Subscribe to RSS

DOI: 10.1055/a-1981-1643
Empfehlungen für ein Kerncurriculum für Masterstudiengänge der Versorgungsforschung
Recommendations for a Core Curriculum for Master’s Degree Programs in Health Services ResearchZusammenfassung
Ziel der vorliegenden Arbeit war es, Empfehlungen für ein Kerncurriculum für Masterstudiengänge der Versorgungsforschung zu erarbeiten. Hierzu wurde im ersten Schritt eine standardisierte Online-Befragung von Hochschullehrenden durchgeführt. Im zweiten Schritt wurden die Modulhandbücher der existierenden Studiengänge in Bezug auf ihre Lehr-Lerninhalte analysiert. Die Inhalte wurden im dritten Schritt ergänzt durch eine Literaturrecherche. Im letzten Schritt wurden die Empfehlungen innerhalb einer Expertenrunde final diskutiert. Die resultierenden Empfehlungen umfassen 13 Themen zu fünf Leitfragen mit 26 Unterthemen. Die Schwerpunktthemen stammen aus den Bereichen der Grundlagenwissenschaften im Kontext der Versorgungsforschung, des Gesundheitssystems und der Gesundheitspolitik, dem (empirischen) Versorgungsforschungsprozess und dem Wissenstransfer. Die vorliegenden Empfehlungen dürfen als Diskussionsgrundlage und Ausgangspunkt für Weiterentwicklungen verstanden werden. Die Erarbeitung von Empfehlungen ist ein fortlaufender Prozess und eine fortwährende Aufgabe der wissenschaftlichen Gemeinschaft, da sich die Kernkompetenzen von Versorgungsforschenden kontinuierlich neuen Forschungsgegenständen, neuen Forschungsmethoden und sich verändernden Rahmenbedingungen anpassen müssen.
#
Abstract
The aim of the present study was to develop recommendations for a core curriculum for master’s degree programs in health services research. For this purpose, a standardized online survey of university lecturers was conducted in the first step. In the second step, the curricula of the existing study programs were analyzed. In the third step, a literature search was conducted. In the last step, the resulting recommendations were discussed in a panel of experts. The final recommendations comprise 13 topics on five guiding questions with 26 subtopics. The main topics come from the areas of basic sciences in the context of health services research, the health care system and health policy, the (empirical) health services research process, and knowledge transfer. The present recommendations will serve as a basis for discussion and as a starting point. The development of recommendations should be seen as an ongoing process, as the core competencies of health services researchers will have to be continuously adapted to new research topics, new research methods and regulations.
#
Schlüsselwörter
Versorgungsforschung - Hochschullehrer - Versorgungsforschungsstudiengänge - KerncurriculumKey words
health services research - university lecturer - core curriculum - master’s degree programsEinleitung
Die Versorgungsforschung untersucht Strukturen, Prozesse und Ergebnisse der Gesundheitsversorgung im Versorgungsalltag. Dabei betrachtet sie Individuen, Familien, Organisationen, Institutionen und Populationen [1]. Versorgungsforschung zeichnet sich darüber hinaus durch eine Patienten-, Populations- und Outcomeorientierung, die Berücksichtigung komplexer Interventions- und Kontextbedingungen sowie die interdisziplinäre und multiprofessionelle Beschreibung, Erklärung und Gestaltung des Versorgungsgeschehens aus [2]. Diese Merkmale können nur dann umgesetzt werden, wenn die Versorgungsforschung von Beginn an sämtliche Anspruchs- und Interessensgruppen aus Praxis (z. B. Leistungserbringer, Kostenträger, Patientinnen und Patienten), Wissenschaft und Politik einbezieht [3] [4].
