Ergebnisse
Im Sinne eines hypothesengenerierenden Vorgehens arbeiteten wir heraus, wie die Gruppen ihren Umgang mit Vorfällen nicht-konsensueller Weiterleitung wahrnehmen. In diesen Beschreibungen dokumentierten sich ebenfalls die kollektiven Rahmungen in Form von Schuldzuschreibungen. Im Folgenden stellen wir Fallbeschreibungen der Lehrer*innen gefolgt von denen der Schüler*innen kontrastierend einander gegenüber.
Fallbeschreibungen der Lehrer*innen
In der Zusammenschau aller Gruppendiskussionen mit den Lehrer*innen zeigte sich geschlechtsspezifisches Victim Blaming, das sich bereits in der themenspezifischen Auswahl der Passagen dokumentierte, die (fast) ausschließlich auf betroffene Schülerinnen (und in seltenen Fällen auf grenzverletzende Jungen) rekurrierten. Mit Bezugnahme auf die viktimisierten Schülerinnen konnte ein Kontinuum von impliziter bis expliziter Schuldzuweisung und Stigmatisierung unter den Lehrer*innen rekonstruiert werden. Anhand von drei exemplarisch ausgewählten Fallbeschreibungen zeigen wir nachfolgend die typischen Ausdrucksformen des Victim Blamings.
Implizites Victim Blaming
In einer Gruppendiskussion mit vier Lehrerinnen berichtet Dw von einem Vorfall, bei dem Bilder einer Schülerin im BH nach einer problematischen Beziehung von ihrem ehemaligen Beziehungspartner verbreitet wurden. Der Fokus der Erzählung von Dw liegt auf der betroffenen Schülerin, nicht auf dem Schüler, der die Bilder weiterverschickt hat. Auf die Frage der Interviewerin zum konkreten Umgang der Schule zeigen Dw und Cw vordergründig Verständnis für die betroffene Schülerin. Im Verlauf entsteht jedoch der Eindruck, dass unterschwellig präventive Abstinenz von Sexting angestrebt wird.
Dw: Also sie ist auch ganz lange nicht gekommen. Also die betroffene Schülerin. Weil sie sich auch wirklich denke ich auch so geschämt und es für sie so schlimm war, dann in der Klassengemeinschaft zu sein. Aber irgendwann äh gegen Ende des Schuljahres kam sie dann wieder. Da war er aber glaube ich dann auch schon weg, weil die, die dann den Schulabschluss machen, sind ja so ein paar Wochen vorher/und dann kam sie auch wieder. Dann ging das auch/und die Klassengemeinschaft hat sie total gut wieder aufgenommen. Für die war das dann g/wirklich kein Thema. Und da/da/die fanden das auch überhaupt keinen Grund, sich jetzt über sie zu lustig zu machen. Sondern die haben sie wieder ganz liebevoll eigentlich und gut wieder angenommen. So habe ich das dann im Unterricht erlebt. Sie war wieder da und sie/sie hatte/sie saß jetzt nicht außen vor oder so. Sondern sie war wieder am Gruppentisch integriert und in den Arbeiten mit integriert und so. Ähm und wie gesagt/
Cw: Aber/
Dw: Ja?
Cw: Aber entschuldige, wenn du das so sagst, ne? Das hört sich ja so an, als wenn sie das Problem hätte. Das hat er gemacht.
Dw: Ja, er hat das gemacht. Klar.
Cw: Ne? Also warum soll sie Außenseiterin sein eigentlich?
Dw: Naja, weil/naja, weiß ich nicht. Weil vielleicht äh von den Schülern auch so dieser Gedanke äh ist, äh ja, naja, hätte sie mal nicht so was Dummes gemacht. Und wir/wir/wir sind ja alle schlauer. Wir machen jetzt so was nicht. Wir haben jetzt daraus gelernt. (GS-3–4LW; P:2, 679–711)
Cw fordert Dw explizit mit der Antithese „als wenn sie das Problem hätte“ zu einer formalen Abgrenzung von Victim Blaming auf. Dw lässt sich zunächst auf den niedrigschwelligen Konsens der Schuldzuschreibung an den Jungen ein. Doch im Folgenden übernimmt sie die Perspektive einer kollektiven Klassenpersönlichkeit, die der Schülerin eine randständige Position zuweist. Mit der antizipierten Wahrnehmung der anderen Schüler*innen – die im Nachhinein „schlauer“ sind – dokumentiert sich der positive Gegenhorizont von Sexting-Abstinenz: Schlau ist, wer lernt, aus Schamgefühl erst gar keine erotischen Bilder zu verschicken. Damit markiert Dw implizit, dass die Einzelne von einer Norm abgewichen ist und somit zu Recht hätte ausgegrenzt werden können. Positiv sei es hingegen im konkreten Fall den beteiligten Akteur*innen anzurechnen, dass die Möglichkeit zur Ausgrenzung der betroffenen Schülerin nicht genutzt wurde. Die Rolle derjenigen, die das strafbare Weiterleiten initiiert haben oder daran beteiligt waren, wird nicht weiter beleuchtet. Als negativer Horizont erscheint die Schülerin als sexuell agierendes Mädchen, das traditionelle heterosexuelle Beziehungs- und Dating-Skripte verletzt, was implizit mit der Schuldzuweisung an die Betroffene einhergeht, die explizit ja zurückgewiesen wird. Der Maßstab zur Bewertung der Situation ist nicht das Recht am eigenen Bild, sondern eine diffuse Vorstellung von einer Sexualmoral der Mehrheitsgruppe, die sich zwar in Schamhaftigkeit niederschlägt, aber nicht weiter ausgeführt wird:
Cw: (.) Interessant und gut finde ich an alldem ja dann doch wiederum, dass wenn es so eine Reaktion gibt, dass es eben doch diese Scham weiterhin gibt und diese Vorsicht, ne? Dass man also schon auch merkt, das ist nicht klar selbstverständlich, ja, dann/ja, dann bin ich eben im BH zu sehen. Man könnte sich ja auch ganz anders damit fühlen. Man könnte sagen, gucke mal, ist doch toll. Ähm das ist nicht so, ne? (.) Also diese/dieses äh m/ja, fast Exhibitionistische, was manche ja so f/ähm äh durchziehen im Netz, das fehlt da ja völlig. Und das ist eben schade und traurig und peinlich. Und das finde ich wiederum gut, dass es das Gefühl gibt, aber die Frage ist ja, wie geht man damit um, dass es bewahrt werden kann?
