Schlüsselwörter Pflegebedürftigkeit, ambulante geriatrische Pflege,
pflegebedürftige Personen - pflegende Angehörige - ambulante Unterstützungsangebote
Key words long term care, outpatient geriatric care, care receivers - informal caregivers - outpatient support services
Einleitung
In Deutschland gab es im Jahr 2019 mehr als 4,1 Mio. pflegebedürftige
Personen [1 ]. Der Großteil (etwa
80%) wird zu Hause von ihren Angehörigen betreut [1 ]
[2 ] und
wünscht sich einen möglichst langen Verbleib im eignen
häuslichen Umfeld [1 ]
[3 ]. Da das Risiko einer
Pflegebedürftigkeit ab dem 80. Lebensjahr deutlich ansteigt [1 ]
[2 ],
wird die Anzahl der pflegebedürftigen Menschen mit der kontinuierlich
steigenden Lebenserwartung [4 ] weiter
zunehmen, wodurch die gesellschaftspolitische Relevanz der häuslichen Pflege
noch mehr an Bedeutung gewinnen wird [5 ].
Dabei liegt es im Interesse aller Akteure, dass die häusliche Pflege
möglichst dem stationären Aufenthalt in einem Pflegeheim vorzuziehen
ist [6 ].
Pflegende Angehörige können prinzipiell, jedoch regional
unterschiedlich, auf verschiedene Entlastungs- und Unterstützungsangebote
zurückgreifen, wenn die pflegebedürftige Person ambulant im
häuslichen Umfeld versorgt wird [2 ].
Dabei sind ärztliche von nicht-ärztlichen Versorgungsleistungen zu
unterscheiden [2 ]
[7 ] sowie formelle und informelle [8 ]. Als nicht-ärztliche Leistungen
werden laut SGB XI zum einen kontinuierliche Angebote wie die häusliche
Pflege durch den ambulanten Pflegedienst, Hilfe bei der Haushaltsführung
sowie Tages- und Nachtpflege, zum anderen temporäre Angebote wie die
Verhinderungspflege sowie Kurzzeitpflege aufgeführt. Neben diesen formellen
Angeboten mit speziell ausgebildetem, professionellem Personal, können laut
SGB XI pflegende Angehörige zusätzlich auch informelle Angebote, nur
kurz geschultes ehrenamtliches „Personal“, wie zum Beispiel einen
Betreuungsdienst, zur Unterstützung hinzuziehen.
Trotz hoher objektiver und subjektiver Belastungen der pflegenden Angehörigen
und dem damit einhergehenden Bedarf an formellen und informellen Entlastungs- und
Unterstützungsangeboten [5 ]
[9 ]
[10 ]
werden diese nur in geringem Umfang von den pflegenden Angehörigen genutzt
[11 ]
[12 ]
[13 ]. In der Literatur werden
verschiedene Gründe für diese Nicht-Nutzung genannt: Bis heute
spielen mangelnde Kenntnis der pflegebedürftigen Personen und deren
pflegenden Angehörigen bezüglich der vorhandenen Angebote sowie
deren Kostenübernahme eine wichtige Rolle [13 ]
[14 ]
[15 ]
[16 ]
[17 ]. Zusätzlich
möchten pflegebedürftige Menschen solche Dienste oft nicht nutzen,
da sie Einschränkungen ihrer Selbstbestimmung befürchten
beziehungsweise sie nicht von Fremden gepflegt werden wollen [1 ]
[3 ]
[13 ]
[16 ]
[18 ]
[19 ]. Weiterhin entsprechen die
Angebote nicht den Bedürfnissen oder Erwartungen der pflegenden
Angehörigen [9 ]
[18 ] oder es gibt Bedenken hinsichtlich der
Qualität [15 ]. Ein weiterer Grund
für eine geringe Inanspruchnahme ist, dass sich pflegende Angehörige
zumeist auf die Wünsche der zu pflegenden Person konzentrieren und ihnen die
eigenen Bedürfnisse oftmals nicht bewusst sind [20 ]. Deshalb wird häufig berichtet,
dass formelle oder informelle Unterstützung nicht benötigt wird
[21 ] und erst bei zu hoher Belastung und
stark eingeschränkter Lebensqualität Hilfe aufgesucht wird [17 ].