Förderinitiativen des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) und des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) zusammen mit den Kostenträgern im deutschen Gesundheitswesen haben früh Impulse für die nationale Versorgungsforschung gesetzt. Ebenso fördern Einrichtungen der ärztlichen Selbstverwaltung (z. B. die Bundesärztekammer) oder Stiftungen wie die Deutsche Krebshilfe (DKH) kontinuierlich Versorgungsforschungsvorhaben. Auch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) hat früh dazu aufgefordert, die bestehenden Fördermöglichkeiten der DFG stärker für disziplinübergreifende Anträge der Versorgungsforschung zu nutzen. Die Einführung des Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), der innovative Versorgungsformen und praxisnahe Vorhaben der Versorgungsforschung zur Verbesserung der medizinischen Regelversorgung fördert [5], hat einen weiteren wichtigen Impuls für die Versorgungsforschung gegeben.
Diese förderlichen Rahmenbedingungen ermöglichen es, in Deutschland die Wissensbasis zur Beschreibung, Erklärung, Evaluation und Gestaltung des Versorgungsgeschehens kontinuierlich zu erweitern. Dies trägt dazu bei, intersektorale Schnittstellen zu überwinden, die Implementierung und Evaluation von Innovationen in der Versorgungsrealität zu fördern und gesundheitliche Ungleichheiten zu reduzieren [6] [7]. Idealerweise werden dadurch die Bedingungen für eine evidenzbasierte Versorgungsgestaltung und ein lernendes Gesundheitssystem geschaffen. Der Versorgungsforschung kann aufgrund gleichlautender professoraler Denominationen, eigener Karrierewege und fachspezifischer Methoden einerseits eine zunehmende wissenschaftliche Eigen- und Selbstständigkeit zugeschrieben werden, andererseits bedient sie sich, je nach Forschungsgegenstand, theoretischer Fundierungen und methodischer Herangehensweisen der Bezugsdisziplinen, z. B. der Medizin, Pflegewissenschaft, Hebammenwissenschaft, Psychologie, Soziologie, Epidemiologie, Statistik, Gesundheitsökonomie, Gesundheitswissenschaften, Klinischen Pharmakologie, Ethik oder anderer Disziplinen [8] [9]. Konstituierend, für eine eigenständige Wissenschaftsdisziplin, ist eine Auseinandersetzung über Bildungsziele und -inhalte notwendig.
Weiterführender Bildungsbedarf für Versorgungsforschende besteht sowohl in den spezifischen empirischen Forschungsmethoden und Theorien der jeweiligen Bezugsdisziplinen sowie in Bezug auf Terminologie, Rahmenmodelle, Datenquellen, Datenauswertungsmethoden und die Funktionsweise des deutschen Gesundheitssystems [8]. Eine Möglichkeit, diesen Bildungsbedarf zu decken, sind Masterstudiengänge der Versorgungsforschung. Derzeit werden sechs Studiengänge in Deutschland angeboten [10]. Weitere drei Studiengänge wurden in diesem Jahr akkreditiert und nehmen aktuell erste Studierende auf. Die Anzahl der Studiengänge hat sich in den letzten vier Jahren verdreifacht. Im Zuge der Analyse und Diskussion der Lehr-Lerninhalte der genannten sechs Studiengänge der Versorgungsforschung wurde deutlich, dass ein kritischer Austausch zu Empfehlungen für ein Kerncurriculum notwendig ist [10]. Mit der Schaffung eines Minimalkonsens werden Qualitätsstandards postuliert, die einer Beliebigkeit von Bildungsinhalten entgegen wirken und damit die Ansprache von Studieninteressierten und Arbeitgebern erleichtern sollen. Gleichzeitig bietet ein Kerncurriculum , durch die Schaffung von verbindlichen Ausbildungsinhalten eine Orientierung, um eigene Schwerpunkte der Lehr-Lerninhalte zu setzen.
Bislang existieren keine Empfehlungen für ein Kerncurriculum der Versorgungsforschung, die Studierenden, Lehrenden, zukünftigen Arbeitgebern, der Versorgungspraxis oder der Gesundheitspolitik eine Orientierung über zentrale Inhalte eines Masterstudiums der Versorgungsforschung geben könnten. Vor diesem Hintergrund ist es das Ziel der vorliegenden Arbeit, Empfehlungen für ein Kerncurriculum der Versorgungsforschung zu erarbeiten.