Dw: Hm (bejahend), ja. (GS-3–4LW; P2 744–755)
Dw und Cw finden mit der geteilten Orientierung auf Scham zu einer Synthese: Ihre Abgrenzung erfolgt gegenüber einem „fast exhibitionistischen“ Verhalten, das ihren Vorstellungen von Sexualität nicht entspricht. Auf der Ebene der Enaktierung lässt sich die Orientierung der Lehrerinnen auf Scham nur mit einer Beschämung ihrer Schülerinnen, nicht aber mit konkreter Unterstützung verwirklichen.
Nicht-reflektiertes Victim Blaming
Während in der vorherigen Gruppendiskussion der Widerspruch zwischen implizitem und explizitem Wissen zentral ist, zeigt folgende Sequenz das Ausbleiben von kommunikativem Wissen über Victim Blaming. Im Rahmen eines selbstläufigen Diskurses tauschen sich drei Lehrer über ihre Wahrnehmung einer veränderten Sexualität infolge der Digitalisierung aus, was sie im Folgenden vor dem Hintergrund der „Gefahren“ des Internets von einem Lehrer an einem Beispiel elaborieren:
Bm: Ja. Also ähnlichen Fall ähm hatte ich auch in meiner Klasse. Das ist jetzt hm (nachdenkend) zwei Jahre her, sie/ähm – also die Schülerin – kam auch auf mich zu und sagte so äh sie wurde angesprochen von einem Schüler aus/der war vier Jahre über ihr ähm, sie war sechste, er zehnte und sagte so „Sag mal“ äh ne, zeigt das Foto „Bist du das?“ (.) Und da war sie natürlich total aufgelöst ähm und/und kam dann zu mir und/und völlig äh am Boden zerstört und ich weiß gar nicht wo das Foto herkommt und wieso kriegt der so ein Foto und wo kommt das her? […] Und letzten Endes kam es raus, das ist ein Foto, das ist bei ihr im Zimmer geschossen worden und sie hat st/wirklich ähm steif und fest behauptet, das/das hat sie nicht gemacht (.) und die Polizei hat relativ schnell rekonstruieren können, das war sie doch selber äh und sie hat es an irgendjemanden außerhalb der Schule geschickt, an irgend so einen äh Freund oder den sie ganz gerne als Freund hätte. So. Und der hat es dann munter weiterverschickt und das kam dann durch Zufall an jemanden hier aus der Schule, den/der sie dann auch erkannt hat. (.) So und damit/hatten wir eigentlich gedacht, damit äh hätte sie daraus gelernt […]. Und ein Jahr später äh wiederholte sich das und das bekamen dann wirklich auch ihre ganzen Freundinnen aus der Klasse mit und die waren also so von ihr enttäuscht, auch vielleicht ein bisschen angeekelt so. Also die haben/viele haben die Freundschaft gekündigt und/und haben gesagt, nein, damit möchten wir nichts zu tun haben, und […] danach ist sie nicht mehr zur Schule gekommen und hat dann die Schule gewechselt. (.) Weil ihr das wahrscheinlich selber auch so peinlich war. Da war es relativ klar, sie hat die selber verschickt. Es war auch allen klar, sie hat das selber verschickt, wieder an/an diverse Leute außerhalb der Schule und das kam natürlich alles irgendwie wieder zurück. (.) So und ähm das haben so ein paar/eine Handvoll von Schülerinnen hat das mitbekommen aus/aus der Klasse. Die haben es ähm für sich behalten auch ähm also so einige/ähm also die meisten wissen gar nicht, warum die gegangen ist, die Schülerin, aber einige wissen ganz genau, ja, aus den und den Gründen. So. (.) Ähm und der Kontakt ist auch/und/und also sie hat auch/die Mutter hat auch dann (.) darauf bestanden, dass wir dann nicht erfahren an welche neue Schule sie geht. Also sie war dann ganz empört auch über uns, also als Klassenlehrer-Team. Wo wir damit gar nicht irgendwie was zu tun hatten und ähm letzten Endes interessiert es ja auch nicht w/w/warum sie geht und ich glaube auch nicht, dass das das Problem löst. Aber ähm ja, dann hat die Mutter selber dann wieder einen Schuldigen gesucht und auch dann ja gefunden. Weil äh ein Jahr vorher wusste sie schon Bescheid und hat letzten Endes das ja nicht geschafft irgendwie ihrer Tochter beizubringen, dass das irgendwie nicht die Art ist, um/um Aufmerksamkeit bei anderen Jungs irgendwie zu/zu erreichen. (.) (GS-2–3LM; P:1, 238–296)
Schon auf der Ebene der thematischen Beschreibung fällt auf, dass der Hauptfokus von Bms Erzählung auf der Schuldfrage resp. dem als nicht-akkurat wahrgenommenem Verhalten der Schülerin liegt. Bm beschäftigt die Frage, wer die Bilder „geschossen“ hat, und zum Zweck der Ermittlung kontaktiert er die Polizei. Der Vertrauensbruch besteht für Bm in der Behauptung der Schülerin, sie habe die Bilder nicht selbst gemacht, nicht aber in der nicht-konsensuellen Weiterleitung. Entsprechend konturiert sich als negativer Gegenhorizont die wiederholt unterstellte Unehrlichkeit und fehlende Glaubwürdigkeit. Der hier elaborierte positive Horizont liegt also in dem Eingeständnis der Schuld der Schülerin und ihrer Lernerfolge daraus. Die Elaboration der Bystander-Thematik beschränkt sich auf bagatellisierende Beschreibungen der Weiterleitung als „munter weitergeschickt“. In