Zur genaueren Differenzierung der Bedürfnisse von pflegenden
Angehörigen bezüglich der Nutzung von
Unterstützungsangeboten entwickelte Stirling eine Typologie auf Grundlage
von Bradshaws soziologischer Taxonomie der sozialen Bedürfnisse [14 ]
[22 ].
Stirling unterscheidet hierbei vier Arten von Bedürfnissen, den sogenannten
„needs“, welche auf Englisch „normative“,
„expressed“, „felt“ und
„comparative“ heißen. Unter „normative need“
versteht man einen von Experten definierten normativen Standard, der festlegt, ob
ein Bedarf zur Nutzung eines Unterstützungsangebots vorhanden ist.
„Expressed need“ betrachtet die tatsächliche Nutzung eines
Unterstützungsangebots. Bei „felt need“ handelt es sich um
die gewünschte Nutzung eines Unterstützungsangebots. Bei
„comparative need“ werden Personen, die
Unterstützungsangebote nutzen, verglichen mit denjenigen, die sie nicht
nutzen.
In der bisherigen Forschung zur Inanspruchnahme ambulanter Dienste standen
insbesondere Menschen mit einer Demenzerkrankung und ihre pflegenden
Angehörigen im Fokus [9 ]
[11 ]
[12 ]
[15 ]
[16 ]
[19 ]
[20 ]
[21 ]. Dabei wurden vor allem die
tatsächliche Nutzung [3 ]
[11 ]
[12 ]
[13 ]
[15 ]
[16 ]
[18 ] oder die Wünsche
bezüglich der Nutzung betrachtet [14 ]
[16 ]
[17 ]
[19 ]
[20 ]
[23 ].
In dieser Arbeit wurde untersucht, wie die tatsächliche Nutzung
(„expressed need“) sowie die gewünschte Nutzung
(„felt need“) von ambulanten Unterstützungsangeboten in
einer repräsentativen Stichprobe gesetzlich versicherter
Pflegebedürftiger und ihrer pflegenden Angehörigen in Bayern ist.
Darüber hinaus wurde evaluiert, ob sich die tatsächliche und
gewünschte Inanspruchnahme von ambulanten Unterstützungsangeboten
unterscheidet, wenn die Pflegebedürftigen an Demenz erkrankt sind oder ein
anderer Grund für ihre Pflegebedürftigkeit vorliegt und ob es bei
der tatsächlichen Inanspruchnahme Unterschiede zwischen Frauen und
Männern gibt. Dabei beziehen sich die Analysen auf folgende ambulante
Pflege-/Unterstützungsangebote: ambulanter Pflegedienst,
Haushaltshilfe, Tagespflege, Essen auf Rädern, Fahrdienst, Betreuungsdienst,
24-Stunden-Betreuung und Betreuungsgruppe.
Methodik
Stichprobe
Im Rahmen der Studie „Benefits of Being a Caregiver“
(„Zugewinne durch die Pflege“) wurden pflegende
Angehörige im Zeitraum von Oktober 2019 bis März 2020 in ganz
Bayern befragt. Die Befragten betreuten oder pflegten eine gesetzlich
versicherte Person, die beim Medizinischen Dienst (MD) entweder einen Erstantrag
oder einen Antrag auf Erhöhung des Pflegegrads nach Sozialgesetzbuch XI
gestellt hatten. Von insgesamt 5,000 verteilten Fragebögen, die im
Rahmen der MD-Begutachtung überreicht wurden, kamen 1,082
(21,6%) ausgefüllt zurück. Für die vorliegende
Querschnittsuntersuchung wurden die Daten von 958 pflegenden Angehörigen
analysiert. Gründe für den Ausschluss waren fehlende
Informationen über die Nutzung von Unterstützungsangeboten
(n=3) oder das Alter von unter 65 Jahren der pflegebedürftigen
Person (n=121).
