyloid-PET möglich . Die kognitiven Funktionsverluste werden
in der Regel von neuropsychiatrischen Symptomen, wie z. B.
Teilnahmslosigkeit, Unruhe, Angstzustände, Schlafstörungen und
Depression begleitet.
Die Alzheimer-Erkrankung wird heute als Kontinuum verstanden, da die biologischen
Prozesse schon Jahre bis Jahrzehnte vor dem Auftreten der ersten Symptome
beginnen und mit zunehmender Ausprägung im Verlauf kognitive
Veränderungen nach sich ziehen. Aufgrund der biologischen Marker ist es
möglich, Patienten bereits im präklinischen Stadium bzw. im
Stadium einer leichten kognitiven Störung (minor NCD bzw. mild cognitive
impairment, MCI) als Betroffene der Alzheimer Krankheit zu identifizieren.
4.2.1 Schwerhörigkeit und Alzheimer-Erkrankung
Bereits 1993 berichteten Sinha et al. [128] über die Beteiligung des auditiven Systems an der
Alzheimer-Erkrankungen. Amyloid-Plaques und intrazelluläre
Neurofibrillen wurde im Corpus geniculatum mediale und Colliculus inferior,
primär auditorischem Cortex sowie auditorischen Assoziationsarealen
nachgewiesen. Als funktionelles Merkmal der temporo-parietalen
Veränderungen im Rahmen der Alzheimer-Erkrankung wird eine
Störung der auditorischen Szenen-Analyse, d. h. der
Fähigkeit, auditorische Objekte – z. B. einen
Sprecher – zu identifizieren und auch in Gegenwart von
Störgeräuschen zu folgen, gesehen [129]
[130]
[131]
[132]
[133]. Goll et al. [129]
konnten beispielsweise nachweisen, dass Alzheimer-Patienten im Vergleich zu
Gesunden mit vergleichbarer peripherer Hörschwelle unter
Berücksichtigung der non-verbalen Arbeitsgedächtnisleistung,
spektral und zeitlich veränderte Umweltgeräusche signifikant
schlechter unterscheiden können, während die
Fähigkeit zur Wahrnehmung von Tonhöhe und Timbre gleich
blieb. Auch Coeberg et. al [134]
konnten bei Patienten mit milder Alzheimer-Erkrankung im Vergleich zu
Gesunden signifikant häufiger eine auditorische Agnosie für
Umweltgeräusche feststellen: 37% der Patienten wiesen dabei
eine Störung der Erkennung, 57% der Benennung der
Testgeräusche auf. Die mittlere Hörschwelle der von der
Agnosie betroffenen Patienten war dabei signifikant höher, und zwar
unabhängig vom Lebensalter. D.h. peripherer Hörverlust
erhöht in Kombination mit der Alzheimer-Pathologie die
Wahrscheinlichkeit für das Auftreten weiterer, zentral auditorischer
Defizite (in dieser Studie Odds Ratio 13,75 gegenüber Gesunden).
Uhlmann et al. [135] beschrieben
bereits 1986 einen Zusammenhang von peripherem Hörvermögen
und signifikant rascherem kognitiver Leistungsverlust bei AD. In einer
Langzeituntersuchung von 639 bei Studieneinschluss kognitiv gesunden
Individuen [136] zeigte sich
für jeden Anstieg der mittleren Hörschwelle um 10 dB
eine Zunahme des Demenz-Risikos um 20%. Aufgeschlüsselt nach
Hörverlustgrad ergab sich eine Hazard Ratio von 1,89 für
geringen, 3,00 für mittelgradigen sowie 4,94 für
hochgradigen Hörverlust. Eine Metaanalyse von 33 Studien
bestätigte den Zusammenhang von peripherem
Hörvermögen und kognitiver Funktion [137]: Die kognitive
Leistungsfähigkeit von Patienten mit Schwerhörigkeit war
geringer, als bei Hörgesunden, und zwar unabhängig davon, ob
der Hörverlust behandelt wurde, oder nicht. Dennoch war bei den
Individuen mit behandelten Hörstörung die Differenz zu den
Hörgesunden um mehr als die Hälfte geringer.
Schwerhörigkeit wirkte sich dabei auf alle untersuchten kognitiven
Domänen (Aufmerksamkeit, Verarbeitungsgeschwindigkeit,
Arbeitsgedächtnis, Langzeitgedächtnis, Exekutivfunktionen,
semantisches und lexikalisches Wissen) negativ aus, allerdings war die
Effektstärke gering (Varianzaufklärung zwischen
4–6%).
Für zentrale Hörstörungen konnte ein
ähnlicher Zusammenhang gezeigt werden: Bereits 1996 berichteten
Gates et al. [138] ein 6-fach
höheres Demenz-Risiko für Patienten mit zentraler
Hörstörung, weitere große longitudinale und
Querschnittsstudien kamen zu ähnlichen Ergebnissen [139]
[140]
[141]
[142]
[143]. Insbesondere zentrale Hörstörungen wurden
deshalb als mögliche Vorboten einer späteren Demenz
diskutiert [133]
[138]
[140]
[144]. Eine aktuelle
Metaanalyse [145] kam zu dem Schluss,
dass eine Reihe von subjektiven audiometrischen Verfahren zur Beurteilung
der zentral-auditiven Verarbeitung (u. a. Sprache im
Störgeräusch, Dichotisches Hören/binaurale
Verarbeitung, zeitkomprimierte Sprache) zwar gut zwischen normalem
kognitivem Altern und milder kognitiver Beeinträchtigung bzw.