der Verschiebung der Dramatik auf die Reaktion der Freundinnen, die sich „angeekelt“ von der betroffenen Schülerin abwenden, dokumentiert sich eine Abwertung und eine Vorstellung von Normalität, die impliziert, dass unangemessenes („peinliches“) Verhalten aus der Gemeinschaft ausgeschlossen wird. Ein offener Austausch in Form eines Gesprächs mit der Betroffenen, dem Weiterleitenden oder den Mitschüler*innen findet nicht statt. Offensichtlich bedarf es auf der kommunikativen Ebene keiner weiteren Erklärungen. Es scheint „natürlich“, dass Bilder ohne Einverständnis weitergeleitet werden. Was bleibt, sind die Diskreditierung der betroffenen Schülerin und ihr Schulwechsel. Bm scheint unbeteiligt und überrascht von der Empörung der Mutter. Er weist pädagogische Zuständigkeit zurück, denn „wir [hatten] damit gar nicht irgendwie was zu tun“. Ohne dass er in seiner Erzählung explizit die Motivation der Schülerin herausarbeitet, resümiert er mit der Motivzuschreibung, dass die Schülerin Aufmerksamkeit generieren wollte. Im Anschluss an die Ausführungen von Bm finden er und Cm mit einer wortgleichen Wiederholung – „schräge Art [um Aufmerksamkeit bei anderen Jungen zu erreichen]“ – zur Konklusion: Der Lernbedarf liegt bei der Schülerin (und ihrer Mutter). Mit Blick auf den vorherigen Diskursverlauf lässt sich folgende Orientierung rekonstruieren: Bm bettet seinen Redebeitrag in die zuvor von Am ausgeführte Orientierungstheorie einer unkontrollierbaren Digitalisierung ein („Sex hat ja eigentlich eher was von Zweisamkeit so und das ist ja doch ein bisschen auseinandergeflogen, die ganze Kiste durch die Digitalisierung.“). Indem er in seinen Ausführungen den Fokus auf die betroffene Schülerin legt, kommen die Bystander nicht als handlungsfähige Akteur*innen vor. Ihre Weiterleitung wird nicht als Grenzverletzung, sondern als logische Folge des Verschickens von erotischem Bildmaterial gerahmt. Doch wenn die nicht-konsensuelle Weiterleitung als unveränderbare Ursache bewertet und nicht als strafbarer Akt reflektiert wird, mangelt es an förderlichem Enaktierungspotenzial, welches ausschließlich bei der Mutter verortet wird (nämlich ihrer Tochter „beizubringen, dass das nicht die Art ist, um Aufmerksamkeit zu erreichen“). Als Folge bleiben die Lehrer in ihrer eigenen Handlungsunfähigkeit gefangen und können ihrem pädagogischen Auftrag nicht gerecht werden.
Explizites Victim Blaming
Im Vergleich zum rekonstruierten Victim Blaming der ersten beiden Gruppen, zeigt sich bei dieser dritten Gruppe von drei Lehrerinnen eine aktive Rechtfertigung ihres Victim Blamings. Das Thema folgender Passage sind Verantwortlichkeiten bei Vorfällen nicht-konsensueller Weiterleitung, wobei die Lehrerinnen die Orientierung teilen, nicht für den Privatbereich der Schüler*innen zuständig zu sein, was sie entlang einer von Bw initiierten Erzählung gemeinsam elaborieren:
Bw: Und wir hatten ja auch mal so einen Fall, wo ein Mädchen äh sich mit ähm Männern also geschrieben hat im Internet. (.) Also welchen Inhalts wei/also das war so zehnte Klasse, aber ähm sich auch mit denen dann getroffen hat oder treffen wollte. (.) Und das ging auch schon vorher dann so rum, also dass sie diesen/an diese älteren Männer dann äh da, ja, über das Internet kennengelernt hat. Und (.) da haben wir dann da auch die Eltern drüber benachrichtigt. Also die wollte dann nach @C-Stadt@ fahren und so, hatte da schon richtig viel, ähm ja, (..) große Pläne und ähm (.) das ist immer so ein bisschen dieser Graubereich, woz/wo sind wir noch zuständig? Wir kriegen das mit, (.) natürlich (.) hm (nachdenkend) wollen wir sie auch schützen. Aber es ist auch eigentlich/das spielt sich nämlich tatsächlich dann im privaten Bereich auch ab, ne? (.) Aber sie sind äh ja @(.)@ so naiv in der Hinsicht, ne? (.)
Cw: Obwohl so viel aufgeklärt wird. (.) Ja, es wird so viel aufgeklärt. Wenn ich mir überlege, damals, als es mit Aids hochkam. Du erinnerst dich da bestimmt nicht dran, du bist ja ein Teil jünger als @wir@,
Bw: Das was kam?
Cw: ähm mit Aids aufkam in den Achtzigerjahren, ja? Da wurde so extrem aufgeklärt und auch so gut, dass die Aids-Rate zunächst runterging. Und seitdem die Aufklärung nicht mehr lief, steigt die wieder an, (.) ja? Und wenn ich mir überlege, hier wird so viel aufgeklärt in diesem Bereich, ja? Und trotzdem (.) passieren diese Sachen wieder und wieder, (..) ne?
Bw: Ja, und vor allen Dingen, es ist genau das Alter, wo sie eben da so drauf anspringen, auf Komplimente, auf (.) ähm (.) ja, also Leute, die ähm vielleicht auch gerade dieses Äußerliche/das hat ja auch so zugenommen, dass sie sich eben so viel selbst fotografieren, die Mädchen. Und das wird natürlich irgendwie/dann haben sie die tollsten Fotos von sich gemacht und
Cw: So eine Selbstdarstellung.