Datenschutz und Ethikvotum
Mit der freiwilligen Rücksendung des Fragebogens erklärten sich
die Teilnehmenden zur Verwendung der angegebenen Informationen in anonymisierter
Form bereit.
Die Ethik-Kommission der Medizinischen Fakultät der
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg hat der Studie
ein positives Votum erteilt (Antragsnummer 220_20 B).
Instrumente
Zur Erfassung formaler Unterstützungsangebote wurde ein Fragebogen in
Anlehnung an den Resource Utilization in Dementia [7 ] verwendet, der um für
Deutschland spezifischen ambulanten Unterstützungsangebote
„Betreuungsdienst“, „24-Stunden-Betreuung“ und
„Betreuungsgruppe“ ergänzt wurde [2 ]
[24 ]. Hierbei sollten die Befragten angeben, welche
Unterstützungsangebote sie gegenwärtig oder in letzter Zeit
nutzen oder genutzt haben („expressed need“ der Nutzenden) und
ob sie diese in Zukunft intensiver nutzen möchten („felt
need“ der Nutzenden). Wenn ein Angebot nicht genutzt wurde, wurde
gefragt, ob in Zukunft eine Nutzung beabsichtigt ist („felt
need“ der Nicht-Nutzenden).
Mit der häuslichen Pflegeskala (HPS) wurde die subjektive Belastung der
Pflegenden durch die Pflege gemessen. Es wurde die Kurzversion der HPS (HPS-k)
mit 10 Items verwendet [25 ]. Die
Antwortmöglichkeiten wurden auf einer vier-stufigen Skala von 0 (stimmt
nicht) bis 3 (stimmt genau) erfasst. Dabei spricht ein höherer
Gesamtsummenwert (Spannweite von 0 bis 30) für eine stärkere
subjektive Belastung der pflegenden Angehörigen. Die Werte zwischen 0
bis 4 deuten auf eine niedrige Belastung hin, Werte zwischen 5 bis 14 bedeuten
eine mittlere Belastung und Werte zwischen 15 und 30 weisen auf eine hohe
Belastung hin [26 ].
Darüber hinaus wurden soziodemografische Daten der pflegenden
Angehörigen, der pflegebedürftigen Person sowie zur
Pflegesituation erfasst.
Datenanalyse
Zur Stichprobenbeschreibung wurden für kategoriale Variablen absolute und
relative Häufigkeiten und für metrische Variablen Mittelwerte
und Standardabweichung berechnet.
Bezüglich der Inanspruchnahme der einzelnen ambulanten
Unterstützungsangebote wurden für die
„expressed“ und „felt needs“ absolute und
relative Häufigkeiten ausgegeben, getrennt nach Demenzerkrankung und
Nicht-Demenzerkrankung als Ursache der Pflegebedürftigkeit. Unterschiede
zwischen diesen beiden Gruppen wurden mit Chi2 - bzw. t-Test auf
Signifikanz analysiert. Aufgrund der Stichprobengröße (knapp
1000) wurde als Signifikanzniveau p<0,01 festgelegt. Für
sämtliche Berechnungen wurde IBM SPSS Statistics 28.0 verwendet.
Ergebnisse
Die Charakteristika der 958 pflegenden Angehörigen sowie der von ihnen
gepflegten Personen sind in [Tab 1 ]
dargestellt. Im Durchschnitt waren die Befragten 62 Jahre alt. Drei Viertel waren
Frauen und etwa die Hälfte war erwerbstätig. Im Durchschnitt zeigten
sie eine hohe subjektive Pflegebelastung. Die pflegebedürftigen Personen
waren im Durchschnitt 82 Jahre alt, zwei Drittel waren weiblich und bei mehr als
einem Drittel von ihnen lag eine Demenzerkrankung als Ursache für die
Pflegebedürftigkeit vor. Zwischen den pflegenden Angehörigen einer
demenzkranken und einer nicht-demenzkranken Person gab es keine signifikanten
soziodemographischen Unterschiede ([Tab 1 ]).