#
Methodik
Die Erarbeitung der Empfehlungen für ein Kerncurriculum Versorgungsforschung erfolgte in vier Schritten:
-
Zur Erhebung der derzeitigen Situation der Versorgungsforschung in Forschung und Lehre an deutschen Universitäten und Hochschulen wurde in Schritt 1 eine standardisierte Online-Befragung der Hochschullehrenden durchgeführt [8]. Auf dieser Basis wurden die zum Befragungszeitpunkt akkreditierten und in Akkreditierung befindlichen Studiengänge identifiziert.
-
In Schritt 2 wurden die Studiengangsleitungen gebeten, die Formalia der Studiengänge (Zulassungsbedingungen, Zielgruppe, Abschluss etc.) in Studienübersichten („Steckbriefen“) zusammenzufassen. Daraufhin wurden die Studiensteckbriefe sowie die Modulhandbücher der sechs Studiengänge in Bezug auf ihre Lehr-Lerninhalte analysiert [10]. Das Ergebnis dieser Analyse ging in die hier genannten Empfehlungen ein. Ausgewählt wurden diejenigen Lehr-Lerninhalte und ihre Unterthemen, die in mindestens drei Studiengängen gelehrt werden und die keinen spezifischen Bezug zu einer Bezugsdisziplin der Versorgungsforschung haben, um gemäß dem Verständnis der Versorgungsforschung die wesentlichen Gemeinsamkeiten interdisziplinär zu erfassen.
-
Diese Auswahl wurde in Schritt 3 ergänzt durch zusätzliche Themen, die aus einer Literaturrecherche extrahiert wurden. Die Analyse wurde am 23.07.2021 in der Datenbank Pubmed mit folgenden Suchtermen durchgeführt: (“health services research” [Title] OR “health care research”[Title]) AND (“programme”[Title/Abstract] OR “master”[Title/Abstract] OR “graduate”[Title/Abstract] OR “postgraduate”[Title/Abstract] OR “competence”[Title/Abstract] OR “skills”[Title/Abstract]). Berücksichtigt wurden ab dem Jahr 1995 publizierte, deutsch- oder englischsprachige Original- und Übersichtsarbeiten sowie Diskussions- und Positionspapiere, die sich mit Lehr-Lerninhalten von Versorgungsforschungsstudiengängen, mit Wissen, Fertigkeiten und Kompetenzen von Versorgungsforschenden oder mit Aus- und Fortbildungsbedarfen von Versorgungsforschenden befassen. Darüber hinaus wurde eine Handsuche in Fachzeitschriften sowie Fach- und Lehrbüchern durchgeführt. Aus diesem Material wurde ein Vorschlag für ein Kerncurriculum von der Gruppe der Autorinnen und Autoren erarbeitet.
-
Im Schritt 4 wurden dieser Vorschlag innerhalb einer Expertenrunde aus 13 Hochschullehrerinnen und Hochschullehrern der Versorgungsforschung diskutiert, um fehlende Lehr-Lerninhalte zu ergänzen oder von den Expertinnen und Experten als weniger bedeutend eingeschätzte Lehr-Lerninhalte zu entfernen.
#
Ergebnisse
Die Ergebnisse aus Schritt 1 [8] und Schritt 2 [10] wurden bereits publiziert. Im Folgenden dargestellt sind die Ergebnisse aus den Schritten 3 und 4.
In Schritt 3 ergab die Literaturrecherche 61 Treffer. Weitere 2 Arbeiten wurden als Ergebnis der Handsuche zusätzlich berücksichtigt. Nach dem Screening der Abstracts wurden 10 Volltexte und ein Lehrbuch der Versorgungsforschung [2] in Bezug auf Hinweise für Lehr-Lerninhalte ausgewertet (siehe [Tab. 1]). Dabei wurden zunächst die Lehr-Lerninhalte der deutschen Studiengänge nach den oben beschriebenen Kriterien extrahiert. Daraufhin wurden die aus den weiteren Volltexten und dem Lehrbuch extrahierten Inhalte hinzugefügt, die bislang nicht aufgeführt waren.