Alzheimer-Demenz unterscheiden können, eine sichere Differenzierung
zwischen MCI und dementiellem Stadium einer Alzheimer-Erkrankung bisher
jedoch nicht möglich ist. Ob darüber hinaus in der
präklinischen Phase der Alzheimer-Erkrankung ohne kognitiven
Funktionsverlust diese Untersuchungen zu einer früheren Diagnose als
durch die aktuell bekannten neurologischen und biologischen Marker beitragen
kann, bleibt offen [146].
Auditorische ereigniskorrelierte Potentiale könnten
möglicherweise diese Lücke schließen: An einer
Untersuchung von 26 Patienten mit positiver Familienanamnese für AD
konnte gezeigt werden, dass Träger von Mutationen im Presenilin-1
und APP-Gen im Gegensatz zu den Probanden mit positiver Familienanamnese
aber ohne Mutationsnachweis bereits signifikante Veränderungen in
zentralen auditorischen Potentialen zeigen, noch bevor kognitive Defizite
klinisch manifest werden [147]. Die in
dieser Studie nachgewiesene Latenzverzögerung der späten
auditorisch-evozierten Potentiale N100, P200, N200 und P300 wurde als
elektrophysiologisches Zeichen der Verlangsamung der kortikalen
Informationsverarbeitung gewertet. Eine spätere Metaanalyse von
Morrison et al. [92], bei der zwischen
2005 und 2017 publizierte Studien zu auditorisch evozierten Potentialen bei
über 60-jährigen Patienten evaluiert wurden, kam zu dem
Schluss, dass P300 und N200 geeignete elektrophysiologische Marker
für die Unterscheidung zwischen normalem kognitivem Altern, milder
kognitiver Beeinträchtigung und Alzheimer-Demenz sind.
4.3 Parkinson-Syndrom (PS)
Der M. Parkinson ist nach der Alzheimer Erkrankung die häufigste
neurodegenerative Erkrankung [148]
[149]. Nach einer aktuellen
epidemiologischen Schätzung basierend auf Krankenversicherungsdaten von
3,7 Millionen Versicherten waren im Jahr 2015 ca. 420000 Menschen in Deutschland
betroffen [150], die standardisierte
Prävalenz lag bei 511,4/100.000.
Die Inzidenz nimmt mit wachsendem Lebensalter zu: Während bei den
65-jährigen etwa 50/100.000 betroffen sind, findet man in der
Altersgruppe ab 85 Jahren etwa 400/100.000 Erkrankte [151]. Durch den demographischen Wandel aber
auch frühere Erkennung wird ein Anstieg der von einem Parkinson-Syndrom
Betroffenen in der EU auf ca. 4,25 Millionen für das Jahr 2050 erwartet
[152]. Das Parkinson-Syndrom (PS)
umfasst eine ätiologisch und phänotypisch heterogene Gruppe von
Erkrankungen: Neben dem idiopathischen Parkinson-Syndrom (IPS, ca. 75%
aller Fälle), unterscheidet man genetische Formen sowie
Parkinson-Syndrome im Rahmen anderer neurodegenerativer Erkrankungen (atypisches
PS, Multisystematrophie, Demenz vom Lewy-Körper-Typ, progressive
supranukleäre Blickparese, kortikobasale Degeneration) und
symptomatische (sekundäre) Parkinsonsyndrome (medikamenteninduziert,
posttraumatisch, toxisch, metabolisch, entzündlich, tumorbedingt) [153]
[154]
[155]
[156]. Neben den motorischen
Kardinalsymptomen (Akinese/Bradykinese, Ruhetremor, Rigor und posturale
Instabilität) können vielfältige sensorische,
vegetative, psychische und kognitive Begleitsymptome auftreten und die
Lebensqualität erheblich beeinträchtigen [157]
[158]. Kognitive Störungen betreffen vor allem exekutive
Funktionen, wie planendes, vorrausschauendes Denken, Arbeitsgedächtnis
sowie Schwierigkeiten, die Aufmerksamkeit zwischen verschieden Aufgaben zu
wechseln.
Die Häufigkeit der sog. Parkinson-Demenz wird in internationalen
Querschnittstudien zwischen 20–44% geschätzt, was einem
3–6fach höherem Erkrankungsrisiko für Parkinsonpatienten
gegenüber Nicht-Betroffenen entspricht [159]
[160]. In einer deutschen
Querschnittsstudie an 873 Patienten mit idiopathischem Parkinsonsyndrom
erfüllten 28,6% der Patienten die Diagnosekriterien einer Demenz
nach DSM-5, wobei die Häufigkeit mit zunehmenden Lebensalter sowie
Krankheitsstadium erheblich zunahm [158].