Dagegen waren die Demenzkranken im Durchschnitt signifikant älter und hatten
durchschnittlich einen signifikant höheren Pflegegrad. Die Pflegesituation
unterscheidet sich dahingehend, dass die durchschnittliche tägliche
Stundenzahl für Pflegetätigkeiten (ADL- und IADL-Hilfe sowie
Supervision) bei Demenz signifikant höher war und die pflegenden
Angehörigen einer demenzkranken Person sich durchschnittlich belasteter
fühlten (HPS).
Tab 1 Stichprobencharakteristika.
Variable
Stichprobe (N=958) n (%)
/MW±SD
Demenz (N=364) n (%) /MW±SD
Nicht-Demenz (N=594) n (%)
/MW±SD
p-Wert
Pflegende Angehörige
Geschlecht (weiblich)
724 (75,6)
262 (72,0)
462 (77,8)
0,044 a
Alter in Jahren
62,1±12,6
61,7±12,7
62,3±12,6
0,534 b
Bildungsabschluss (nominal)
0,471 a
Kein Schulabschluss
5 (0,5)
3 (0,8)
2 (0,3)
Hauptschule/Volksschule
365 (38,1)
138 (37,9)
227 (38,2)
Mittlere Reife/Realschule
405 (42,3)
145 (39,8)
260 (43,8)
Abitur/Fachhochschulreife
88 (9,2)
37 (10,2)
51 (8,6)
(Fach-)Hochschule/Universität
95 (9,9)
41 (11,3)
54 (9,1)
Erwerbstätigkeit (ja)
459 (47,9)
187 (51,4)
312 (52,5)
0,739 a
Zusammenwohnen mit gepflegter Person (ja)
505 (52,7)
195 (53,6)
310 (52,5)
0,690 a
Verwandtschaftsgrad
0,074 a
Partner
291 (30,4)
96 (26,4)
195 (32,68)
Eltern/Schwiegereltern
586 (61,2)
239 (65,7)
347 (58,4)
Sonstige
81 (8,5)
29 (8,0)
52 (8,8)
Pflegebedürftige Person
Geschlecht (weiblich)
316 (67,0)
255 (70,1)
387 (65,2)
0,117 a
Alter in Jahren
82,1±7,0
83,0±6,4
81,6±7,4
0,001
b
Demenz als Ursache der Pflegebedürftigkeit
364 (38,0)
-
-
-
Pflegegrad
<0,001
a
Kein Pflegegrad
190 (19,8)
48 (13,2)
142 (23,9)
Pflegegrad 1
136 (14,2)
44 (12,1)
92 (15,5)
Pflegegrad 2
315 (32,9)
114 (31,3)
201 (33,8)
Pflegegrad 3
211 (22,0)
94 (25,8)
117 (19,7)
Pflegegrad 4
106 (11,1)
64 (17,6)
42 (7,1)
Pflegesituation
Dauer der Pflege in Monaten
48,3±78,6
45,2±55,6
50,3±89,8
0,277 b
Durchschnittliche Stundenzahl für Hilfe bei
Tätigkeiten (ADL, IADL und Supervision)
8,9±5,1
9,5±5,4
8,5±4,9
0,005
b
HPS-k-Summenwert c
16,7±7,5
18,3±7,0
15,8±7,6
<0,001
b
a Chi2 (signifikante p-Werte in Fettdruck);
b t-Test (signifikante p-Werte in Fettdruck); c
HPS-k=Häusliche Pflege-Skala Kurzfassung (Spannweite: 0 bis
30).