Bw: wollen das dann auch irgendwo @natürlich, dass das rumgeht@. (.) Und ähm (.) also ich bin auch immer ganz ähm erstaunt, also (.) was/also welche Mädchen auch was für Fotos dann von sich dann äh @gemacht haben@. Also (.) die stehen, @glaube ich, ganze Nachmittage nur@ (.) vor ihrem Handy oder ihrem Spiegel erst und/und machen sich zurecht und/und fotografieren sich da. Also man sieht es ja auch immer öfter irgendwo, irgendwelche (.) äh Szenen in der Stadt, am Strand, überall, wo die sich dann eben so posieren und häufig eigentlich Mädchen fotografieren Mädchen, ne? (.) Das ist also/(.) klar, es ist so ein Hobby eigentlich @schon fast geworden@, so diese Selbstdarstellung. Und ähm (.) ja, damit äh verbringen die halt unglaublich viel Zeit auch, ne? (GS-2–3LW; P:2, 644–700)
Bw elaboriert hier ihr Enaktierungsdilemma zwischen (Nicht-)Zuständigkeitsempfinden und pädagogischem Auftrag, welches sie metaphorisch als „Graubereich“ beschreibt. Cw scheint Bws Gefühl von Einflusslosigkeit zu teilen, was sie durch eine Parallelisierung mit Generationenlogik am Beispiel von Aufklärungskampagnen unterstützt. Die Achtzigerjahre repräsentieren für sie einen positiven Gegenhorizont, in dem sich ihre aktuelle Handlungsinkompetenz dokumentiert (gegen Aids ließ sich aufklären, gegen Sexting nicht). Bw schließt an die Elaboration von Cw an, indem sie mit dem Alter der Schülerinnen argumentiert. Im Modus einer distanzierten Betrachtung (u. a. durch Übernahme der Perspektive von „man“ als stellvertretend für die allgemeine Öffentlichkeit) legt Bw den Fokus nun auf „Mädchen“, die Fotos für „Komplimente“ produzieren. Impliziert ist darin ein Erklärungsmodell für die Verbreitung der Bilder, welches die Vulnerabilität der Schülerinnen in der Pubertät als ursächliches Problem deklariert. Mit dem Einwurf der Motivzuschreibung „Selbstdarstellung“ beteiligt sich Cw kooperativ an der Erzählung von Bw. Hierin dokumentiert sich, dass sie den negativen Horizont der öffentlichen Selbstdarstellung der weiblichen Sexualität ihrer Schülerinnen teilen, was Bw mit einem abgrenzenden Lachen ratifiziert. Gleichzeitig beschäftigt sich Bw ausführlich mit dem „Zurechtmachen“, welches sie als sinnlose Form der Freizeitbeschäftigung entwertet. Die Generalisierung auf „die Leute“ und „die Mädchen […] in der Stadt, am Strand, überall“ trägt weiter zur Diskreditierung betroffener Schülerinnen bei, wodurch jegliche Enaktierung auf die Verantwortung der Schülerin für weniger sexualisierte Selbstrepräsentationen verweist.
Fallbeschreibungen der Schüler*innen
Auch in der Zusammenschau aller Gruppendiskussionen mit den Schüler*innen zeigte sich geschlechtsbezogenes Victim Blaming, das ausschließlich auf betroffene Schülerinnen (und nicht auf die Veröffentlichenden und Weiterleitenden) rekurrierte. Mit Bezugnahme auf die viktimisierten Schülerinnen konnte auch hier ein Kontinuum von impliziter bis zu expliziter Schuldzuweisung und Stigmatisierung unter den Schüler*innen rekonstruiert werden.[4]
Implizites Victim Blaming
In einer Diskussion zweier Schülerinnen berichtet eine von einem Gespräch mit einer Mitschülerin, in der diese vom Austausch digitaler erotischer Bilder erzählt. Daran anschließend entwickelt sich ein Gespräch, in dem Spekulationen über die individuellen Gründe, die dazu führen, dass Mädchen erotische Bilder von sich versenden, kommunikativ validiert werden.
Aw: Also, ich habe mal damals mitbekommen, dass mir eine Freundin, also es war keine Freundin, eine Klassenkameradin, erzählt hat, dass sie halt solche Bilder bekommen hat. Das war für mich auch total so: Was soll ich jetzt mit der Information anfangen? Da meinte sie so: Ja, ich snappe jetzt auch mit dem. Ich habe auch nicht weiter nachgefragt, aber ich wusste nur: Okay, es gibt irgendwie sie, die mit dem halt snappt, so. Und dann konnte ich mir halt auch vorstellen, auf welche Art und Weise, wenn sie halt (.) so (.) solche Bilder halt von ihm bekommt, so, dann glaube ich nicht, dass sie jetzt irgendwie Bilder von ihrer Wand zurückschickt, so. Also-.
Bw: Ja. Ich glaube, das sind dann eben Leute, die ein ganz geringes Selbstwertbewusst-, oder Selbstwertgefühl haben, die eben dadurch Bestätigung brauchen. Also, sie schmücken sich dann mit der Anzahl an Jungs, mit denen sie da solche Bilder hin und her schicken. So, das das ist dann für die anscheinend in Ordnung, oder da-dadurch machen sie sich aus. Das muss man dann halt wissen, ob man dafür, also, dass man-. Das ist dann ja ihr Charakter so ein bisschen auch, finde ich. Und ob man wirklich so sich charakterlich darstellen möchte.
Aw: Oder ob es nur eine Fassade ist vielleicht, dass man nur/
Bw: Genau. Oder so- Also, aber das ist ja eben das, was man eben nach dra-, nach außen hin präsentiert, sozusagen. Und das finde ich-. Also, ich, ich kenne jetzt nicht viele Leute, die das machen, aber ich persönlich mache jetzt-. Also, wenn ich solche Leute kenne, dann würde ich nicht sagen, das wird definitiv meine beste Freundin, weil ich das eben so oberflächlich und so auch finde. Und dann ähm, wenn man sich dann mit der Person unterhält, dann sieht man, dass die eben eigentlich gar keine eigene Meinung oder auch gar keinen eigenen starken Charakter hat, obwohl sie immer sagt: Oh ja, ich snappe mit zehn Typen. Also, wer mich nicht will, so. Also, die sich dann irgendwie ganz, ganz toll hoch pushen, obwohl sie letztendlich eigentlich-.
Aw: Sich gar nicht so toll fühlen, wie sie die ganze Zeit tun.
