Psychiatr Prax 2023; 50(06): 308-315
DOI: 10.1055/a-2042-2289
Originalarbeit

Selbstberichtete Kindesmisshandlungen im Vergleich zwischen Ost- und Westdeutschland

Comparison of Self-Reported Childhood Maltreatment Between East and West Germany
1   Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Universitätsmedizin Rostock
,
Laura Lübke
1   Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Universitätsmedizin Rostock
,
Sascha Müller
1   Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Universitätsmedizin Rostock
2   Institut für Psychologie, Universität Kassel
,
Stefanie Knorr
1   Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Universitätsmedizin Rostock
,
Eva Flemming
1   Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Universitätsmedizin Rostock
› Institutsangaben
 

Zusammenfassung

Ziel der Studie Das sozioökologische Modell betont die Relevanz politischer, kultureller und ökonomischer Sozialisationseffekte für die Prävalenz von Kindesmisshandlungen. Diese werden durch einen Vergleich von Kindesmisshandlungen zwischen ost- und westdeutschen Probanden, die vor der Wende volljährig wurden, untersucht.

Methodik Eine bezüglich Alter, Geschlechtsverteilung und Einkommen repräsentative Allgemeinbevölkerungsstichprobe wurde zu Kindesmisshandlungen befragt.

Ergebnisse Von 507 Probanden gaben 22,5% an, in der DDR sozialisiert worden zu sein. Diese Studienteilnehmer berichteten signifikant weniger emotionalen Missbrauch als die 77,5%, die in der BRD groß geworden sind. Die ost- und westdeutschen Probanden unterschieden sich in keiner anderen Misshandlungsform.

Schlussfolgerung Unsere Befunde unterstreichen die Bedeutung von Sozialisations- und Enkulturationseffekten auf das Gedächtnis, die bei der Interpretation der Ergebnisse zu berücksichtigen sind.


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Abstract

Objective The socioecological model emphasize the relevance of political, cultural and economic socialization effects for the prevalence of childhood maltreatment, which are analyzed by comparing child maltreatment between East and West German subjects who came of age before the fall of the Berlin Wall.

Methods Using an online survey, a representative general population sample with respect to age, gender distribution and income was assessed regarding child maltreatment and current psychological distress using standardized self-report instruments.

Results Of 507 study participants, 22,5% reported being born and socialized in East Germany. They reported significantly less emotional abuse than the 77,5% who grew up in the FRG. The East and West German subjects did not differ in any other form of abuse.

Conclusion Our findings underline the importance of socialization and enculturation effects on memory, which should be considered when interpreting the results.


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Einleitung

Kindesmisshandlung, von der Weltgesundheitsorganisation WHO bündig als „Missbrauch und Vernachlässigung von Kindern unter 18 Jahren“ definiert ([1]; eigene Übersetzung), ist bedauerlicherweise ein weltweites Problem mit erheblichen negativen kurz- und langfristigen Auswirkungen auf die psychische und körperliche Gesundheit, psychosoziale Entwicklung und Integration der Betroffenen sowie mit bedeutsamen sozioökonomischen Konsequenzen für die jeweiligen Gesellschaften [2] [3] [4] [5].

Dass Kindesmisshandlung als globales Phänomen verstanden werden muss, wurde in den Gesundheitswissenschaften systematisch erstmalig in den 1990er Jahren am Beispiel des sexuellen Missbrauchs dargelegt: Die Übersichtsarbeit von Finkelhor aus 1994 [6] berichtete Prävalenzraten für Allgemeinbevölkerungs- und studentische Stichproben von vier Kontinenten und aus 20 Nationen, meist Industrieländern, die für Frauen zwischen 7% und 36% und für Männer zwischen 3% und 29% schwankten. Auch aktuellere Meta-Analysen und Übersichten, die zudem körperlichen und emotionalen Missbrauch sowie Vernachlässigung ebenso berücksichtigt haben wie Studien aus sogenannten Entwicklungs- und Schwellenländern, unterstreichen eine große Variation bei den Prävalenzen [7] [8] [9] [10]. Ein eindrückliches Beispiel sind die Prävalenzen zu emotionaler Vernachlässigung, die nach der meta-analytischen Übersicht von Stoltenborgh und Kollegen [8] zwischen 3,5% und 80,1% liegen.

