Psychiatr Prax 2023; 50(06): 291-292
DOI: 10.1055/a-2009-9399
Debatte: Pro & Kontra
Kontra

Spezialkliniken erfüllen einen wichtigen Auftrag in der Versorgung psychischer Erkrankungen – Pro & Kontra

Hermann Spießl
 

Kontra

Deutschland hat seit je her viele psychiatrische Betten. Nachdem in den 90er und Anfang der 2000er Jahren Psychiatrie-Betten abgebaut wurden (1995: 63 807; 2005: 52 856), findet sich – entgegen internationaler Trends - seitdem wieder eine leichte Zunahme, in 2020 waren es 56 557 Betten (Angaben des Statistischen Bundesamtes). Ein enormer und kontinuierlicher Bettenaufwuchs entwickelte sich in den letzten Jahrzehnten im Bereich der Akut-Psychosomatik – eine weltweit einmalige Parallelstruktur. Waren es 1995 noch 2632 Betten, so stieg deren Zahl bis 2020 auf 12 773; hinzu kommen 20 383 Betten im Reha-Bereich. In Bayern – so der Erste Bayerische Psychiatriebericht – kam es von 2002 bis 2019 sogar zu einer Versechsfachung der Psychosomatik-Betten (von 7 auf 42 je 100 000 Einwohner). Zum Vergleich die Psychiatrie-Betten in Bayern: Hier waren es 2019 nur noch 70 je 100 000 Einwohner. Zum 1.1.2021 standen damit über ein Drittel der Krankenhausbetten in Psychosomatischen Kliniken (4237 vs. 7328).

Während die Kliniken und Abteilungen für Psychiatrie und Psychotherapie einen Pflichtversorgungsauftrag erfüllen, weisen sich viele psychosomatische Kliniken als „Spezialkliniken“ aus, die Akutversorgung erfolgt hier elektiv. Die Zahl der vollstationär versorgten Patient*innen in der Psychosomatik beträgt – nach Angaben des Statistischen Bundesamtes – etwa ein Zehntel der Patient*innen der psychiatrischen Kliniken und Abteilungen (2020: 67 946 vs. 662 474). Die größte Gruppe stellen insgesamt depressive Patient*innen. Die weiteren Diagnosegruppen dieser Spezialkliniken sind F4 bis F6, nicht dagegen F0 bis F2 und F7 – wen wundert es. Für den Bereich F3 bis F6 werden immer weiter Bettenkapazitäten als bedarfsnotwendig beantragt. Aufgrund des elektiven Aufnahmemodus (u. a. der Wartezeiten) wie auch der geringen Patientenzahl tragen sie kaum zur Akutversorgung psychisch Kranker bei – aber indirekt möglicherweise zu deren Stigmatisierung.

Im Gegensatz zu Spezialkliniken können psychiatrische Fachkliniken und Fachabteilungen keine Risikoselektion betreiben, sondern müssen alle psychischen Erkrankungen behandeln – und sie können es auch. In den Kliniken und Abteilungen werden – festgelegt durch PsychPV bzw. jetzt PPP-RL – Ärzt*innen, Psycholog*innen und andere Berufsgruppen vorgehalten, die eine multidimensionale und leitliniengerechte Behandlung gewährleisten. Psychotherapie, die Kerndisziplin psychosomatischer Kliniken, ist auch in psychiatrischen Kliniken (anders als noch in den 90er Jahren) integraler Bestandteil der Behandlung und auch der Ausbildung. Laut Psychiatrie Barometer 2017/2018 sind weit mehr als ein Drittel der dort tätigen Ärzt*innen fertige Fachärzt*innen für Psychiatrie und Psychotherapie, fast die Hälfte der Psycholog*innen sind approbierte Psychologische Psychotherapeut*innen.

Während in psychiatrischen Kliniken und Abteilungen alle psychischen Erkrankungen unabhängig von ihrer Schwere behandelt werden, schließen psychosomatische Kliniken Patient*innen mit Suizidalität [1] oder psychotischer Symptomatik [2] oft aus bzw. überweisen diese an psychiatrische Kliniken und Abteilungen. Und das ist auch richtig so, da hier nicht nur die notwendigen Schutzkonzepte, sondern auch die entsprechenden Behandlungskompetenzen und Erfahrungen bestehen.

Insbesondere die für viele psychische Erkrankungen notwendige hohe psychopharmakologische Kompetenz ist in psychiatrischen Kliniken und Abteilungen aufgrund der spezifischen Facharztausbildung Psychiatrie und Psychotherapie – im Gegensatz zur Facharztausbildung in Psychosomatischer Medizin und Psychotherapie – gegeben. Dies ist besonders relevant für schwere und therapieresistente Fälle. Gerade diese müssten dem Namen nach ja eigentlich in einer „Spezialklinik“ behandelt werden, finden sich aber mehr in der „Psychiatrie“, während in den psychosomatischen Kliniken eher leichter Erkrankte (und YAVIS-Patienten*innen) [1] behandelt werden. Die Kompetenz in und das Angebot von somatischen Behandlungsverfahren wie EKT oder rTMS zeichnen darüber hinaus die psychiatrischen Kliniken und nicht die „Spezialkliniken“ aus.

Auch eine bestehende Komorbidität von Depressionen, Angststörungen u. a. mit insb. Abhängigkeitserkrankungen [2] ist in psychosomatischen Kliniken manchmal Ausschluss- bzw. Überweisungsgrund in psychiatrische Fachkliniken und Fachabteilungen. Auch das zurecht, da hier die entsprechenden Erfahrungen und Kompetenzen, gerade in der Suchtmedizin, bestehen.