„Expressed need“: Aktuelle Inanspruchnahme von ambulanten
Unterstützungsangeboten
Insgesamt nutzten in der Gesamtstichprobe zwei Fünftel (40%) der
Befragten keines der acht untersuchten Angebote. Der ambulante Pflegedienst
wurde von pflegenden Angehörigen mit 38,4% am häufigsten
in Anspruch genommen. Eine Haushaltshilfe nahm jede/r Vierte
(25,2%) in Anspruch, während das Essen auf Rädern
11,7% nutzten. Der Fahrdienst wurde von etwa einem Zehntel genutzt
(10,3%). Bei den übrigen Angeboten (Betreuungsdienst,
24-Stunden-Betreuung, Tagespflege, Betreuungsgruppe) lag die Nutzung jeweils
unter 10%. Pflegende Angehörige, die einen Menschen mit Demenz
pflegten, nutzten signifikant häufiger die Tagespflege
(p< 0,001), Essen auf Rädern (p< 0,001),
Betreuungsgruppe (p<0,001) sowie einen Betreuungsdienst
(p= 0,008) als die Angehörigen eines
Pflegebedürftigen ohne Demenz (siehe [Abb. 1 ]). Die weiblichen und die männlichen pflegenden
Angehörigen unterscheiden sich nicht bei der aktuellen
Inanspruchnahme.
Abb. 1 Aktuelle Inanspruchnahme („expressed need“)
von ambulanten Diensten bei Demenz und Nicht-Demenz in %
(Gesamtstichprobe n=958); *p<0,01
**p<0,001.
„Felt need“ der Nutzenden: Intensivere Nutzung von ambulanten
Unterstützungsangeboten
Bei den Nutzenden (n=577; Nutzung mindestens eines ambulanten
Unterstützungsangebotes) gaben 18,4% an, dass sie mindestens ein
ambulantes Unterstützungsangebot intensiver nutzen möchten:
ambulanter Pflegedienst (13,6%), Tagespflege (15,7%),
Betreuungsdienst (16,7%) und Haushaltshilfe 17,4%. Die Nutzung
der übrigen vier Angebote lag zwischen 4,5% (Essen auf
Rädern) und 7,1% (Fahrdienst). Es resultierten keine statistisch
signifikanten Unterschiede zwischen Demenz und Nicht-Demenz und beim Geschlecht
des pflegenden Angehörigen.
„Felt need“ der Nicht-Nutzenden: Künftige Nutzung von
ambulanten Unterstützungsangeboten
Bei den Nicht-Nutzenden (n=381; Nutzung keines der acht Angebote)
möchten in Zukunft insgesamt 71,9% mindestens ein Angebot und
mehr als die Hälfte mindestens zwei der acht ambulanten
Unterstützungsangebote (57%) nutzen. Fast die Hälfte
(46,7%) der jeweiligen Nicht-Nutzer möchte die Haushaltshilfe
und zwei von fünf Befragten (40%) möchten den ambulanten
Pflegedienst in Anspruch nehmen. Etwa jeweils ein Viertel der aktuellen
Nicht-Nutzenden will künftig jeweils folgende Angebote nutzen:
Betreuungsdienst (28%), Fahrdienst (27,4%), Tagespflege
(25,1%) und Essen auf Rädern (23,9%). Unter 20%
liegen die Angaben für die Betreuungsgruppe (17,2%) und die
24-Stunden-Betreuung (16,8%). Pflegende Angehörige, die einen
Menschen mit Demenz pflegten, möchten zukünftig – im
Vergleich zu den Angehörigen eines nicht an Demenz Erkrankten,
signifikant häufiger 24-Stunden-Betreuung (p= 0,001), eine
Tagespflege (p< 0,001), einen Betreuungsdienst
(p =0,003) sowie eine Betreuungsgruppe (p <0,009)
nutzen ([Abb. 2 ]). Bei allen Angeboten,
bis auf den Fahrdienst, lagen die Werte bei den männlichen pflegenden
Angehörigen höher. Signifikant war der Unterschied lediglich
beim Entlastungsangebot Essen auf Rädern ([Abb. 3 ]).
Abb. 2 Geplante künftige Nutzung („felt
need“ der Nicht-Nutzer) von ambulanten Diensten bei Demenz und
Nicht-Demenz in %;
*p<0,01**p<0,001 (bezogen auf
die Gesamtzahl n der jeweiligen Nicht-Nutzer).