Neben vielfältigen methodischen Aspekten wie der Definition von Kindesmisshandlung, ihrer Erfassung (z. B. Interview oder Fragebogen) und Stichprobenmerkmalen kann die große Variationsbreite in den Prävalenzen auch auf ökonomische, politische und kulturelle Faktoren zurückgeführt werden [11] [12] [13]. So geht das sozioökologische Modell von verschiedenen Determinanten der Häufigkeiten von Kindesmisshandlung aus, die von einer individuellen bis zu einer gesellschaftlichen Ebene reichen [11]. Die Bedeutung gesamtgesellschaftlicher Faktoren für die Prävalenz von Kindesmisshandlung wird eindrucksvoll von Meta-Analysen bestätigt, die ausschließlich Studien berücksichtigt haben, die den Childhood Trauma Questionnaire (CTQ; [14]) als dem international am besten etablierten Fragebogen zur retrospektiven Erfassung von Kindesmisshandlung eingesetzt haben [15]: Demnach besteht eine erhebliche Heterogenität in den CTQ-Werten über Kontinente, Kulturen und sozioökonomischen Status der untersuchten Länder hinweg [13] [16].

Die gesamtgesellschaftliche Ebene umfasst dabei nicht nur ökonomische Faktoren, sondern auch eine politische, kulturelle und (offizielle oder implizite) gesellschaftsideologische Dimension. Diesen Aspekt hat eine kürzlich publizierte Studie [17] aufgegriffen, indem sie Prävalenzen von Kindesmisshandlungen in der Allgemeinbevölkerung zwischen Probanden aus West- und Ostdeutschland verglichen hat. Auf der Basis von drei Repräsentativbefragungen aus den Jahren 2010, 2013 und 2016 wurde eine Stichprobe von 5905 Probanden mit dem Geburtsjahr 1980 oder früher zusammengestellt und nach dem aktuellen Wohnort der Gruppe „Ost- respektive Westdeutschland“ zugeordnet. Kindesmisshandlung wurde entweder mit dem CTQ (Befragungen aus 2010 und 2016) oder seiner Kurzversion, dem Childhood Trauma Screener (CTS; [18]) erfasst. Für die Auswertung wurden die dimensionalen CTS-Werte gemäß der von Glaesmer und Kollegen [19] publizierten Schwellenwerte in kategoriale Variablen (ja bzw. berichtet vs. nein bzw. nicht berichtet) transformiert. Im Ergebnis gaben in Westdeutschland lebende Frauen an, alle Formen von Kindesmisshandlung signifikant häufiger erlebt zu haben als ostdeutsche Frauen. Sexueller und körperlicher Missbrauch, jedoch nicht emotionaler Missbrauch oder Vernachlässigung, wurden von westdeutschen Männern signifikant häufiger erinnert als von Männern aus Ostdeutschland [17].

Während die sehr große Stichprobe, die aus drei Repräsentativbefragungen zusammengestellt wurde, für die Belastbarkeit der Ergebnisse spricht, wird diese hingegen von anderen methodenkritischen Aspekten eingeschränkt. So erfasst der CTS als Screeningverfahren die verschiedenen Formen von Kindesmisshandlungen mit nur jeweils einem Item und dadurch deutlich weniger differenziert als der CTQ, der diese mit je fünf Items abbildet. Hinzu kommt, dass die Transformation der dimensionalen CTS-Werte in eine Kategorie mit zwei Ausprägungen zu Varianz- und Informationsverlust führt. Auch die Auswahl der Probanden erscheint problematisch: Ulke und Kollegen [17] legten als ein Einschlusskriterium das Geburtsjahr 1980 oder davor fest. Damit haben die jüngsten Studienteilnehmer jedoch maximal 10 Jahre – also keineswegs Kindheit und Jugend – in der DDR verlebt. Schließlich erfolgte die Zuordnung zur ost- bzw. westdeutschen Gruppe über den aktuellen Wohnort, so dass die seit 1990 erfolgte Binnenmigration keine Berücksichtigung fand. Daher zielte unsere Studie unter Umgehung der dargestellten methodischen Schwächen darauf ab, selbstberichtete Kindesmisshandlungen im Ost-West-Vergleich zu überprüfen. Dazu wurde eine annähernd repräsentative Allgemeinbevölkerungsstichprobe online mit dem CTQ untersucht und nur jene Studienteilnehmer eingeschlossen, die bei der sogenannten Wiedervereinigung mindestens 18 Jahre alt waren.