Die Britische CamPaIGN-Studie verfolgte 142 Patienten, bei denen ein IPS
zwischen 2000 und 2002 neu diagnostiziert wurde [161], 46% dieser Population entwickelte innerhalb des
Nachverfolgungszeitraums von 10 Jahren eine Demenz, auch hier waren unter
anderem Alter bei der Diagnose sowie das Erkrankungsstadium wesentliche
prognostische Faktoren.
4.3.1 Schwerhörigkeit und Parkinson
Hörverlust wird als ein weiteres nicht-motorisches Begleitsymptom des
Parkinson-Syndroms diskutiert [162]
[163]
[164]
[165]
[166]. Mehrere Studien
konnten zeigen, dass Schwerhörige häufiger unter Parkinson
leiden [162]
[167]. In der Tonaudiometrie findet man
vorwiegend Hochtonverluste [168]
[169]
[170]
[171] die das
Ausmaß einer reinen Presbyakusis überschreiten [169]
[172]
[173]
[174]
[175]. Eine britische Fallkontrollstudie an 55 Patienten mit PS
und frühem Erkrankungsbeginn (≤ 55 Jahre) fand bei
64,7% der Patienten und 28% der alters- und
geschlechts-angepassten Kontrollgruppe ein- oder beidseitig von der
Altersnorm abweichende Hörschwellen [169]. In der Hirnstammaudiometrie fand sich in dieser Studie kein
Unterschied zwischen beiden Gruppen, so dass die Autoren von einer rein
cochleäre Beteiligung ausgingen. Die Vermutung einer
dopamin-abhängigen cochleären Dysfunktion wird vom Nachweis
reduzierter DPOAE-Amplituden gestützt, die sich unter
Levodopa-Substitution besserten [172],
in dieser Studie korrelierte die DPOAE-Dysfunktion mit dem klinischen
Schweregrad des Parkison-Syndroms. Eine andere Arbeitsgruppe fand
zusätzlich signifikante Seitenunterschiede: Die cochleäre
Funktion, gemessen mit DPOAE und Reintonaudiometrie, war bei
Parkinsonpatienten nicht nur schlechter, als bei der gleichaltrigen
Kontrollgruppe, sondern auch auf dem ipsilateral Ohr der Motorsymptome
signifikant stärker ausgeprägt [176].
Über tonaudiometrische Veränderungen hinaus werden
Schwierigkeiten bei der Wahrnehmung von Rhythmus und tonalen Unterschieden
[177]
[178] berichtet.
Eine Reihe von Studien konnten Veränderung von Morphologie, Latenz
und Interpeak-Intervallen der frühen akustischen-evozierten
Potentiale (FAEP, engl. auditory brainstem response, ABR) bei
Parkinson-Patienten nachweisen [168]
[179]
[180]. Ebenso fanden sich reduzierte
Amplituden und verlängerte Latenzen der vestibulär
evozierten Potentiale (VEMP) [179]
[181]
[182]. Das ereigniskorrelierte Potential
P3 ist geeignet, Stadium und Verlauf des Parkinson-Syndrom zu erfassen. Der
Versuchsperson werden dabei Sequenzen repetitiver Standard-Reize angeboten,
die selten durch einen abweichenden Stimulus unterbrochen werden (sog.
Oddball-Paradigma). Das dabei evozierte Potential (P300, P3a, P3b) ist von
Aufmerksamkeit und Arbeitsgedächtnis abhängig und scheint
deshalb geeignet, die Beeinträchtigung exekutiver Funktionen bei M.
Parkinson zu erfassen [183]
[184]
[185]
[186]
[187]. Mit zunehmendem Schweregrad kommt
es dabei zu einer Amplitudenreduktion sowie Verlängerung der Latenz,
so dass Patienten mit und ohne Parkinson-Demenz elektrophysiologisch
unterschieden werden können [188]
[189].
Obwohl auditorische Reize und Musik zur Behandlung von Parkinson-bedingten
Gangstörungen und posturaler Instabilität eingesetzt werden
[190]
[191]
[192] wird in Therapiestudien die Bedeutung der
Hörrehabilitation für Parkinsonpatienten nicht
diskutiert.
5. Zusammenhang von Schwerhörigkeit und kognitivem
Funktionsverlust
5. Zusammenhang von Schwerhörigkeit und kognitivem
Funktionsverlust
Die Bedeutung kognitiver Prozesse für das Sprachverstehen insbesondere in
anspruchsvollen Hörsituationen ist gut etabliert, altersbedingte Defizite
führen zu Einschränkungen der Kommunikationsfähigkeit,
sozialer Isolation und damit verbunden zu psychischer Belastung und reduzierter
Lebensqualität. Die Frage nach einem möglichen kausalen Zusammenhang
zwischen Hörverlust und reduzierten kognitiven Fähigkeiten bis hin
zur manifesten Demenz ist in den letzten Jahren immer stärker in den Fokus
wissenschaftlicher Untersuchungen gerückt (wegweisende
Übersichtsarbeiten z. B. [53]
[146]
[166]
[193]
[194]
[195]
[196]). Die Analyse bereits publizierter Studienergebnisse wird durch die
große Heterogenität der erhobenen Daten erschwert, sowohl im
Hinblick auf die audiologischen und kognitiven Parameter, als auch auf die
untersuchten Gruppen, erfassten Einflussfaktoren und Beobachtungsdauer.