Leitfrage |
Themen |
Unterthemen |
Quellen |
Evidenz |
---|---|---|---|---|
Welche Theorien, Modelle, Konzepte und Begriffe bilden den wissenschaftlichen Rahmen der Versorgungsforschung? |
Versorgungswissenschaft |
Theorien, Modelle, Rahmenkonzepte |
Konsensuspapier, Originalarbeit, Lehrbuch |
|
Terminologie, Nomenklatur |
Konsensuspapier, Originalarbeit, Lehrbuch |
|||
Forschungsgegenstände der VF |
Konsensuspapier, Originalarbeit Lehrbuch |
|||
Implementierungswissenschaft |
Theorien, Modelle, Rahmenkonzepte |
Konsensuspapier, Originalarbeit, Lehrbuch |
||
Entwicklung, Pilotierung, Evaluation und Implementierung kompl. Interventionen/Praktiken |
[2] |
Lehrbuch |
||
Grundlagen der Epidemiologie |
[10] |
Originalarbeit |
||
Wie funktioniert das Gesundheitssystem? |
Gesundheitssystem |
Organe, Funktionsweisen, Finanzierung, Zusammenarbeit |
Konsensuspapier, Originalarbeit, Lehrbuch |
|
Versorgungsbedarf, -strukturen und -prozesse |
Originalarbeit, Lehrbuch |
|||
Gesundheitspolitik |
[10] |
Originalarbeit |
||
Akteure |
Professionen, multiprofessionelle Zusammenarbeit |
Expertenrunde |
||
Grundsätzliche Haltung |
Nutzer- und Patientenorientierung |
Expertenrunde |
||
Welche Probleme bestehen im Gesundheitssystem und in der Versorgungspraxis? |
Gemeinsame Forschung mit Entscheidungsträgern aus Politik und Versorgungspraxis |
Partnerschaften zwischen VF und Entscheidungsträgern |
Originalarbeit, Diskussionspapier, Konsensuspapier |
|
Identifizieren von Forschungsinteressen von Entscheidungsträgern |
Originalarbeit, Diskussionspapier, Konsensuspapier |
|||
Aufbau und Pflege von Netzwerken mit Entscheidungsträgern |
Originalarbeit |
|||
(Empirische) Versorgungsforschung |
Entwickeln und Formulieren von relevanten Forschungsfragen |
Konsensuspapier, Originalarbeit |
||
Wie beforscht man die Probleme im Gesundheitssystem und in der Versorgungspraxis? |
Forschungsethik und Regularien |
Originalarbeit, Konsensuspapier |
||
(Systematische) Literaturrecherchen und Literaturübersichten |
Originalarbeit |
|||
Operationalisieren von Forschungsfragen |
Konsensuspapier, Originalarbeit |
|||
Studiendesigns |
Originalarbeit, Konsensuspapier |
|||
Bewertung von Studien |
[10] |
Originalarbeit |
||
Wissenschaftliche Gütekriterien |
Originalarbeit, Konsensuspapier |
|||
Quantitative Forschungsmethoden |
Originalarbeit, Konsensuspapier Lehrbuch |
|||
Qualitative Forschungsmethoden |
Originalarbeit, Konsensuspapier Lehrbuch |
|||
Methodentriangulation |
Originalarbeit, Konsensuspapier |
|||
VF-spezifische Methoden: Patient Reported Outcome Measures, Patient Reported Experience Measures, organisationsbezogene VF |
Originalarbeit, Konsensuspapier Lehrbuch |
|||
Routine- und Sekundärdatenquellen |
Konsensuspapier, Originalarbeit Lehrbuch |
|||
Studien- und Projektmanagement |
[10] |
Originalarbeit |
||
Partizipative Forschung |
[10] |
Originalarbeit |
||
Arbeiten in interdisziplinären Forschungsteams |
Originalarbeit, Konsensuspapier |
|||
Schreiben von Forschungsanträgen |
[12] |
Konsensuspapier |
||
Wie verbreitet man die Forschungsergebnisse? |
Wissenschaftskommunikation und Wissenstransfer |
Publizieren von Studienergebnissen |
Originalarbeit |
|
Präsentieren von Studienergebnissen |
Originalarbeit |
|||
Wissenstransfer |
Originalarbeit, Konsensuspapier |
Im Schritt 4 wurden diese Lehr-Lerninhalte in der Diskussion um drei weitere Themen und fünf strukturierende Leitfragen ergänzt. Ein Thema wurde aus den Empfehlungen entfernt.