Abb. 3 Geplante künftige Inanspruchnahme („felt
need“ der Nicht-Nutzer) von ambulanten Diensten nach Geschlecht
der pflegenden Angehörigen in%; *p<0,01
**p<0,001 (bezogen auf die Gesamtzahl der
jeweiligen Nicht-Nutzer).
Diskussion
Ziel dieser Studie war es zu untersuchen, welche der ambulanten Pflege- und
Unterstützungsangebote von pflegenden Angehörigen
tatsächlich genutzt werden und welcher Bedarf an Angeboten in Zukunft
besteht. Hier zeigte sich eine deutliche Diskrepanz. Wie bereits andere
Forschungsergebnisse zeigen (vgl. [24 ]),
wurden ambulante Entlastungsangebote auch von den Befragten dieser Studie allgemein
eher wenig genutzt. Dagegen war der Wunsch der Nicht-Nutzenden, ambulante
Entlastungsangebote in Zukunft nutzen zu wollen, deutlich höher.
Die Ergebnisse der Querschnittstudie zeigen weiterhin, dass Angehörige, wenn
sie Unterstützungsangebote bereits nutzten, keinen weiteren Bedarf nach
einer intensiveren Nutzung hatten. Offensichtlich war bei den Nutzenden der Bedarf
tatsächlich abgedeckt.
Bei den Nicht-Nutzenden, also bei den pflegenden Angehörigen, die ambulante
Unterstützungs- bzw. Entlastungsangebote in letzter Zeit nicht nutzten, sah
die Situation anderes aus. Fast drei Viertel von ihnen möchte in Zukunft
mindestens ein Angebot und über die Hälfte mindestens zwei Angebote
nutzen. Das heißt, dass eine Mehrheit einen Hilfebedarf hat, der jedoch
nicht bedient wird. In unserer Studie zeigte sich dies sowohl für
Angehörige eines Demenzerkrankten als auch bei anderen Ursachen der
Pflegebedürftigkeit. Dieser Widerspruch wurde bereits in einer
internationalen Studie bezüglich pflegender Angehörigen von Menschen
mit Demenz in acht europäischen Ländern thematisiert [16 ]. Dort wurde festgestellt, dass die meisten
Angehörigen versuchten, sehr lange auf formelle Hilfe zu verzichten, obwohl
sie den Wunsch nach Unterstützung verspürten. Die Diskrepanz
zwischen Bedarf und Nutzung sollte in Zukunft aktiv reduziert werden, in dem die
pflegenden Angehörigen ermuntert werden, früher
Unterstützung anzunehmen und ihren Wunsch nach Entlastung in die Tat
umzusetzen. Dies kann durch aufsuchende und zielgerichtete
Angehörigenberatung erfolgen, um aus der großen Auswahl die
inhaltlich passende, regional verfügbare und bezahlbare Kombination an
Unterstützung zu erhalten [27 ]
[28 ].
Dass pflegende Angehörige trotz der Belastung und des Bedarfs an
Unterstützung eher wenig ambulante Entlastungsangebote nutzten, stimmt mit
den bisherigen Erkenntnissen aus der nationalen und internationalen Forschung
überein [11 ]
[12 ]
[13 ]
[15 ]
[24 ]. Doch welche Gründe gibt es
dafür? Oft sind es die pflegebedürftigen Personen selbst, die keine
„fremden“ Helfer anstelle ihrer pflegenden Angehörigen
akzeptieren wollen [1 ]
[3 ]
[13 ]
[16 ]
[18 ]. Auch in diesem Fall sollten jedoch
pflegende Angehörige ermutigt werden, professionelle Hilfe in Anspruch zu
nehmen und zusammen mit dieser die Bedenken der pflegebedürftigen Person
abzubauen und gemeinsam entlastende Lösungen zu finden. Ein weiterer, nicht
zu unterschätzender Faktor für die Nicht-Nutzung sind auch die
Kosten beziehungsweise die Unsicherheit bezüglich der Finanzierung der
Leistungen, also der Entlastungsangebote [13 ]
[14 ]
[15 ]
[16 ]
[17 ]. Möglicherweise ist
das deutsche Angebotssystem für Laien und für manche Experten noch
immer unübersichtlich. Eventuell würde hierbei eine Vereinfachung
beziehungsweise mehr Transparenz für potenzielle Nutzer Abhilfe schaffen.
