Psychiatr Prax 2023; 50(06): 290-291
DOI: 10.1055/a-2009-9365
Debatte: Pro & Kontra
Pro

Spezialkliniken erfüllen einen wichtigen Auftrag in der Versorgung psychischer Erkrankungen – Pro & Kontra

Ulrich Voderholzer
 

Die Frage, ob Spezialkliniken einen wichtigen Auftrag in der Versorgung psychischer Erkrankungen erfüllen, sollte primär Betroffenen und ihren Angehörigen sowie niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen gestellt werden, die nach stationären Behandlungsplätzen für ihre Patienten suchen, wenn eine ambulante Therapie nicht mehr ausreicht oder nicht zur Besserung geführt hat. Aus meiner persönlichen Perspektive als ärztlicher Leiter einer Fachklinik für psychische Erkrankungen mit spezialisierten Angeboten und der Vielzahl an Anmeldungen und Erfahrungen mit vielen Betroffenen, denen nicht sofort ein Platz angeboten werden kann, muss ich zuallererst konstatieren, dass offensichtlich ein hoher Bedarf seitens Betroffener und auch der Ein- und Zuweiser an stationären Behandlungsplätzen in einer Spezialklinik besteht.


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Ganz allgemein besteht in der gesamten Medizin ein klarer Zusammenhang zwischen Spezialisierung und Qualität. Zur Qualität zählt ein gutes Behandlungsergebnis, welches man im Bereich psychischer Erkrankungen z. B. anhand von Responderraten oder mit Effektstärken messen kann. Eine hohe Spezialisierung eines Therapieprogramms ist mit einer gezielteren, spezifischeren Behandlung verbunden und hohe Fallzahlen spezialisierter Behandlungen führen zu einer größeren Erfahrung der Klinik bei einem Krankheitsbild.

Sollte ich persönlich eine Knie-OP, eine Bypass-OP oder anderen Eingriff benötigen, würde ich auf jeden Fall eine dafür spezialisierte Klinik mit hoher Erfahrung vorziehen. Wenn mein Kind wegen einer schweren Zwangsstörung oder PTBS einen Klinikaufenthalt benötigen würde, würde ich eine Klinik mit Spezialstationen, die weiter entfernt liegt, einem nahegelegenen Haus, welches alle Indikationen behandelt, vorziehen. Es gibt bei Krankenhäusern Belege dafür, dass spezialisierte Therapie mit besseren Behandlungsergebnissen und niedrigeren Komplikationsraten verbunden ist, verglichen mit einer weniger spezialisierten Therapie in Kliniken, die ein sehr breites Spektrum, aber nur geringe Fallzahlen der einzelnen Krankheitsbilder behandeln. Die Frage der Spezialisierung bzw. Sinnhaftigkeit von Spezialkliniken ist daher auch eine Frage, ob hohe Qualität sinnvoll und notwendig ist.

Im Bereich der psychischen Erkrankungen benötigen wir sowohl eine gute, wohnortnahe Notfallversorgung als auch spezialisierte stationäre Angebote mit guten psychotherapeutischen Konzepten, die sowohl von psychosomatischen als auch teilweise von psychiatrischen Kliniken vorgehalten werden.

Ich finde es persönlich schade, dass immer wieder Polemiken aufgebaut werden, die aus meiner Sicht unnötig sind. Natürlich benötigen wir eine flächendeckende, wohnortnahe Notfallversorgung und die psychiatrischen Kliniken leisten hier hervorragende Arbeit.

Was sie nach den Schilderungen auch Betroffener nicht bzw. weniger leisten bzw. leisten können – von Ausnahmen abgesehen – , sind intensive, stationäre psychotherapeutische Programme, die für zahlreiche Menschen mit psychischen Erkrankungen wie etwa Essstörungen, Borderline-Störungen, depressiven Störungen, Zwangsstörungen, Trauma, auch schweren Angststörungen im Sinne langfristig wirksamer Therapien äußerst hilfreich sind. Dabei handelt es sich in der Regel um Patienten mit hohem Schweregrad und zahlreichen Komorbiditäten, bei denen eine ambulante Behandlung nicht ausreichend war und nicht etwa um leicht Erkrankte [7], wie es anhand veröffentlichter Daten zum Schweregrad der Patientengruppen mit vergleichbaren Diagnosen nachvollzogen werden kann [2] [3] [4] [6]. In unserer eigenen Fachklinik behandeln wir Patienten mit Anorexia nervosa, die wegen ihres somatischen Schweregrades von nahezu allen anderen psychiatrischen und psychosomatischen Kliniken abgelehnt werden [4].

Für viele Betroffene gibt es aktuell keine ausreichenden ambulanten Therapieprogramme, da es in der ambulanten Psychotherapie an der raschen Verfügbarkeit, aber auch an intensiven, leitliniengerechten Psychotherapieformaten für die schwerer Erkrankten (gute Beispiele sind Anorexia nervosa, Zwangsstörungen, Posttraumatische Belastungsstörungen) mangelt.