Bw: Genau. Und zu Hause wahrscheinlich die ganze Zeit am Heulen sind und einfach unzufrieden mit sich selber, mit ihrem Körper, mit ihrem Charakter, mit ihrem ganzen Umfeld so sind. Und das ist dann halt schade, dass die es dann aber so (.) nach draußen hin präsentieren. (GY-3–2SW, P:9, 6–46)
An diese Schilderung von Aw über eine Klassenkameradin, die „halt solche Bilder“ verschickt, schließen mehrere Elaborierungen von Aw und Bw an, in denen über Gründe für das Versenden erotischer Bilder spekuliert wird. Die Formulierungen beziehen sich auf negative Gegenhorizonte, indem der erotische Kontakt mit Jungen als eine Art Trophäensammlung gerahmt und die versendenden Mädchen als charakterlich fragwürdig sowie persönlich unzufrieden geschildert werden. Als positive Gegenhorizonte werden einerseits die individuelle Distanz gegenüber Mädchen, die Sexting praktizieren, und anderseits durch Bw eine vermeintliche Anerkennung („anscheinend in Ordnung“) elaboriert. Die genannten Gründe für das Versenden von erotischen Bildern beziehen sich ausschließlich auf die beteiligten Mädchen und blenden die ebenfalls beteiligten Jungen vollständig aus. Außerdem scheint auf der Ebene des kommunikativen Wissens vordergründig Verständnis für die unterstellten Gründe aufgebracht zu werden, welche als „Bedürfnis“ nach Fremdanerkennung des Sexting verwendenden Mädchens erklärt werden. Gleichzeitig sind die vermuteten Gründe insgesamt defizitär. So entwerfen die Schülerinnen auf der Ebene des konjunktiven Wissens ein Bild von Mädchen, die sich aus Charakterschwäche auf Äußerlichkeiten reduziert und sexualisiert darstellen und die von der Anerkennung durch eine große Anzahl von interessierten Jungen abhängig sind. Sexuelle Selbstrepräsentation erscheint so als Selbstsexualisierung aus Minderwertigkeitsgefühlen und Charakterschwäche. Enaktierungspotenzial wird lediglich für die eigene Distanz von dieser Form der Selbstdarstellung und damit in der Enthaltsamkeit von digitaler sexueller Kommunikation aufgrund von charakterlicher Stärke identifiziert. Das implizite Victim Blaming besteht hier darin, dass den Mädchen defizitäre Gründe für Sexting im Modus des vermeintlich verstehenden Nachvollzugs unterstellt werden.
Nicht-reflektiertes Victim Blaming
Zu unterscheiden ist diese Form des impliziten Victim Blamings auch bei den Schüler*innen von nicht-reflektierten Formen, in denen bei der Elaboration eines Falles nicht über mögliche Gründe spekuliert wird, sondern die Grenzverletzung im Unentschiedenen verbleibt und auf diese Weise bagatellisiert wird. Dies zeigt sich in einer Gruppendiskussion mit vier Schülerinnen, in der Aw von einem Sexting verwendenden Mädchen aus dem Jahrgang berichtet. Dominierend ist das Motiv des „Vergessens“, welches die Passage inhaltlich rahmt.
Aw: Also ich-. Also, apropos Bilder-. Also, ich kann mich noch daran erinnern. Ich weiß nicht, ob ihr das weißt, äh
Dw: °Wisst°.
Aw: (@wisst@. (Dw @) Aber, ein Mädchen aus unserem Jahrgang hat ihrem Freund ein Arschbild geschickt und das Bild ging dann auch rum.
Bw: Ach, ja.
Dw: Ja.
Cw: Ja.
I: Was ist da passiert?
Aw: Also, das Mädchen meinte dann halt, dass sie das nicht ist, obwohl man ihren Pullover und so was alles er- erkannt hat. Und ja, das wird dann halt so schlechtgeredet. Ei- so Bitch, Hure und so was alles. Und ja.
Dw: Aber, auch so was. Also, mir wäre das jetzt zum Beispiel gar nicht eingefallen. Auch so was geht schnell in Vergessenheit, finde ich.
Bw: Ja. (GS-3–4SW-2, P:2, 1–18)
Die formulierende Interpretation zeigt, dass Aw die Passage mit einem konkreten Fall eröffnet. Nach einer kurzen sprachlichen Korrektur validieren Bw, Cw und Dw den konkreten Fall und signalisieren damit kollektive Kenntnis der Geschehnisse. Auf die Frage der Interviewerin elaboriert Aw dann, dass das Mädchen versucht habe, die Veröffentlichung privater Bilder abzustreiten. Gleichwohl führt sie deren Unglaubwürdigkeit ins Feld und markiert so Wahrheitstreue und Glaubwürdigkeit der abgebildeten Person als positiven Gegenhorizont. Als negativer Gegenhorizont wird das Abstreiten der Erstellung des Bildes durch die Mitschülerin entworfen und diese wird als verantwortlich adressiert. Von der Glaubwürdigkeit und Ehrlichkeit der Mitschülerin gegenüber den vermeintlich objektiven Abläufen, welche die Teilnehmerinnen der Gruppendiskussion anzweifeln, wechselt der Diskurs dann zu den negativen Reaktionen, welche dieses Bild nach sich gezogen habe. Sie elaboriert, dass die Mitschülerin als „Bitch“ und „Hure“ „schlechtgeredet“ wurde. Die sich andeutende Kritik an den Bystandern wird von Dw nicht weiter aufgegriffen. Stattessen schließt die Erzählung mit einem Verweis von ihr darauf, dass „so was schnell in Vergessenheit“ gerät, was Bw kommunikativ validiert, ohne dass sich die Schülerinnen inhaltlich zu der Suche nach Glaubwürdigkeit oder zu der Viktimisierung durch die Mitschüler*innen weiter positionieren. Die Vorwürfe bleiben damit kommunikativ unbearbeitet. Das „Vergessen“ ermöglicht den Schüler*innen, die berichtete Viktimisierung zu tabuisieren, wodurch sie unreflektiert Victim Blaming replizieren. Entsprechend wird auch kein Enaktierungspotenzial deutlich.