Auch der Blick auf andere europäische Länder zeigt, dass nicht nur
die individuellen Merkmale eine Nutzung beeinflussen, sondern auch die
institutionellen Gegebenheiten. Etwa in Schweden [29 ] oder in den Niederlanden [30 ]
sind formelle Angebote nicht nur vielen Menschen durch eine staatliche soziale
Absicherung zugänglich, sondern auch ausreichend verfügbar und
werden entsprechend relativ häufig genutzt. In Österreich [31 ]
[32 ]
oder in Großbritannien [33 ] gibt es
vergleichsweise hohe Selbstbehalte, weshalb insbesondere bei einer geringeren
Pflegebedürftigkeit die (unbezahlte) informelle Pflege vorrangig priorisiert
wird.
Ferner wurde in verschiedenen Studien berichtet, dass die Angebote inhaltlich nicht
passend zur individuellen Pflegesituation sind [9 ]
[10 ]
[15 ]
[18 ].
Die verschiedenen individuellen Bedürfnisse der pflegenden
Angehörigen und der Gepflegten sollten bei einem Entlastungsangebot
weitgehend abgedeckt werden [11 ]
[20 ]
[23 ],
damit formelle Hilfe auch akzeptiert wird [17 ]. Als zentrales Element zur Überwindung der Hindernisse zur
Inanspruchnahme und damit auch zur Reduzierung der Diskrepanz zwischen der
tatsächlichen Nutzung und der gewünschten Nutzung der ambulanten
Entlastungsangebote ist die Pflegeberatung. Sie sollte möglichst
früh im Pflegeprozess den Angehörigen „nahe gebracht
werden“ werden, um für die individuelle Pflegesituation sinnvolle
Entlastungsangebote rechtzeitig organisieren zu können [19 ]
[23 ].
Eine effektive Möglichkeit, die Inanspruchnahme von Pflegeberatungen
frühzeitig zu fördern, wäre es, wenn bei der Diagnose von
chronischen, Pflegebedarf verursachenden Erkrankungen alle Ärztinnen und
Ärzte grundsätzlich auf die Möglichkeit von
Unterstützungsangeboten und vor allem auf die Angehörigenberatung
hinweisen würden; z. B. konkret durch Aushändigung einer
Adressenliste von regionalen Beratungsstellen.
Auffällig ist, dass sowohl bei expressed need (gegenwärtige Nutzung)
als auch bei felt need (Nutzungswunsch der Nicht-Nutzenden) pflegende
Angehörige einer Person mit Demenz die Tagespflege, die Betreuungsgruppe und
den Betreuungsdienst signifikant häufiger angeben als Angehörige
einer nicht an Demenz erkrankten pflegebedürftigen Person. Diese drei
Hilfen, Tagespflege, Betreuungsgruppe als auch Betreuungsdienst, wirken direkt
entlastend für den pflegenden Angehörigen, da sie/er in der
Zeit der Inanspruchnahme keine Betreuungstätigkeiten durchführen
muss. Der stärkere „need“ könnte damit
erklärt werden, dass pflegende Angehörige einer Person mit Demenz
– wie unsere Ergebnisse zeigen – sowohl subjektiv (siehe
Häusliche-Pflege-Skala) als auch objektiv (Pflegegrad und durchschnittlicher
Stundenaufwand pro Tag für Pflegetätigkeiten) signifikant
stärker belastet sind.