In der Regel wird die Reintonhörschwelle für die Beurteilung des
(peripheren) Hörverlustes eingesetzt, jedoch bestehen bereits hier
Unterschiede in der Gruppierung der eingeschlossenen Probanden, je nachdem nach
welcher Methode zwischen Versuchspersonen mit und ohne Hörverlust
differenziert wurde.
Auf Basis von 3 Langzeitstudien[136]
[197]
[198]
(mindestens 5 Jahre Nachbeobachtungsdauer) von Versuchspersonen ohne kognitive
Beeinträchtigung mit tonaudiometrisch bestimmter Hörschwelle
berechnete die Lancet Commission [24]
[25] ein relatives Risiko von 1,9 für
das Entwickeln einer Demenz beim Vorliegen einer Hörstörung
(definiert als Hörverlust von mehr als 25 dB HL im
Reintonaudiogramm) im mittleren Lebensalter (55 Jahre und älter)
gegenüber Normalhörenden. Schwerhörigkeit im mittleren
Lebensalter wurde als der wichtigste modifizierbare Risikofaktor für das
Entwickeln einer Demenz identifiziert.
Nur wenige Untersuchungen befassen sich explizit mit dem Zusammenhang zentraler
Hörstörungen und Demenz bzw. kognitiven Defiziten im Alter. In einer
Metaanalyse von Dryden et al. [199] konnte 25
Studien identifiziert werden, die den Zusammenhang zwischen kognitiver
Leistungsfähigkeit und Sprachverstehen im Störgeräusch als
Maß für eine zentrale Hörstörung untersuchten.
Sowohl für die Untergruppe der Studien, die ausschließlich peripher
normalhörende Personen einschlossen (16 Arbeiten) als auch Studien, die
darüber hinaus auch Probanden mit einer maximal mittelgradigen
Hörminderung im Reintonaudiogramm (maximal 70 dB HL, 9 Studien)
zuließen, zeigte sich insgesamt eine schwache Assoziation (r=0,31
[Normalhörende], r=0.32 [bis zu mittelgradige
Schwerhörigkeit]) von kognitiver Funktion und Sprachverstehen im
Störgeräusch. Aufgeschlüsselt nach kognitiven
Domänen wurden die stärkste Assoziation für die
Verarbeitungsgeschwindigkeit (r=0,39), gefolgt von Inhibitionskontrolle
(r=0,34) und Arbeitsgedächtnis (r=0,28) und episodischem
Gedächtnis (r=0.26) gesehen, während globale Maße
der kristallinen Intelligenz einen deutlich schwächeren Zusammenhang
(r=0,18) zeigten.
Wayne und Johnsrude [194] führen aus,
dass die Verwendung globaler kognitiver Screening-Tests wie dem Montreal Cognitive
Assessment (MoCa, [200]), dem
Mini-Mental-Status-Test (MMST, [201]) sowie
dem modifizierten Mini-Mental State Test (3MS, [202]) bei normal-alternden Personen nur wenig Variabilität zeigt,
und so die Auswirkung von Hörminderung auf kognitive Funktion
unterschätzt werden könnten.
Gleichzeitig kann das Vorliegen einer Hörstörung die
Durchführung von Kognitionstests beeinträchtigen und zu einer
Überschätzung des vorliegenden kognitiven Defizits führen,
insbesondere wenn die Instruktionen verbal erteilt werden, wie mehrere
Untersuchungen an Normalhörenden, kognitiv gesunden Probanden mit
simuliertem Hörverlust zeigte [203]
[204]
[205]. Für einige Test wurden daher
spezielle Versionen für Hörgeschädigte entwickelt, die
zukünftig bevorzugt Einsatz finden sollten. Für eine umfassende
Übersicht hierzu sei auf die aktuelle Arbeit von Völter et. al [206] verwiesen.
5.1 Erklärungsmodelle für die Interaktion von Hören
– Kognition
Um den Zusammenhang zwischen (altersbedingter) Hörminderung und
kognitivem Funktionsverlust zu erklären, werden eine Reihe von Modellen
diskutiert, die im Folgenden kurz erläutert werden sollen. Eine
umfassende Übersicht bietet die Arbeit von Wayne und Johnsrude [194].
5.1.1 Modell 1: Kognitiver Funktionsverlust führt zu
Hörstörung
(engl. “Cognitive load on perception hypothesis“) Hierbei
wird ein kognitiver Funktionsverlust infolge von Alterungsprozessen
postuliert, wodurch die Belastung steigt und nicht mehr ausreichend
Ressourcen für die Verarbeitung von sensorischer Information zur
Verfügung stehen. Dies führt zu einer audiometrisch
messbarer Hörverschlechterung [207]
[208]. Eine Studie von
Kiely et al. [209] scheint diese
Theorie zu stützen: die Autoren kamen nach Analyse von
Längsschnittdaten von insgesamt 4221 Probanden zu dem Ergebnis, dass
neben dem Alter und Bluthochdruck auch ein Ergebnis von weniger als 24
Punkten im MMST zu den unabhängigen Prädiktoren der
jährlichen Hörschwellenverschlechterung gehört. Ex
post bleibt unklar, inwiefern die Hörstörung selbst das
Testergebnis beeinträchtigt hat, da der verwendete Test auditiv
präsentiert wurde ([Abb.