Explizites Victim Blaming
Wie bei den Lehrer*innen finden sich auch bei den Schüler*innen Passagen expliziten Victim Blamings. Im folgenden Auszug fragt die Interviewerin eine Gruppe von Jungen anhand eines Falles der nicht-konsensuellen Veröffentlichung von Bildern im Klassenverband danach, wie in solchen Fällen der Verlauf von Weiterleitungen von Bildern funktioniert. Bm berichtet daraufhin über eine Mitschülerin, die ein Nacktfoto an ihren Beziehungspartner verschickt hatte, wobei dieses Bild dann aber den Kontext der Liebesbeziehung verlassen hat.
Bm: Und bei ihr ist es halt in der Regel so, dass, wenn sie sich quasi denkt, jo, den finde ich gut, der ist sympathisch. Mit dem habe ich jetzt lange genug geschrieben, dann bekommt der halt diese Bilder. Und wenn sich dann im Nachherein rausstellt, nee, ist doch nichts, dann sucht sie sich einen neuen, dann bekommt der auch wieder diese Bilder.
Am: Also, das sind dann s-. Also bei solchen Mädchen würde ich dann aber auch teilweise behaupten, dass sie ein wenig selber schuld dran sind, wenn so- sowas dann mal an die Öffentlichkeit kommt. Weil, wenn man wirklich so vielen Leuten und dann auch in so kurzer Zeit ständig dieselben Bilder schickt, dann ist es klar, dass irgendjemand mal sein- dein- irgendwann mal sein Maul aufreißt und äh, (.) ja. Und nicht jeder ist da so verschlossen. Irgendjemand reißt sein Maul auf und dann weiß es halt (.) jemand schon, so.
Am: Ja.
Am: Also, das kommt auch oft vor. (.) Also sowas würde man dann eigentlich schon bei uns als schlampig bezeichnen. Ähm es ist in dem Sinne vielleicht sogar auch, wenn man äh dauerhaft einen-, jemand Neues am Start hat und solche Bilder schickt. Ähm, aber mir persönlich ist es egal. Also, ich sehe da keinen Unterschied, ob jetzt ein Junge ständig eine neue Freundin hat oder jemand anderes. Ähm, oder ob es ein Mädchen ist. Weil, einerseits haben ja beide ihre Bedürfnisse und wir sind ja alle jung und, ja. Was soll es. Aber einerseits ist man halt auch selbst schuld, wenn man-, man muss ja nicht ständig ein Nacktbild sich-, von sich verschicken und dann auch noch an so viele Leute. Das ist schon ein bisschen blöd von der Person dann selbst. Ist aber halt für mich immer noch kein Grund, das dann weiterzuerzählen. (GS-3–2SM, P:7, 61–94)
Am berichtet von einem Mädchen, welches ihren häufig wechselnden Freunden regelmäßig intime Bilder sendet. Bm elaboriert dann diese Proposition und verschiebt die thematische Struktur auf die Eigenverantwortlichkeit im Falle nicht-konsensueller Veröffentlichungen, denn dies „ist schon ein bisschen blöd von der Person dann selbst“. Der positive Gegenhorizont sind die „Bedürfnisse junger Menschen“ nach sexueller Anerkennung, die Bm anspricht, sodass das Verhalten der Schülerin ihm einerseits „egal“ sei. Andererseits wird der negative Gegenhorizont im Verantwortungsbereich der Schülerin verortet, da ihr Verhalten unklug sei. Ähnlich wie bei den Lehrkräften wird auf das Motiv verminderter kognitiver Kompetenzen und damit auf fehlende Rationalität als Ursache für das Versenden persönlicher erotischer Fotos rekurriert und dieses damit als negativer Gegenhorizont gerahmt. Dass intime Bilder nicht-konsensuell weitergeleitet werden, sei „klar“, insbesondere wenn durch den Wechsel der Beziehungspartner die Anzahl potenziell Weiterleitender eigenverantwortlich ausgeweitet wird. Das Enaktierungspotenzial wird entsprechend in den Handlungen der Schülerin gesehen, die auf häufigen Wechsel der Partner sowie das Versenden intimer Bilder verzichten soll, um ihre Schuld abzuwenden. Auf diese Weise bestärkt die kollektive Rahmung dieser Gruppe Victim Blaming.
Fazit
Zusammenfassung und Diskussion der Befunde
Alle Fallbeschreibungen der Lehrer*innen verweisen auf geschlechtsbezogenes Victim Blaming, welches sich in der Tabuisierung von Sexualität und Nacktheit – speziell einer weiblichen Inszenierung –, der Ausblendung nicht-konsensueller Weiterleitung als Grenzverletzung, einer unhinterfragten Geschlechtergewichtung (Schülerinnen als Versenderinnen) und einer Zuschreibung narzisstischer Motive (Aufmerksamkeit, Selbstdarstellung) dokumentiert. Gruppenübergreifend sind Orientierungen an der angenommenen Gefährlichkeit des Internets, Unterstellungen mangelnden Selbstwertgefühls sowie eine Abgrenzung von den Schüler*innen inklusive deren Eltern auszumachen, die in oben genannte Phänomene eingebettet wurden. Fallübergreifend lassen sich drei minimal kontrastierende Ausdrucksformen des Victim Blamings herausarbeiten: In der ersten Gruppe dokumentiert sich eine Diskrepanz zwischen explizitem und implizitem Wissen. Diese Gruppe distanziert sich in den theoretisierenden, argumentativen und evaluativen Redeanteilen vom Victim Blaming, während sie in den erzählenden und beschreibenden Sequenzen die Schuld implizit der Schülerin zuschreibt. Ihre Handlungspraxis entspricht demnach nicht ihrer explizit kommunizierten Haltung. Scham wird als wichtiges Moment verstanden, damit Jugendliche lernen, sich gruppenkonform zu verhalten. Im Vergleich dazu lässt sich in der zweiten Gruppe ein Fehlen von kommunikativem Wissen über Victim Blaming identifizieren, sodass sich die Gegenhorizonte auf Wahrheitssuche und Glaubwürdigkeit orientieren und in ihnen kein Enaktierungspotenzial sichtbar wird. Die dritte Gruppe zeichnet sich durch explizite Stigmatisierung der Schüler*innen, die Sexting verwenden, und eine pauschale Ablehnung von Sexting aus. Angestrebt wird Selbstreflexion anstelle einer konstatierten Abhängigkeit von der Anerkennung durch andere. Zusammenfassend lässt sich schließen, dass die dargelegten Fallbeschreibungen alle in einem Realisierungsproblem münden: Wenn die Schuld der Versenderin zugeschrieben wird, ergibt sich kein Handlungsimpuls für die Lehrer*innen.