Lediglich ein Viertel der pflegenden Angehörigen waren männlich. Dies
zeigt, dass sich das Geschlechterverhältnis in der häuslichen Pflege
seit Jahren nicht verändert hat und somit die Care-Arbeit trotz
gesellschaftlichen Veränderungen (z. B. erhöhte
Erwerbstätigkeit der Frauen) immer noch hauptsächlich von Frauen
getragen wird. Das kann auch in anderen Ländern Europas beobachtet werden.
(vgl. [34 ]) Interessanterweise unterscheiden
sich die Nutzer von Entlastungsangeboten nicht nach Geschlecht (weder bei der
aktuellen noch bei der geplanten intensiveren Nutzung). Allerdings wurden bei den
Wünschen der Nicht-Nutzer geschlechtsspezifische Unterschiede festgestellt.
Männer, die bisher einzelne Entlastungangebote nicht nutzten, planen in
Zukunft häufiger eine Nutzung als Frauen.
Stärken und Limitationen
Zu den Stärken der Studie gehört, dass die Daten
repräsentativ für pflegende Angehörige der gesetzlich
Versicherten mit Erst- oder Folgeantrag auf Pflegegradeinstufung in Bayern sind.
Des Weiteren wurde ein breites Spektrum von ambulanten Entlastungs- und
Unterstützungsangeboten berücksichtigt und nicht nur die
aktuelle Nutzung, sondern auch der Wunsch, welche Angebote eigentlich gebraucht
werden, erfasst.
Einschränkend ist zu erwähnen, dass Pflegesituationen vor der
Begutachtung zur Erlangung eines Pflegegrades nicht erfasst wurden. Da es in
diesen Fällen weder Sach- noch Geldleistungen aus der Pflegeversicherung
gibt, ist davon auszugehen, dass die Nutzung von Angeboten zur Pflegeentlastung
hier nur eine untergeordnete Rolle spielt. Limitierend wirkt sich in der Studie
aus, dass explizite Informationen zu den Gründen der Nutzung
beziehungsweise der Nicht-Nutzung von Unterstützungsangeboten fehlen.
Ferner wurde nach der Nutzung in letzter Zeit gefragt, das heißt, ohne
eine genaue Zeitangabe. Der Hintergrund war, dass die Häufigkeit der
Nutzung in einem bestimmten Zeitraum je nach Entlastungs- und
Unterstützungsangebot unterschiedlich sein kann, welches in Zukunft
vermieden werden soll (RUNIC, Online-Anhang).
Da es offensichtlich in Deutschland regionale Unterschiede bei der
Inanspruchnahme der ambulanten Dienste in der häuslichen Pflegesituation
gibt [1 ] und in dieser Studie nur Daten
aus Bayern analysiert wurden, wäre es in zukünftigen Arbeiten
auch wichtig den Vergleich zwischen verschiedenen Bundesländern zu
ziehen.
Trotz hoher Belastungen der pflegenden Angehörigen wurden
ambulante Unterstützungsangebote nur von einer Minderheit
genutzt.
Bei Inanspruchnahme eines ambulanten Dienstes war der Bedarf in der
Regel abgedeckt. Es bestand kein intensiverer Nutzungswunsch.
Bei pflegenden Angehörigen und Pflegebedürftigen, die
aktuell keine ambulanten Unterstützungsangebote in Anspruch
nahmen, äußerten über 70% den
Wunsch, mindestens eines davon in Zukunft zu nutzen.
Niedrigschwellige, aufsuchende, individualisierte Beratung kann
helfen, aus dem Wunsch nach Inanspruchnahme Wirklichkeit werden zu
lassen.
Angehörige von Personen mit Demenz waren subjektiv und
objektiv stärker belastet. Sie nutzten Tagespflege,
Betreuungsgruppe, Betreuungsdienst und Essen auf Rädern
signifikant häufiger als andere Angehörige.
Für Tagespflege, Betreuungsgruppe, Betreuungsdienst und
24-Stunden-Betreuung galt dies auch für den Wunsch nach
Inanspruchnahme.
Pflegende Männer wünschen sich in Zukunft mehr
formelle Unterstützung als pflegende Frauen.