Rofo 2023; 195(04): 340-339
DOI: 10.1055/a-2030-1430
DRG-Mitteilungen

„Ein Gramm Hirn ersetzt mehr als eine Tonne Blei“

 

    Im Dezember 2022 sind gemeinsam mit der Veröffentlichung der beiden überarbeiteten QS-Leitlinien der BÄK (Röntgendiagnostik und CT) auch neue Empfehlungen der Strahlenschutzkommission zum Umgang mit Strahlenschutzmitteln und neue Dosisreferenzwerte erschienen. Warum dies vor allem im Umgang mit Strahlenschutzmitteln einen gewaltigen Umbruch darstellt, erläutert Univ.-Prof. Dr. Hans-Joachim Mentzel vom Universitätsklinikum Jena, Sektion Kinderradiologie, im Interview.


    #
    Zoom Image

    Lieber Herr Professor Mentzel, was genau hat sich mit den neuen Empfehlungen der SSK geändert?

    Strahlenschutzmittel für Patient:innen wie die bekannten Bleischürzen werden in der Röntgendiagnostik und in der Computertomografie künftig seltener eingesetzt werden. In der Stellungnahme der Strahlenschutzkommission (SSK) zum Umgang mit Strahlenschutzmitteln wird künftig über eine Art Ampel der Einsatz der Strahlenschutzmittel geregelt. Diese Empfehlung ist eine logische Konsequenz und Reaktion auf das Vorgehen in den europäischen Ländern, in denen in großem Umfang auf den Einsatz verzichtet wird. Aufgrund der technischen Entwicklungen der Gerätetechnik bezogen auf den Strahlenschutz – insbesondere im CT – sind die Strahlenschutzmittel heute bei etlichen Untersuchungen nicht mehr erforderlich. Im Gegenteil: Sie können beim konventionellen Röntgen oder in der Durchleuchtung bei fehlerhafter Anlage der Schutzmittel und Verwendung einer Dosisautomatik aber auch im CT sogar zu einer deutlichen Erhöhung der Strahlenexposition führen.

    Da würde sich der Nutzen der Schutzmittel in das Gegenteil umkehren … Haben Sie ein Beispiel?

    Ja, ein gutes Beispiel sind die sogenannten Ovarblenden (Strahlenschutz für das weibliche innere Genital) – diese werden ohne Kenntnis der Lage der Ovarien platziert und können neben erhöhter Dosis auch eventuell wichtige Bilddetails verdecken. Das wichtigste Mittel im Strahlenschutz bleibt die rechtfertigende Indikation – also das Suchen nach Alternativen zum Einsatz ionisierender Strahlung. Wie sagte schon der Strahlenschutz-Pionier Felix Wachsmann so schön: „Ein Gramm Hirn ersetzt mehr als eine Tonne Blei“.

    In welchen Fällen sollen Strahlenschutzmittel Ihrer Meinung nach verwendet werden?

    Kinder und Jugendliche, aber natürlich auch das ungeborene Leben werden weiter als vulnerable Gruppen eingestuft, bei denen der eventuelle Einsatz von Strahlenschutzmitteln sorgfältig(er) zu prüfen ist und im Zweifelsfall diese angewendet werden. In spezialisierten Einrichtungen der Kinderradiologie werden beim Röntgen die Parameter vom Personal festgelegt und auf eine Dosisautomatik verzichtet – in diesen Fällen kann ein mit entsprechender Expertise angelegter Strahlenschutz bei Aufnahmen am Körperstamm sehr sinnvoll sein. Das setzt aber eine gewisse Erfahrung des Personals voraus. Und bei den Kindern ist vor allem die korrekte Einblendung essentiell. Hierdurch kann am meisten Strahlung eingespart werden. Das gilt insbesondere, je jünger das Kind und kleiner die Ausmaße sind. Generell gilt, dass bei Untersuchungen am Körperstamm (Thorax bis Becken) eher Strahlenschutzmittel eingesetzt werden.

    Wann kann auf die Strahlenschutzmittel Ihrer Meinung nach verzichtet werden?

    Im zahnärztlichen Bereich und an den Extremitäten kann weitestgehend auf die Strahlenschutzmittel verzichtet werden. Auf die Bedeutung der exakten Einblendung wurde schon hingewiesen. Das ist auch am Körperstamm viel wichtiger. In der Computertomografie und in der Durchleuchtung gilt, dass Kinder nur an den modern(st)en Geräten untersucht werden. Diese haben eine Vielzahl an Möglichkeiten zur Dosisreduktion und gestatten es so, in vielen Situationen auf die Strahlenschutzmittel zu verzichten, die unter Umständen sonst zu einer Einbuße der Bildqualität führen können. Hier ist im Einzelfall zu entscheiden und die (Kinder-)Radiolog:innen sind angehalten, sich mit ihren Medizinphysikexpert:innen und den Gerätehersteller:innen bzw. deren Vertreter:innen über das Vorgehen und den Einsatz von Strahlenschutzmitteln zu verständigen.

    Wie kommuniziere ich die Änderungen am besten mit den Eltern/Sorgeberechtigten?

    Das ist sicher das schwierigste Unterfangen. Bislang wurde immer der Einsatz von SSM „gepredigt“ – nun werden sie in vielen Situationen weggelassen. Sicher kann man in vielen Fällen das Weglassen durch den technischen Fortschritt und die oben beschriebene Möglichkeit der Dosisreduktion erklären. Wenn die eingesetzten Strahlenschutzmittel dann auch noch zu schlechterer Bildqualität und somit diagnostischer Einbuße führen könnten, wird es sicher jedem einleuchten, dass im Einzelfall darauf verzichtet werden kann.

    Haben Sie konkrete praktische Tipps?

    Die Vorführung der Einblendung des Nutzstrahlenbündels über das Lichtvisier kann dabei sehr hilfreich sein. So können Kinder und Eltern verstehen, wo wirklich Röntgenstrahlen auf den Körper treffen. Streustrahlen spielen bei jüngeren Kindern eine untergeordnete Rolle. Werden trotz aller Erklärungen die Strahlenschutzmittel gewünscht, so sollte dem fallbezogen entsprochen werden. Auch hier kann der Kontakt mit den Spezialist:innen der Kinder- und Jugendradiologie hilfreich sein. Haltende Personen sollten die Strahlenschutzschürze natürlich weiterhin tragen, da sie sich nicht im direkten Strahlenfeld befinden.

    Auf der Homepage der GPR finden Sie eine interaktive Karte mit kinderradiologischen Einrichtungen:

    www.kinder-radiologie.org > Fachinfos > Karte Kinderradiologie


    #

    Publication History

    Article published online:
    30 March 2023

    © 2023. Thieme. All rights reserved.

    Georg Thieme Verlag KG
    Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany


    Zoom Image