4a]).
Abb. 4 Erklärungsmodelle zum Zusammenhang von
Altersschwerhörigkeit und kognitivem Funktionsverlust:
a) Kognitiver Funktionsverlust führt über
die gestörte Verarbeitung von sensorischer Information zu
einer messbaren Hörstörung b) Der
altersbedingte Hörverlust degradiert die für die
weitere Verarbeitung zur Verfügung stehende Information. Zur
Kompensation werden temporär kognitive Ressourcen genutzt,
die dann für andere kogntive Prozesse nicht mehr zur
Verfügung stehen. Dieser Prozess ist durch eine
Hörhilfenversorgung und damit Verbesserung des
Informationsangebotes potentiell reversibel. c) Die mit der
Presbyakusis verbundene sensorische Deprivation führt zu
permanenten strukturellen Hirnveränderungen und dauerhaftem
kognitiven Funktionsverlust d) Gemeinsame endo- und exogene
Ursache(n) führen sowohl zu einem kognitiven
Funktionsverlust, als auch Presbyakusis.
5.1.2 Modell 2: Informations Degradation führt zu reversiblem
kognitiven Funktionsverlust
(engl. „Information degradation hypothesis“) Diese Modell
geht davon aus, dass ein reduziertes oder gestörtes peripheres
Hörvermögen eine Aufwärtskaskade auslöst,
bei der zur Kompensation der Hörstörung kognitive Ressourcen
herangezogen werden, die dadurch nicht mehr für andere kognitive
Prozesse zur Verfügung stehen [207]
[210]. Die Evidenz
für diese Annahme ist hoch, beispielsweise konnten mehrere Studien
zeigen, dass sich die Fähigkeit, Worte oder Sätze zu
erinnern, während eines anspruchsvollen Wahrnehmungsexperimentes bei
älteren Probanden verschlechtert [17]
[211]. Die damit
verbundene vermehrte Höranstrengung hat negative Auswirkungen auf
Arbeitsgedächtnis und Inhibitionskontrolle [17]. Der kognitive Verlust in diesem
Modell ist reversibel – es wird angenommen, dass eine Verbesserung
des peripheren Inputs z. B. durch einen Ausgleich der
Hörminderung durch Hörhilfen, eine zumindest teilweise
Wiederherstellung der kognitiven Leistungsfähigkeit möglich
ist. (
[Abb. 4b])
5.1.3 Modell 3: Sensorische Deprivation führt zu dauerhaftem
kognitivem Funktionsverlust
(engl. „Sensory deprivation hypothesis“) Dieses Modell nimmt
an, dass eine dauerhafte Ressourcenverschiebung zur Kompensation perzeptiver
Defizite zu einem permanentem kognitiven Funktionsverlust führt. Als
mögliche Mechanismen werden ein neuroplastischer Umbau in zentral
auditiven Gebieten sowie neurovaskuläre und neurophysiologische
Änderungen ähnlich denen von Demenzerkrankungen postuliert
[106]
[212]
[213]
[214]. Für
angeborene oder früh erworbene Hörverluste sind die damit
verbundenen neuroplastischen Veränderungen bereits gut etabliert
[215]
[216], die kognitive
Leistungsfähigkeit ist jedoch davon nur wenig betroffen [217]. Sensorische Deprivation allein
ist damit als Erklärungsmodell für kognitiven Verlust im
Alter nicht ausreichend. ([Abb.
4c])
5.1.4 Modell 4: Gemeinsame Ursache
(engl. „Common cause hypothesis“) Allgemeine,
altersabhängige Neurodegenerationsprozesse könnten sowohl
negative Konsequenzen für die kognitiver Leistungsfähigkeit
als auch sensorische Wahrnehmung haben [207]
[208]. Die Abnahme der
Verarbeitungsgeschwindigkeit wird beispielsweise als ein solcher
Generalfaktor diskutiert [218]. Neben
genetischen Ursachen [219] werden
cerebrovaskuläre Erkrankungen [220] und allgemeiner physischer Funktionsverlust als
mögliche Mechanismen erwogen. ([Abb. 4d])
5.1.5 Multifaktorielles Modell
Keine der o.g. Annahmen kann allein alle beobachteten Veränderungen
im höheren Lebensalter erklären, eine Kombination mehrere
Effekte ist am wahrscheinlichsten. Wayne und Johnsrude [194] postulierten daher ein
multifaktorielles Modell, das die gegenseitige Abhängigkeit von
sensorischen und kognitiven Prozessen illustriert ([Abb. 5]).
Abb. 5 Multifaktorielles Modell zum Zusammenhang von
Altersschwerhörigkeit und kognitivem Funktionsverlust
(adaptiert und erweitert nach [194]. Alterungsprozesse betreffen sowohl das sensorische
als auch das kognitive System. Altersbedingter Hörverlust
führt zu einem sensorischen Defizit mit Störung der
Wahrnehmung. Kompensationsmechanismen verstärken den Zugriff
auf (ohnehin bereits durch Alterung reduzierte) kognitive
Ressourcen. Die Kommunikationsstörung infolge der
Wahrnehmungsstörung begünstigt Einsamkeit und
sozialer Isolation, was negative psychosoziale Folgen (z. B.