Die aus den Schritten 1–4 resultierenden finalen Empfehlungen für ein Kerncurriculum Versorgungsforschung werden im Folgenden dargestellt (siehe [Tab. 1]).
#
Diskussion
Ziel dieser Arbeit war es, auf der Basis empirischer und theoretischer Entwicklungsschritte Empfehlungen für ein Kerncurriculum der Versorgungsforschung zu erarbeiten. Die hier präsentierten Inhalte basieren auf einer deutschlandweiten standardisierten Expertenbefragung, einer Analyse der Studiensteckbriefe und Modulhandbücher der deutschen Masterstudiengänge der Versorgungsforschung, einer Literaturrecherche sowie einer Konsentierung der erarbeiteten Empfehlungen durch eine Expertenrunde aus Hochschullehrerinnen und Hochschullehrern der Versorgungsforschung.
Die Empfehlungen umfassen 13 Themen zu fünf Leitfragen mit 26 Unterthemen. Die Schwerpunktthemen stammen aus den Bereichen der Grundlagenwissenschaften im Kontext der Versorgungsforschung, des Gesundheitssystems und der Gesundheitspolitik, dem (empirischen) Versorgungsforschungsprozess und dem Wissenstransfer. Die Empfehlungen basieren auf Arbeiten mit unterschiedlichem methodischen Hintergrund und verschiedenen Zielsetzungen sowie auf nationalen Expertenmeinungen. Die aus der US-amerikanischen Literatur identifizierten Lehr-Lerninhalte basieren insbesondere auf Konsensuspapieren der wissenschaftlichen Gemeinschaft zu Kernkompetenzen von promovierenden Versorgungsforschenden, aus denen Lernziele und Studieninhalte abgeleitet werden sollen [9] [11] [12]. Eine kanadische Arbeit stützt sich auf die Perspektive der Absolventen [13]. Die nationale Perspektive stammt vorrangig aus der Analyse der derzeit bestehenden Studiengänge [10] und des deutschsprachigen Lehrbuchs Versorgungsforschung [2] sowie aus der Expertendiskussion innerhalb der Gruppe der Hochschullehrinnen und Hochschullehrer. Weiterhin hinzugezogen wurden die Perspektive und die Erwartungen der Arbeitgeber [14] [15]. Insgesamt ist es gelungen, zahlreiche Perspektiven und umfangreiche Erfahrungen in die hier vorgeschlagenen Inhalte einzubeziehen.
Die zentralen Merkmale der Interdisziplinarität und der Multiprofessionalität der Versorgungsforschung finden sich in den Empfehlungen insbesondere im Bereich der Zusammenarbeit der Akteure im Gesundheitswesen, in sämtlichen Aspekten der gemeinsamen Forschung mit Entscheidungsträgern aus Politik und Versorgungspraxis sowie in den Methoden der partizipativen Forschung wieder. Das zentrale Merkmal der Patientenorientierung findet sich ebenso im Bereich der partizipativen Forschung, in den methodischen Aspekten der Messung von Patient Reported Outcome- und Patient Reported Experience Measures wie auch in der Nutzer- und Patientenorientierung des Gesundheitssystems wieder.