Der Vorteil eines spezialisierten Therapieprogramms in einer gegebenenfalls auch weiter entfernt liegenden Fachklinik wiegt aus meiner Sicht deutlich schwerer als Wohnortnähe. Empirische Outcome Studien konnten im Übrigen nicht belegen, dass Wohnortnähe sowohl bei den akuten als auch den Follow-up Behandlungsergebnissen Vorteile hat [1] [5], so dass der Vorteil der Wohnortnähe sich eigentlich nur auf die Möglichkeit rascher Notfalleinweisungen beschränkt. Frühere Argumente der besseren Einbindung von Angehörigen und des Lebensumfelds greifen heute dank der technischen Möglichkeiten mit Videokonferenzen kaum mehr und zudem legen viele Einweiser und insbesondere auch Betroffene selbst Wert auf Distanz der Klinik zum persönlichen Umfeld.

Was mich angesichts kontroverser Diskussionen besonders gestört hat, ist eine Unehrlichkeit. Nicht nur einmal habe ich erlebt, dass Personen, die berufspolitisch gegenüber Fachkliniken eine kritische Haltung eingenommen haben, ihre eigenen Angehörigen in die Fachkliniken überwiesen haben, gegen die sie politisch argumentiert haben.

Mein Fazit ist, dass Spezialkliniken definitiv einen sehr wichtigen Versorgungsauftrag bei psychischen Erkrankungen erfüllen, da sie auch intensive, leitliniengerechte Psychotherapie im Rahmen einer multimodalen Therapie anbieten und eine solche Therapie weder im ambulanten Rahmen noch in der sonstigen Kliniklandschaft ausreichend gut abgedeckt ist. Meine Überzeugung ist, dass spezialisierte Therapie effektiver ist und auf Dauer diejenigen Kosten spart, die durch unspezifische ineffektive Behandlungen verursacht werden.


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Autorinnen/Autoren

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Ulrich Voderholzer

Interessenkonflikt

Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

  • Literatur

  • 1 Diedrich A, Ewald H, Langs G. et al. Stationäre Behandlung depressiver Erkrankungen wohnortfern und wohnortnah: Gibt es Unterschiede im Therapieergebnis?. Verhaltenstherapie 2016; 26: 254-261
  • 2 Härter M, Sitta P, Keller F. et al. Stationäre psychiatrisch-psychotherapeutische Depressionsbehandlung Prozess- und Ergebnisqualität anhand eines Modellprojekts in Baden-Württemberg. Nervenarzt 2004; 75: 1083-1091
  • 3 Herzog P, Feldmann M, Kube T. et al. Inpatient psychotherapy for depression in a large routine clinical care sample: A Bayesian approach to examining clinical outcomes and predictors of change. J Affect Disord 2022; 305: 133-143
  • 4 Koerner T, Haas V, Heese J. et al. Outcomes of an Accelerated Inpatient Refeeding Protocol in 103 Extremely Underweight Adults with Anorexia Nervosa at a Specialized Clinic in Prien, Germany. J Clin Med 2020; 9: 1535
  • 5 Meule A, Kolar DR, Naab S. et al. Distance to home does not influence treatment success during and after inpatient treatment in adolescents with anorexia nervosa. Eur Child Adolesc Psychiatry 2022; 1-4
  • 6 Seemüller F, Riedel M, Obermeier M. et al. Outcomes of 1014 naturalistically treated inpatients with major depressive episode. Eur Neuropsychopharmacol 2010; 20: 346-355
  • 7 Voderholzer U, Koch S, Hillert A. et al. Response und Non-Response in der stationären Psychotherapie depressiver Patienten. Der Psychotherapeut 2012; 57: 410-416

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. Ulrich Voderholzer
Schön Klinik Roseneck Am Roseneck 6
83209 Prien am Chiemsee
Deutschland   

Publication History

Article published online:
11 September 2023

© 2023. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

  • Literatur

  • 1 Diedrich A, Ewald H, Langs G. et al. Stationäre Behandlung depressiver Erkrankungen wohnortfern und wohnortnah: Gibt es Unterschiede im Therapieergebnis?. Verhaltenstherapie 2016; 26: 254-261
  • 2 Härter M, Sitta P, Keller F. et al. Stationäre psychiatrisch-psychotherapeutische Depressionsbehandlung Prozess- und Ergebnisqualität anhand eines Modellprojekts in Baden-Württemberg. Nervenarzt 2004; 75: 1083-1091
  • 3 Herzog P, Feldmann M, Kube T. et al. Inpatient psychotherapy for depression in a large routine clinical care sample: A Bayesian approach to examining clinical outcomes and predictors of change. J Affect Disord 2022; 305: 133-143
  • 4 Koerner T, Haas V, Heese J. et al. Outcomes of an Accelerated Inpatient Refeeding Protocol in 103 Extremely Underweight Adults with Anorexia Nervosa at a Specialized Clinic in Prien, Germany. J Clin Med 2020; 9: 1535
  • 5 Meule A, Kolar DR, Naab S. et al. Distance to home does not influence treatment success during and after inpatient treatment in adolescents with anorexia nervosa. Eur Child Adolesc Psychiatry 2022; 1-4
  • 6 Seemüller F, Riedel M, Obermeier M. et al. Outcomes of 1014 naturalistically treated inpatients with major depressive episode. Eur Neuropsychopharmacol 2010; 20: 346-355
  • 7 Voderholzer U, Koch S, Hillert A. et al. Response und Non-Response in der stationären Psychotherapie depressiver Patienten. Der Psychotherapeut 2012; 57: 410-416

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Ulrich Voderholzer