Depression) hat und potentiell die Gebrechlichkeit erhöht.
Die kognitive Leistungsfähigkeit nimmt aufgrund der
multiplen Belastungen ab.
Altersbedingte neurodegenerative Veränderungen erhöhen die
kognitiven Anforderungen und führen in Kombination mit sensorischen
Defiziten zu einer gestörten Wahrnehmung. Die Kompensation der
Wahrnehmungsdefizite erhöht die kognitive Belastung, was zu
Einbußen der geistigen Leistungsfähigkeit führen
kann. Weitere sensorische Defizite (z. B. Seh- oder
Gleichgewichtsstörung) verstärken die
Beeinträchtigung. Die durch den Hörverlust bedingte
Kommunikationsstörung begünstigt soziale Isolation,
Einsamkeit und damit Depression und Gebrechlichkeit – letztere sind
unabhängig vom Hörverlust weitere Risikofaktoren für
kognitiven Funktionsverlust [53]
[221].
6. Kann Behandlung von Schwerhörigkeit die kognitive
Beeinträchtigung reduzieren?
6. Kann Behandlung von Schwerhörigkeit die kognitive
Beeinträchtigung reduzieren?
Aufgrund der breiten Verfügbarkeit von Hörsystemen wird die
Behandlung des altersbedingten Hörverlustes als erreichbarer Angriffspunkt
für die Demenzprävention wahrgenommen. Die
Überprüfung der Wirksamkeit einer solchen Intervention ist jedoch
mit besonderen Herausforderungen verbunden. Beispielsweise können im Rahmen
einer Beobachtungsstudie nur schwer die Qualität der
Hörsystemeinstellung sowie tägliche Tragedauer kontrolliert werden.
Letzteres wird inzwischen durch die Möglichkeit des Data-Loggings innerhalb
der Hörsysteme erleichtert. Eine aktuelle Untersuchung an
Datensätzen von mehr als 15.000 Hörgerätenutzern konnte so
die erhebliche inter- aber auch intraindividuelle Varianz der täglichen
Tragedauer objektivieren [222]. Gleichzeitig
spielen Faktoren wie sozioökonomischer Status, Bildungsstand, soziales
Umfeld, Kommunikationsverhalten und Zugang zu Gesundheitsvorsorge sowohl für
die Hörsystemnutzung als auch Risiko von kognitiven Einbußen eine
Rolle, so dass eine unabhängige Beurteilung des Einflusses der
Hörrehabilitation erschwert wird. Große Epidemiologische
Altersstudien haben in der Vergangenheit zwar teilweise die Hörschwelle,
nicht jedoch die systematische Nutzung von Hörhilfen mit erfasst
(z. B. für den deutschen Sprachraum [223]).
Eine 2018 in den USA initialisierte, multizentrische, randomisiert-kontrollierte
longitudinale Interventionsstudie an über 800 70–84-jährigen
Personen ohne Demenz mit gering-mittelgradigem Hörverlust vergleicht die
Wirksamkeit der Hörsystemversorgung vs. alleiniger
Gesundheitsaufklärung bei paralleler Erfassung von audiologischen als Daten
sowie der kognitiven Leistungsfähigkeit über einen Zeitraum von 3
Jahren (ACHIEVE-Studie, [224]) soll dieses
Problem adressieren, der Abschluss wird jedoch erst frühestens Ende 2022
erwartet.
Bezüglich der verschiedenen Interventionsmöglichkeiten finden sich
aktuell die meisten Daten zur konventionellen Hörgeräteversorgung,
in den letzten Jahren zunehmend auch zur Cochlea-Implantat-Versorgung.
6.1 Hörgeräteversorgung
Die Lancet Commission [24] führt 3
aktuelle Studien an, um den möglichen präventiven Effekt einer
Hörgeräteversorgung zur untermauern: In einer prospektiven
Studie konnte ein Zusammenhang zwischen dem vermehrten Auftreten einer Demenz
bei Probanden mit selbstberichteter Hörminderung innerhalb des
Beobachtungszeitraumes von 25 Jahren nur gezeigt werden, wenn diese keine
Hörgeräte trugen [225].
Die Querschnittsstudie von Ray et al. [226] fand ebenfalls kognitive Defizite nur bei der Untergruppe der
Schwerhörigen, die keine Hörgeräte trug, allerdings
unterschieden sich die untersuchten Gruppen erheblich hinsichtlich Alter und
Ausmaß des Hörverlustes. Die Langzeitstudie von Maharani et al.
[227] ergab eine Verlangsamung des
altersbedingten Funktionsverlustes im episodischen Gedächtnis nach
Beginn der Hörgeräteversorgung.