Deutlich wird, dass sich der Terminus der Versorgungswissenschaft im Kontext dieser Arbeit nur selten wieder findet. Ein entsprechender Diskurs dazu, inwieweit sich die Versorgungsforschung zu einer Wissenschaftsdisziplin entwickeln kann, findet derzeit statt. Die nun vorliegende erste Auseinandersetzung über Bildungsziele und -inhalte ist ein wichtiger Schritt in der Konstituierung einer eigenständigen Wissenschaftsdisziplin. In diesem Zusammenhang spielt die Implementierungswissenschaft eine wichtige Rolle, deren Ziel es ist, durch wissenschaftliche Designs, Methoden und Instrumente Evidenz in den Routineversorgungsalltag zu überführen, um letztlich die Versorgung zu verbessern [10]. Interessant ist, dass sich diese junge Disziplin zu ihrer eigenen Wissenschaftsetablierung, ähnlich wie die Versorgungsforschung, sowohl auf Theorien und Methoden anderer etablierten Wissenschaftsdisziplinen stützt, als auch mittlerweile auf disziplineigene Theorien und Modelle verweisen kann [16]. Somit ergänzt sie hierbei die Versorgungsforschung auf den verschiedenen Translationsstufen der Forschung [17] um letztlich den notwendigen Implementierungserfolg, mit Effekten auf Versorgungs- und Implementierungsebene [18], herzustellen. Eine gemeinsame und nicht nur wissenschaftsspezifische Diskussion der Disziplinen einschließlich ihrer Lehr-Lerninhalte erscheint als geboten, um ein gemeinsames Verständnis von Implementierungserfolg und damit zur Alltagswirksamkeit zu entwickeln.
Zu betonen ist, dass es sich bei der vorliegenden Arbeit lediglich um Empfehlungen für ein Kerncurriculum handelt. Derzeit existierende und zukünftig entstehende Studiengänge werden bestimmte Inhalte mehr in den Vordergrund rücken als andere. Im Rahmen der Studiengangsanalyse [10] hat sich darüber hinaus gezeigt, dass die Studiengänge in Deutschland zusätzliche inhaltliche und methodische Schwerpunkte setzen, die spezifische Anforderungen der Versorgung in den Blick nehmen.
Burgess et al. [12] entwickelten einen Vorschlag für eine Typologie von Versorgungsforschenden. Sie unterscheiden quantitativ/ökonomisch-orientierte, klinisch-orientierte, organisationsbezogene, verhaltensorientierte und Public-Health-orientierte Versorgungsforschende. Um die nationalen Versorgungsforschungsbedarfe zu decken, erscheint es zielführend, dass diese und mögliche weitere Versorgungsforschenden-Typen in Deutschland an verschiedenen Hochschulstandorten mit einer spezifischen Schwerpunktsetzung ausgebildet werden können. Aktuell werden am deutschen Arbeitsmarkt vor allem Methodenkompetenzen und Kenntnisse des deutschen Gesundheitswesens von Versorgungsforschenden explizit nachgefragt [14]. Dieses Qualifikationsprofil wird von den vorliegenden Empfehlungen für ein Kerncurriculum umfassend gedeckt.
Die vorliegenden Empfehlungen sollen als Diskussionsgrundlage verstanden werden. Die Erarbeitung von Empfehlungen sollte als ein fortlaufender Prozess und eine andauernde Aufgabe der wissenschaftlichen Gemeinschaft betrachtet werden, da sich die Kernkompetenzen von Versorgungsforschenden ständig neuen Forschungsgegenständen, neuen Forschungsmethoden und sich verändernden Rahmenbedingungen anpassen müssen [12]. Somit kann auch die Forschungstätigkeit von Versorgungsforschenden als kontinuierlicher Erwerb neuer Kompetenzen und somit neuen Wissens und neuer Fertigkeiten betrachtet werden [12]. Ziel der Hochschullehre im Bereich der Versorgungsforschung sollte es stets sein, die Versorgungsforschenden auf bestehende Hürden in der Bearbeitung ihrer Forschungsfragen vorzubereiten und sie zu befähigen, die Versorgungsforschung der Zukunft auf eine breite Datenbasis stellen zu können [19] und damit ein lernendes Gesundheitssystem zu ermöglichen [20]. Aktuelle Herausforderungen wie die COVID 19-Pandemie haben gezeigt, dass es eine wichtige Aufgabe der Zukunft sein muss, die Aktualität, Reichweite und Sichtbarkeit versorgungswissenschaftlicher Evidenz zu verbessern.