Auch bei den Schüler*innen zeigt sich übergreifend geschlechtsspezifisches Victim Blaming als zentrale Orientierung über alle Fallbeschreibungen hinweg. Insbesondere die Abgrenzung von sexueller Aktivität bei Mädchen wirkt strukturierend auf die positiven und negativen Horizonte. Die nicht-konsensuell weiterleitenden Jugendlichen hingegen werden nicht thematisiert. Auch hier zeigen sich minimale Kontrastierungen. Die erste Gruppe verbirgt hinter vermeintlicher Anerkennung von sexuellen Aktivitäten eine Orientierung, die charakterliche Schwäche aufgrund eines Bedürfnisses nach Fremdanerkennung als Grund für Sexting identifiziert und diesen zurückweist. Von Mädchen, die Sexting betreiben, sowie deren Selbstsexualisierung aus Minderwertigkeitsgefühlen grenzt sich diese Gruppe ab und begründet dadurch die eigene Abstinenz. Die zweite Gruppe interessiert sich primär für die Glaubwürdigkeit der von nicht-konsensueller Weiterleitung betroffenen Mädchen und beschäftigt sich mit Wahrheitsfindung. Die dritte Gruppe erkennt zwar Bedürfnisse von Mädchen nach sexueller Repräsentation an, diese sollten jedoch nicht durch Fremdbestätigung befriedigt werden, sondern sich in selbstgewählter Abstinenz ausdrücken.
Die Orientierungsmuster von Lehrer*innen und Schüler*innen weisen erhebliche Parallelen auf (vgl. [Tab. 2]). In Übereinstimmung mit dem Forschungsstand (z. B. [Döring et al. 2021]; [Naezer und van Oosterhout 2021]) dokumentiert sich, dass beide Gruppen Victim Blaming praktizieren, indem sie die Verantwortung für sexuelle Grenzverletzungen mittels digitaler Medien bei den betroffenen Bildproduzentinnen verorten. Dies kann implizit durch eine vermeintlich verstehende Haltung geschehen, die nach Gründen für die Handlungen der Bildproduzent*innen sucht und diese in der vermeintlichen Abhängigkeit der Person, die Sexting betreibt, von anderen findet. Abstinenz wird zu einer Frage charakterlicher Stärke, und das Enaktierungspotenzial liegt in der Reflexion eigener Bedürfnisse nach Anerkennung in sozialen Kontexten. Als Orientierung wird selbstgesteuerte Anpassung an soziale und geschlechtliche Normen sichtbar. Auch die nicht-reflektierten kollektiven Orientierungsmuster, die sich mit der Suche nach „Wahrheit“ gleichsam außerhalb des Geschehens positionieren und eine vermeintlich nicht-wertende Orientierung dokumentieren, (re-)produzieren genau auf diese Weise Viktimisierungen, indem die Glaubwürdigkeit der betroffenen Schülerinnen angezweifelt wird. Dabei wird kein weiteres Enaktierungspotenzial sichtbar. Ihre Orientierungen beziehen sich auf die unmögliche Suche nach der Wahrheit. Explizit geschieht Victim Blaming, indem die Verantwortung unmittelbar an die Bildproduzent*innen delegiert wird. Die negativen Gegenhorizonte dieses Orientierungsmusters beziehen sich auf die Unterstellung von „Dummheit“, die zu öffentlichen sexuellen Repräsentationen führe. Als positive Gegenhorizonte werden Abstinenz und Selbstbestimmung der betroffenen Person markiert. Die Orientierungen beziehen sich auf die prinzipiell unmögliche Forderung nach authentischem sexuellem Selbstbewusstsein. In allen Fallbeschreibungen tauchen die weiterleitenden, grenzverletzenden Personen sowie die Bystander nicht auf.
Abb. 1 Modi des Victim Blamings ((Quelle: Eigene Darstellung).)
Tab. 2
Orientierungsmuster der Fallbeschreibungen (Quelle: Eigene Darstellung).