In einer umfangreichen systematischen Analyse von zwischen 1990 und 2020
publizierten Langzeitstudien zum Zusammenhang zwischen
Hörgerätenutzung und kognitiven Funktion [228] kamen die Autoren zu dem Schluss, dass
auf Basis der aktuellen Studienlage derzeit noch keine definitive Aussage
über den präventiven Effekt der
Hörgeräteversorgung möglich ist. Die Methodik der
vorhandenen Studien ist extrem heterogen, von besonderer Bedeutung ist der
allgemein kurze Nachbeobachtungszeitraum im Hinblick auf die eher langsam
verlaufenden altersbedingten kognitiven Funktionsverlust. Neben der bereits
erwähnten Studie von Maharani et al. [227] konnten die Autoren nur 1 weitere Untersuchung identifizieren,
bei der die Probanden mindestens 10 Jahre beobachteten, diese fand jedoch keine
Unterschiede zwischen Interventionsgruppe (mit Hörgeräten) und
Kontrollgruppe für alle kognitiven Maße [229]. Ein häufiges Problem bei
vergleichenden Studien waren darüber hinaus große
Hörschwellenunterschiede zwischen Interventions- und Kontrollgruppe. Des
Weiteren wurde in 9/17 Studien die
Hörgerätetragecompliance schlecht oder gar nicht berichtet, so
dass unklar blieb, inwiefern die Versuchspersonen die Hörgeräte
ausreichend nutzten. Der größte potentielle Nutzen der
Hörgeräteversorgung schien im Bereich der Exekutivfunktion zu
liegen – immerhin fand sich in 6/11 Studien eine Verbesserung
[228]. Zwei von 4 Studien fanden eine
signifikante Verbesserung durch das Tragen von Hörgeräten bei
Verwendung von Screening-Tests (MMST). Allerdings wurde nicht berichtet, ob die
Version für Schwerhörige zum Einsatz kam, so dass nicht
ausgeschlossen werden kann, dass aufgrund der Hörstörung bei der
Baseline-Untersuchung der kognitive Funktionsverlust überschätzt
wurde und die gefundene Verbesserung durch Tragen der Hörgeräte
lediglich auf ein besseres Verständnis der auditiv präsentierten
Aufgaben zurückzuführen ist.
6.2 Cochlea-Implantat-Versorgung
Das ältere hochgradig schwerhörige oder taube Patienten von einer
Cochlea-Implantation im Hinblick auf Sprachverstehen und Lebensqualität
profitieren, ist gut belegt (z. B. [230]
[231]
[232]
[233]
[234]). Im Vergleich zu
Normalhörenden ist bereits durch die Signalverarbeitung des
Cochlea-Implantates das eingehende Signal hochgradig degradiert, was von
vornherein einen größeren Einsatz kognitiver Ressourcen
erfordert, um Sprache zu verstehen. Geht man davon aus, dass Alterungsprozesse
der zentralen Hörbahn CI-Träger in gleichem Umfang betreffen,
wie Hörgesunde, sind ältere CI-Nutzer noch stärker
benachteiligt, weil die gestörte zeitliche Verarbeitung das ohnehin
degradierte Signal noch weiter verschlechtert[235]. Wie bei Normalhörenden hat die Funktion des
Arbeitsgedächtnisses Einfluss auf das Sprachverstehen [236]
[237] und linguistischer Kontext kann in gewissem Umfang genutzt
werden, um Sprachverstehen zu verbessern [238].
In den letzten Jahren wurden eine Reihe von Studien publiziert, die sich explizit
mit der Veränderung (globaler) kognitiver Funktionen durch
Cochlea-Implantation auseinandersetzen [239]
[240]
[241]
[242]
[243]
[244]
[245]
[246]
[247]
[248]
[249]
[250]
[251]. Ähnlich wie bei den
Hörgeräteträgern variierten auch hier die
gewählten neurokognitiven Testbatterien stark, allerdings kamen
zunehmend für Hörgeschädigte geeignete Tests zum Einsatz
[244]
[245]
[246]
[247]
[248]
[251]
[252]. Der Nachbeobachtungszeitraum war in
den meisten Studien relativ kurz (12 Monate), vermutlich weil die betreffenden
Langzeitstudien erst in den letzten Jahren initiiert wurden. 4 Arbeitsgruppen
berichteten über Ergebnisse nach 18 [251], 24 [246], mindestens 25
[242] bzw. 60 Monaten [240]. Bereits innerhalb des kurzen
Nachbeobachtungszeitraums wurden positive Effekte insbesondere auf die
Exekutivfunktionen berichtet. Ein limitierender Faktor sind die geringen
Fallzahlen – meist wurde über < 20 Patienten
berichtet [241]
[242]
[243]
[244]
[252]. Die größten
Fallzahlen bei gleichzeitiger Verwendung einer für Schwerhörige
adaptierten neurokognitiven Testbatterie wurden bisher von Völter et al.
untersucht [246]
[247]
[248]: Hierbei zeigten sich im Nachbeobachtungszeitraum von mindestens
24 Monaten bei 71 älteren CI-Patienten (mittleres Alter bei Implantation
66,03 Jahre) bereits nach 6 Monaten gegenüber der präoperativen
Leistung signifikante Verbesserungen der Exekutivfunktionen (Aufmerksamkeit,
Arbeitsgedächtnis, Inhibition), nach 12 Monaten hatten sich
zusätzlich Gedächtnis und Wortflüssigkeit signifikant
verbessert. Nach 24 Monaten war eine Verbesserung der
Verarbeitungsgeschwindigkeit zu verzeichnen, Inhibitionskontrolle (Flanker) war
nicht mehr signifikant verbessert, bei der mentalen Flexibilität ergaben
sich keine Veränderungen im gesamten Untersuchungszeitraum.