Letztlich ist bei den genannten Empfehlungen zu beachten, dass diese nicht die Kompetenzentwicklung im Sinne des Hochschulqualifikationsrahmens und auch nicht eine etwaige Vernetzung der Inhalte im Lehr-Lernalltag auf konkreter Veranstaltungsebene widerspiegeln. Die genannten Themen und Unterthemen dienen lediglich einer inhaltlichen Orientierung.
International wird bereits seit längerem die Zusammenführung von Versorgungsforschung und medizinischer Ausbildung an Medizinischen Fakultäten und Hochschulen empfohlen, um auch Medizinstudierende auf die über die klinischen Aufgaben hinausgehenden Rollen ihrer Profession vorzubereiten [21]. Die Diskussion über die notwendigen Kerninhalte der Versorgungsforschung für diese Zielgruppe sowie Studierende weiterer berufsqualifizierender Studiengänge in anderen Gesundheitsberufen ist in Deutschland noch zu führen. Auch die Chancen, die für Studierende der Versorgungsforschung in interprofessionellen Lehrveranstaltungen gemeinsam mit Studierenden der Humanmedizin oder anderer Gesundheitsberufe liegen könnten, werden noch nicht ausreichend diskutiert. Die hier formulierten Empfehlungen für ein Kerncurriculum der Versorgungsforschung können auch für diese Überlegungen ein Ausgangspunkt sein.
#
#
Interessenkonflikt
Prof. Dr. Silke Kuske, Entwicklung und Studiengangsleitung des Masterstudiengangs Versorgungsforschung und Management im Gesundheitswesen M.Sc. an der Fliedner Fachhochschule Düsseldorf. Michel Wensing ist Studiengangsleiter des M.Sc. Programms Versorgungsforschung und Implementierungwissenschaft im Gesundheitswesen an der Universität Heidelberg. Prof. Dr. Bernd Reuschenbach ist Studiengangsleiter des Masterstudiengangs „Angewandte Versorgungsforschung“ an der Katholischen Stiftungshochschule München. Prof. Dr. Andreas Büscher ist Studiengangsbeauftragter an der Hochschule Osnabrück für den Studiengang HELPP – Versorgungsforschung und -gestaltung. Prof. Dr. Matthias Bethge leitet den Masterstudiengang Gesundheits- und Versorgungswissenschaften an der Universität zu Lübeck. Prof. Dr. Lena Ansmann ist Studiengangsleiterin des M.Sc. Versorgungsforschung an der Universität Oldenburg. Prof. Dr. Holger Pfaff und Prof. Dr. Nicole Ernstmann leiten das M.Sc. Programm Versorgungswissenschaft an der Universität zu Köln.
Danksagung
Wir danken Herrn Prof. Dr. Dawid Pieper für seine sorgfältige Durchsicht des Manuskripts und der Expertenrunde aus der Gruppe der Hochschullehrenden im Deutschen Netzwerk Versorgungsforschung e.V. für ihren wertvollen Beitrag zur Erarbeitung der vorliegenden Empfehlungen.
* Nicole Ernstmann und Silke Kuske teilen sich die Erstautorenschaft.