Eigentlich müsste man von einer „Spezialklinik“ erwarten, dass sie die jeweilige Erkrankung, auf die sie sich spezialisiert hat, z. B. Depressionen, mit all ihren Schweregraden und Komorbiditäten mit allen aktuell zur Verfügung stehenden evidenzbasierten Therapieverfahren umfassend und leitliniengerecht behandeln können und dies auch tun. Weder das eine, noch das andere geschieht aber in der Regel im Versorgungsalltag. Im Gegensatz dazu haben psychiatrische Kliniken Spezialstationen für z. B. Depressionen aufgebaut, die vollumfänglich versorgen können.

Ein weiterer Punkt, der gegen eine Versorgung in „Spezialkliniken“ spricht, ist deren Standort. Damit ist nicht deren schöne Lage an Seen oder im Gebirge gemeint, sondern deren Gemeindeferne. Patient*innen werden in wohnortfernen Kliniken für einige Wochen behandelt und dann entlassen. Die ambulante Weiterversorgung ist dadurch teilweise erschwert. Dies ist umso mehr von Bedeutung, falls komplementäre Versorgungsangebote (im Bereich Arbeit, Wohnen und Freizeit) erforderlich sind, die gerade bei den schwerer Erkrankten häufiger notwendig sind. Auch die ambulante Weiterversorgung in der eigenen Institutsambulanz, möglicherweise sogar durch die/den stationär behandelnde(n) Arzt/ Ärztin im Sinne einer Behandlungskontinuität, kann aus einer wohnortfernen „Spezialklinik“ nicht erfolgen. Ein Übergang von vollstationärer zu teilstationärer Behandlung zur Stabilisierung im Alltag ist natürlich auch nur sehr selten möglich. Eine stationsäquivalente Behandlung (StäB), wie sie auch bei F3- und F4-Patient*innen [3] erfolgt, kann nicht angeboten werden. Eine integrierte, regionalisierte und patientenzentrierte Versorgung ist durch Spezialkliniken also kaum möglich. Der weitere institutionalisierte Bettenaufbau dort läuft aktuellen Versorgungskonzepten somit zuwider und stellt eigentlich einen Rückschritt in der psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung dar. Zudem entzieht dies dem gesamten Psycho-Bereich Fachpersonal.

Nicht als Tribut an meinen Pro-Autor, sondern aus jahrelanger Erfahrung und Zusammenarbeit weiß ich, welchʼ gute Arbeit die Kolleg*innen in der Klinik, z. B. im Bereich der Essstörungen, leisten. Das ist aber ein anderes Thema.

Somit zum Schluss nochmals auf Anfang: Deutschland hat zu viele Betten in seinen Kliniken und Abteilungen für Psychiatrie bzw. Psychosomatik, wie auch Modellprojekte [4] eindrucksvoll zeigen, die den Anteil der psychiatrischen Betten um über 40% reduzieren. Die weltweit einmalig vielen Betten in psychosomatischen „Spezialkliniken“ für nur 10% der Patient*innen sind gerade unter diesem Aspekt und dem hohen Ambulantisierungspotential bei leichter Erkrankten entbehrlich.


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Autorinnen/Autoren

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Hermann Spießl

Interessenkonflikt

Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

  • Literatur

  • 1 Bichescu-Burian D, Cerisier C, Czekaj A. et al. Patienten mit Störungen nach ICD-10 F3 und F4 in Psychiatrie und Psychosomatik – wer wird wo behandelt? Merkmale der Zuweisung aus der PfAD-Studie. Nervenarzt 2017; 88: 61-69
  • 2 Wiegand HF, Saam J, Marschall U. et al. Probleme beim Übergang von der stationären zur ambulanten Depressionsbehandlung. Dtsch Ärztebl 2020; 117: 472-479
  • 3 Boyens J, Hamann J, Ketisch E. et al. Vom Reißbrett in die Praxis – Wie funktioniert stationsäquivalente Behandlung in München?. Psychiat Prax 2020; 49: 269-272
  • 4 Deister A, Michels R. Vom Modell zur Regionalen Regelversorgung. Langfristige Effekte eines Regionalen Budgets. Psychiat Prax 2022; 49: 237-247

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Hermann Spießl
Bezirkskrankenhaus Landshut
Prof.-Buchner-Str. 22
84034 Landshut,
Deutschland   

Publication History

Article published online:
11 September 2023

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Georg Thieme Verlag
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

  • Literatur

  • 1 Bichescu-Burian D, Cerisier C, Czekaj A. et al. Patienten mit Störungen nach ICD-10 F3 und F4 in Psychiatrie und Psychosomatik – wer wird wo behandelt? Merkmale der Zuweisung aus der PfAD-Studie. Nervenarzt 2017; 88: 61-69
  • 2 Wiegand HF, Saam J, Marschall U. et al. Probleme beim Übergang von der stationären zur ambulanten Depressionsbehandlung. Dtsch Ärztebl 2020; 117: 472-479
  • 3 Boyens J, Hamann J, Ketisch E. et al. Vom Reißbrett in die Praxis – Wie funktioniert stationsäquivalente Behandlung in München?. Psychiat Prax 2020; 49: 269-272
  • 4 Deister A, Michels R. Vom Modell zur Regionalen Regelversorgung. Langfristige Effekte eines Regionalen Budgets. Psychiat Prax 2022; 49: 237-247

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