Präoperativ lag die Leistung von 12 der 71 Versuchspersonen in 3 oder
mehr Subtests unterhalb des 68% Konfidenzintervals, nach 12 Monaten war
dies nur noch bei 3/71 Probanden der Fall. Bis zum Ende des
Untersuchungszeitraumes hatten sich 5/71 Versuchspersonen in mehr als 2
Subtests verschlechtert. Die kognitive Leistungsfähigkeit hatte keinen
signifikanten Einfluss auf das Sprachverstehen in Ruhe.
Zu einem ähnlichen Ergebnis kamen auch Mosnier et al. [239] bei ihrer Untersuchung von 94
CI-Trägern im Alter zwischen 65 und 85 Jahren: Von den 37 Personen mit
präoperativ schlechterer kognitiven Funktion verbesserten sich
81% innerhalb der ersten 12 Monate, bei 19% blieb die Leistung
stabil. Hinsichtlich der Demenzentwicklung ist besonders die Nachfolgestudie der
selben Arbeitsgruppe interessant [240]: 80
Personen der ursprünglich 94 eingeschlossenen waren 5 Jahre nach der
Implantation noch am Leben, 70 davon konnten nachuntersucht werden. Vor der
Cochlea-Implantat-Versorgung lag bei 31 Personen die kognitive Leistung im
Bereich einer milden kognitiven Beeinträchtigung. Davon entwickelten
sich 32% zurück zu normaler Funktion, bei 6% kam es zu
einer Demenz, 61% blieben stabil. Von den 38 Versuchspersonen mit
präoperativ normaler Funktion entwickelte im Nachbeobachtungszeitraum
keiner eine Demenz, allerdings lag in 32% der Fälle die nach 5
Jahren die kognitive Leistung im Beriech einer milden kognitiven
Beeinträchtigung. Ein Zusammenhang mit dem erreichten Sprachverstehen
konnte nicht nachgewiesen werden.
Insgesamt zeigt sich bei allen bisher publizierten Studien ein deutlich
positiver, mindestens stabilisierender, meist sogar verbessernder Effekt der
Cochlea-Implantat-Versorgung.
7. Ausblick
Sensorische und kognitive Defizite sind über komplexe Bottom-up und Top-down
Prozesse eng miteinander verbunden. Die Folgen sowohl normaler als auch
pathologischer Alterungsprozesse werden unsere Gesellschaft zukünftig
unausweichlich vor große Herausforderungen stellen. Die Erkenntnis, dass
eine Reihe von Risikofaktoren bereits in Jugend und mittleren Lebensalter
modifizierbar sind, bietet Chancen zur Prävention. Insbesondere die
konsequente Behandlung von Schwerhörigkeit muss auch im Hinblick auf die
drohende soziale Isolation und Depression als weitere Risikofaktoren für
kognitiven Funktionsverlust noch stärker in den Fokus der
Gesundheitsaufklärung rücken, um den auch in
Industrieländern erschreckend niedrigen Versorgungsanteil zu
erhöhen. Die besonderen Bedürfnisse des älteren Menschen
sowohl im Hinblick auf die Bedienung der Hörsysteme (feinmotorische
Anforderung beim Batteriewechsel vs. Verwendung von Akkus, einfache
Bedienstruktur/Kopplung mit externen Systemen) als auch auf den
Anpassungsprozess (möglicherweise längere Gewöhnungsphase,
langsamere Verarbeitungsgeschwindigkeit, geringere Differenzierungsschärfe
beim Vergleich verschiedener Einstellungen) müssen dabei unbedingt
Berücksichtigung finden. Eine entsprechende Vergütung des damit
verbundenen erhöhten Zeitaufwandes für Beratung und wiederholte
Anpassung würde den Anreiz für die Versorger erhöhen, dieser
Patientengruppe die notwendige Aufmerksamkeit zu widmen. Den höheren
Versorgungskosten stünde bei erfolgreicher Anpassung eine deutlich
verbesserte Lebensqualität sowie längerer kognitiver Funktionserhalt
gegenüber, was über eine Reduktion des Pflegeaufwandes zu einer
gesamtgesellschaftlichen Entlastung führen könnte. Für die
Validierung des Versorgungserfolges sind weitere, langfristig angelegte Studien
erforderlich, die sowohl kognitive Funktion als auch Hörleistung sowie Art
und Umfang der Nutzung von Hörsystemen detailliert erfassen und methodisch
an mögliche kognitive und sensorische Defizite angepasste Messverfahren
einsetzen.
Danksagung
Ich danke Prof. Dr. med. R. Mlynski sowie Dr. med. I. Kilimann fürwertvolle
Anregungen und Diskussionen bei der Erstellung des Manuskriptes. Darüber
hinaus bedanke ich mich bei Frau A. Lühmann für ihre
Unterstützung bei der Erstellung der Abbildungen.