|
Implizites Orientierungsmuster
|
Nicht-reflektiertes Orientierungsmuster
|
Explizites Orientierungsmuster
|
Negativer Gegenhorizont
|
Abhängigkeit von anderen
|
Unehrlichkeit
|
Dummheit sexueller Selbstpräsentationen
|
Positiver Gegenhorizont
|
Abstinenz aufgrund von Charakterstärke
|
Glaubwürdigkeit durch Ehrlichkeit
|
Selbstbestimmtes Handeln im Kontext Sexualität
|
Enaktierungs-potenzial
|
Reflexion eigener Bedürfnisse nach Anerkennung
|
Kein Enaktierungspotenzial
|
Verzicht auf sexuelle Aktivität mit intimen Bildern
|
Orientierung
|
→ Selbstgesteuerte Anpassung an soziale und geschlechtliche Normen
|
→ Suche nach der Wahrheit
|
→ Forderung nach authentischem sexuellem Selbstbewusstsein
|
Entsprechend wird fallübergreifend das Enaktierungspotenzial ausschließlich bei den Betroffenen selber (oder deren Eltern) gesehen, die ihr Verhalten und ihren Charakter verändern sollen, indem sie weniger häufig den Partner tauschen, keine sexuellen Bilder versenden sowie selbstbewusster sind ([Döring 2014]). Unterschiede zwischen den Gruppen können hier kaum identifiziert werden. Auffällig ist, dass das Erstellen intimer Bilder in fast allen Gruppen als deviantes Verhalten erscheint, welches auf mangelndem Selbstvertrauen und einem als übersteigert angesehenen Bedürfnis nach Fremdanerkennung beruht. Dies wird als charakterlicher Mangel ausgedeutet, der mit fehlenden kognitiven Fähigkeiten verknüpft wird. Dumm ist, wer persönliche erotische Fotos verschickt, schlau hingegen, wer sich zu schützen weiß. Die Präventionsbotschaften eines Abstinenzdiskurses in Bezug auf Sexting entfalten hier ihre praktische Wirkung: Nicht die grenzverletzende und mutmaßlich illegale Veröffentlichung von Bildern wird thematisiert, sondern die Verantwortung der Bildproduzent*innen. Die hier dargestellten Befunde verweisen trotz unterschiedlicher Orientierungen auf eine breit geteilte Verantwortungszuschreibung bei bildbasierter sexueller Gewalt an die abgebildete Person. Dieses Victim Blaming findet sich unabhängig von Geschlecht, Schulform oder Status, Lehrer*innen wie Schüler*innen teilen diese grundlegende Orientierung. Der vorliegende Stand der Forschung in Bezug auf einen Devianzdiskurs wird damit sowohl bestätigt (vgl. etwa [Döring 2014]; [García-Gómez 2019]; [Vogelsang 2017]) als auch in Bezug auf die hohen Übereinstimmungen ausdifferenziert. Auffällig ist – und dies deckt sich mit den vorliegenden quantitativen Befunden (vgl. u. a. [Murray und Crofts 2015]; [Ringrose et al. 2013]; [van Ouytsel et al. 2021]) –, dass die Viktimisierungen einen hohen Grad an Vergeschlechtlichung aufweisen: Alle Beispiele handeln von Mädchen, die Bilder verschickt haben, die dann nicht-konsensuell veröffentlich wurden. Ebenso werden ausschließlich Jungen als diejenigen benannt, die die Bilder veröffentlicht haben. Viktimisierungen betreffen mithin Mädchen in besonderer Weise. Deutlich werden in dieser Differenz sexuelle Doppelstandards, nach denen Jungen Grenzverletzungen zugestanden werden, während sexuell aktive Mädchen als „Huren“ abgewertet und zugleich sexualisiert werden. Sexuell aktive Mädchen werden so als Verantwortliche bei grenzverletzender Bilderweitergabe adressiert und mit Victim Blaming konfrontiert ([Attwood 2007]). Mädchen sollen einerseits selbstbewusst sein, um nicht auf die Bestätigung durch andere angewiesen zu sein, andererseits soll dieses Selbstbewusstsein gleichsam „aus ihnen selber heraus“ kommen ([Dobson und Ringrose 2016]). Victim Blaming – so zeigen die Analysen – ist dabei aber nicht nur eng mit Geschlechterkategorisierungen verbunden, sondern vor allem mit geschlechterstereotypen Orientierungen ([Johnson et al. 2018]). Budde et al. weisen in diesem Zusammenhang auf Folgendes hin:
„[...] orientations toward gender stereotypes ‘favor’ both the attribution of responsibility for boundary violations to girls (and in isolated cases also to boys who publish images), and overlook the responsibility of the boys and girls who perpetrated the boundary violation in the first place” ([Budde et al. 2022]: 3).
Damit wird eine vermeintliche Natürlichkeit von Sexualität impliziert, die jugendkultureller Kommunikation und bildbasierter digitaler erotischer Selbstrepräsentation nicht bedarf. Diese Sichtweise leistet zugleich einer desozialisierenden Perspektive Vorschub, da lediglich das individuelle Versenden erotischer Bilder im Mittelpunkt steht und jegliche soziale Kontexte sexueller Kommunikation ausgeblendet werden.
Limitation der Studie
Eine Einschränkung der Studie besteht aufgrund des geschlechterdichotomen Designs der Gruppendiskussionen, das zu einer Reifizierung von Geschlechterbinarität beitragen kann und darüber hinaus die Erfahrungen nicht-binärer Jugendlicher und Erwachsener unberücksichtigt lässt. Die Einbeziehung nicht-binärer Teilnehmer*innen sowie eine breitere Berücksichtigung diverser Biografien würde dazu beitragen, die Ergebnisse in Bezug auf dichotome und heteronormative Auffassungen von Normalität weiter zu differenzieren und der Gefahr einer Reifizierung im Forschungsprozess begegnen. Weiter ist zu reflektieren, dass durch die – bereits durch die Förderlinie nahegelegte – Rahmung der Studie als Forschung zu sexuellen Grenzverletzungen Beispiele konsensueller bildbasierter Kommunikation nicht zur Sprache kamen.
Ausblick auf zukünftige Forschung und Praxis
Da es nur wenige Berichte über eigene positive Erfahrungen mit intimer digitaler Kommunikation gab, sollten in weiteren Studien explizit Settings einbezogen werden, in denen positive Erfahrungen zum Sexting mit einer geschlechterkritischen Orientierung verbunden werden. Darüber hinaus wären Studien zu den Auswirkungen pädagogischer Interventionen bei digitalen sexuellen Übergriffen notwendig (vgl. [Vobbe und Kärgel 2022]). Denn Versuche der Prävention von Grenzverletzungen im digitalen Raum, die primär die Verantwortung von Mädchen adressieren und auf Abstinenz abzielen, fördern in der Praxis nicht nur Muster des Victim Blamings, sondern forcieren sowohl geschlechtsstereotype Orientierungen als auch Normalisierungen, die die Bildung einer selbstbestimmten sexuellen Identität in der Adoleszenz eher einschränken. Aufgrund dieser sich andeutenden geringen pädagogischen Kompetenz mit grenzverletzender digitaler Kommunikation wären außerdem Weiterbildungen für Lehrpersonen sinnvoll, die selbstbestimmte Sexualität in den Mittelpunkt stellen. Frappierend ist zudem, dass keine der Lehrkräfte die Tatsache weitergehend thematisiert, dass betroffene Mädchen über längere Zeiträume nicht zur Schule kommen. Spätestens an dieser Stelle müsste pädagogische Verantwortung greifen. Stattdessen reproduzieren Lehrer*innen (wie Schüler*innen) Selbststeuerungsimperative, die Verantwortlichkeiten ausschließlich an die ursprünglich konsensuell handelnden Mädchen delegiert.