-
Literatur
- 1 Lohr KN, Steinwachs DM. Health services research: an evolving definition of the field. Health Serv Res 2002; 37: 7-9
- 2 Pfaff H, Neugebauer EAM, Schrappe M. et al. Lehrbuch Versorgungsforschung: Systematik - Methodik - Anwendung. 2. Aufl.. Stuttgart: Schattauer Verlag; 2017
- 3 Bensing JM, Caris-Verhallen WMCM, Dekker J. et al. Doing the right thing and doing it right: toward a framework for assessing the policy relevance of health services research. Int J Technol Assess Health Care 2003; 19: 604-612
- 4 Hinchcliff R, Greenfield D, Braithwaite J. Is it worth engaging in multi-stakeholder health services research collaborations? Reflections on key benefits, challenges and enabling mechanisms. Int J Qual Health Care 2014; 26: 124-128
- 5 Hallek M. Innovationsfonds: Die Chance muss genutzt werden!. Dtsch Med Wochenschr 2016; 141: 153-154
- 6 Grenz-Farenholtz B, Schmidt A, Verheyen F. et al. Zukunftsthemen der Versorgungsforschung – Was meinen die Experten?. Gesundheitswesen 2012; 74: 605-611
- 7 Pfaff H, Pförtner T-K. Der Beitrag der Versorgungsforschung zur Chancengerechtigkeit in der Gesundheit und in der Versorgung. Gesundheitswesen 2016; 78: 91-96
- 8 Ernstmann N, Heuser C, Pfaff H. Zur Situation der Versorgungsforschung an deutschen Universitäten, Hochschulen und Fachhochschulen. Gesundheitswesen 2020; 82: 313-317
- 9 Forrest CB, Martin DP, Holve E. et al. Health services research doctoral core competencies. BMC Health Serv Res 2009; 9: 107
- 10 Kuske S, Holmberg C, Wensing M. et al. Studiengänge zur Versorgungsforschung in Deutschland: aktueller Stand und zukünftige Perspektiven. Gesundheitswesen 2020;
- 11 Forrest CB, Chesley FD, Tregear ML. et al. Development of the Learning Health System Researcher Core Competencies. Health Serv Res 2018; 53: 2615-2632
- 12 Burgess JF, Menachemi N, Maciejewski ML. Update on the Health Services Research Doctoral Core Competencies. Health Serv Res 2018; 53: 3985-4003
- 13 Morrison E, Thornhill J, Sheps S. A Foot in Both Camps: Graduate Voices at the Interface of Applied Health Services Research, Policy and Decision-making. Healthc Policy 2008; 3: 118-130
- 14 Ullrich C, Mahler C, Forstner J. et al. Teaching implementation science in a new Master of Science Program in Germany: a survey of stakeholder expectations. Implement Sci 2017; 12: 55
- 15 Ullrich C, Stürmlinger A, Wensing M. Wer braucht Versorgungsforscher/innen? Eine Bestandsaufnahme zum Berufsbild anhand von Stellenanzeigen. Z Evid Fortbild Qual Gesundhwes 2019; 147-148: 73-79
- 16 Nilsen P. Making sense of implementation theories, models and frameworks. Implement Sci 2015; 10: 53
- 17 Trochim W, Kane C, Graham MJ. et al. Evaluating translational research: a process marker model. Clin Transl Sci 2011; 4: 153-162
- 18 Kuske S, Willmeroth T, Schneider J. et al. Indicators for implementation outcome monitoring of reporting and learning systems in hospitals: an underestimated need for patient safety. BMJ Open Qual 2022; 11
- 19 Johnson C, Lizama C, Harrison M. et al. Cancer health professionals need funding, time, research knowledge and skills to be involved in health services research. J Cancer Educ 2014; 29: 389-394
- 20 Barratt H, Shaw J, Simpson L. et al. Health services research: building capacity to meet the needs of the health care system. J Health Serv Res Policy 2017; 22: 243-249
- 21 Hayes RP, Eley JW, Greenberg RS. et al. Linking health services research to education at an academic health center. Acad Med 1996; 71: 957-962
Korrespondenzadresse
Publication History
Article published online:
21 December 2022
© 2022. The Author(s). This is an open access article published by Thieme under the terms of the Creative Commons Attribution-NonDerivative-NonCommercial-License, permitting copying and reproduction so long as the original work is given appropriate credit. Contents may not be used for commercial purposes, or adapted, remixed, transformed or built upon. (https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/).
Georg Thieme Verlag
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart,
Germany