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Methodik

Studiendesign und Stichprobe

Die hier präsentierten Befunde basieren auf Daten, die im Rahmen eines Forschungsvorhabens zur Diagnostik von desorganisierter Bindung in einem Querschnittsdesign erhoben wurden [20]. Über ein Marktforschungsunternehmen wurde im Mai 2022 eine Stichprobe von N=1101 volljähriger Personen mit ausreichenden Deutschkenntnissen gewonnen, die hinsichtlich der Merkmale Geschlecht, Alter, Bundesland und Einkommen repräsentativ für die deutsche Allgemeinbevölkerung war. Die Teilnehmer bearbeiteten eine Onlineumfrage, welche eine Reihe standardisierter Fragebögen umfasste. Neben üblichen soziodemografischen Informationen wurde den Probanden folgende Frage vorgelegt: „Sind Sie vor 1990 auf dem Gebiet der ehemaligen DDR geboren?“ Für die hier präsentierte Analyse wurden nur Studienteilnehmer berücksichtigt, die zum Zeitpunkt der Umfrage 50 Jahre oder älter waren. Dieses Einschlusskriterium zielte darauf ab, dass die Probanden Kindheit und Jugend in der DDR bzw. BRD verbracht haben. Insgesamt erfüllten 510 Studienteilnehmer dieses Kriterium, von denen jedoch 3 (0,6%) wegen fehlender Daten in zentralen Ergebnismaßen post-hoc ausgeschlossen werden mussten. Die Studie wurde von der Ethikkommission an der Medizinischen Fakultät der Universität Rostock genehmigt (Registriernummer A 2021-0268).


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Instrumente

Der Childhood Trauma Questionnaire (CTQ) ist ein international sehr verbreitetes Selbstbeurteilungsinstrument, das retrospektiv Misshandlungen in Kindheit und Jugend erfasst [14]. Anhand von 28 Items, die auf einer fünfstufigen Likert-Skala von „gar nicht“ (1) bis „sehr häufig“ (5) zu beantworten sind, werden das Ausmaß sexuellen (SM), körperlichen (KM) und emotionalen Missbrauchs (EM) sowie körperlicher (KV) und emotionaler Vernachlässigung (EV) dargestellt. Neben der üblichen dimensionalen Auswertung können anhand von Schwellenwerten auch Kategorien gebildet werden, die entweder vierstufig (von „kein Missbrauch“ über „gering“ und „schwer“ bis „extrem“) oder zweistufig (vorhanden vs. nicht vorhanden) ausgeprägt sind. In der erwachsenen Allgemeinbevölkerung sowie verschiedenen klinischen Stichproben ist die deutsche Version des CTQ ausgiebig auf ihre teststatistischen Kennwerte hin untersucht worden, die den guten Parametern des amerikanischen Originals sehr ähneln [21] [22]. Hinsichtlich der internen Konsistenz ergaben sich in der hier untersuchten Stichprobe überwiegend befriedigend hohe Werte: Für die Subskalen war McDonalds ω≥0,88; lediglich die Subskala KV fiel mit ω=0,49 deutlich ab.

Mit dem PHQ-4 als Ultrakurzform des Gesundheitsfragebogens für Patienten (PHQ-D) wurden aktuelle Depressivität (PHQ-2) und Ängstlichkeit (GAD-2) mit jeweils zwei Items erfasst; der Summenwert über alle vier Items gilt als Indikator für die psychische Gesamtbelastung [23] [24]. Das Antwortformt entspricht einer vierstufigen Likert-Skala von „überhaupt nicht“ (0) bis „fast jeden Tag“ (3), sodass die dimensionalen Werte für Depressivität bzw. Ängstlichkeit zwischen 0 und 6 und für die Gesamtskala bis 12 reichen können. Der PHQ ist ein international etabliertes Selbstbeurteilungsverfahren, dessen psychometrische Qualität als gut zu beurteilen ist [23] [24]. Die interne Konsistenz für den PHQ-4 erwies sich in unserer Studie als sehr hoch (McDonalds ω=0,91).


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Statistische Auswertung

Die statistische Auswertung erfolgte mit dem Computerprogramm SPSS (Statistical Package for the Social Sciences, Version 28) und der freien Statistiksoftware R 4.2.1 [25]). Je nach Datenstruktur wurden absolute und relative Häufigkeiten bzw. Mittelwerte und Standardabweichungen ermittelt. Für die Gruppenvergleiche (geboren und aufgewachsen in der BRD bzw. DDR) hinsichtlich der soziodemografischen Variablen, kamen abhängig von der Datenstruktur der χ 2 -Test oder t-Tests zur Anwendung.

Zunächst wurde die Faktorenstruktur des CTQ im Rahmen einer konfirmatorischen Faktorenanalyse (CFA) untersucht. Dabei wurde ein Messmodell mit fünf korrelierten Faktoren angenommen. Die Modellgüte wurde anhand gängiger Koeffizienten evaluiert (Comparative-Fit Index [CFI], Root-Mean-Square-Error of Approximation [RMSEA] und Standardized Root Mean Square Residual [SRMR]), wobei übliche Kriterien für eine akzeptable Modellpassung herangezogen wurden (CFI>0,95; RMSEA<0,06; SRMR<0,08 [26]). Anschließend wurde mittels Testung der Messinvarianz (MI) über die beiden Teilstichproben geprüft, ob der CTQ in beiden Gruppen dasselbe latente Konstrukt erfasst bzw. dieselben Messeigenschaften aufweist [27]. Lediglich bei Vorliegen von mindestens skalarer Messinvarianz (MI) können eventuelle Mittelwertsunterschiede sinnvoll so interpretiert werden, dass sie Unterschiede in der Konstruktausprägung widerspiegeln. Dazu wurden konsekutiv CFA-Messmodelle mit Gleichheitsrestriktionen für Faktorenstruktur, Ladungen, Intercepts und Itemresiduen zwischen den beiden Gruppen spezifiziert [28]. Anschließend wurde jeweils das restriktivere Modell mit dem vorhergehenden, weniger strikten Modell verglichen, wobei die Verschlechterung des CFI durch jede zusätzliche Restriktion nicht größer als 0,01 sein sollte [29].

Um eventuelle Unterschiede in soziodemographischen Merkmalen als Kovariate beim Vergleich der beiden Stichproben hinsichtlich der Erinnerung von Kindesmisshandlungen berücksichtigen zu können, wurden lineare Regressionsanalysen mit den jeweiligen dimensionalen Werten der CTQ-Subskalen als abhängige Variablen und Gruppe (in der DDR bzw. BRD geboren und bis 1990 aufgewachsen) als Prädiktorvariable berechnet. Die Häufigkeitsverteilungen der vier- bzw. zweikategorialen Ausprägungen der CTQ-Subskalen wurden zwischen den beiden Gruppen mittels χ2-Test geprüft. Als Signifikanzniveau wurde ein p<0,05 gefordert.


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Ergebnisse

Insgesamt wurden 507 Probanden mit einem durchschnittlichen Alter von 60,5 Jahren (SD=6,6; Bereich 50 – 74 Jahre) eingeschlossen, von denen n=209 Frauen (41,2%) und n=298 Männer (58,8%) waren. In der DDR wurden nach eigenen Angaben 114 (22,5%), in der BRD 393 (77,5%) der Studienteilnehmer geboren. Die soziodemografischen Charakteristika der beiden Teilstichproben sind zusammenfassend in [Tab. 1] dargestellt. Signifikante Unterschiede fanden sich hinsichtlich der Schulbildung, so dass dieser Faktor in den weiteren Analysen als Kovariate Berücksichtigung fand. Alle anderen Merkmale einschließlich aktueller Depressivität, Ängstlichkeit und psychischer Gesamtbelastung waren in den beiden Gruppen nicht signifikant verschieden.

Tab. 1 Vergleich soziodemografischer Charakteristika zwischen Probanden, die in der DDR bzw. BRD geboren und bis zur Volljährigkeit aufgewachsen sind.

DDR

BRD

Statistik

(n=114)

(n=393)

N

%

N

%

χ2/T

p

Alter (Jahre; M±SD)

61,0±6,6

60,4±6,7

0,876

0,381

Geschlecht

0,188

0,665

Frauen

49

43,0

160

40,7

Männer

65

57,0

233

59,3

Familienstand

1,153

0,562

ledig

11

9,6

51

13,0

Verheiratet/feste Partnerschaft

79

70,3

270

68,7

verwitwet/geschieden

24

21,1

72

18,3

Schulbildung

24,569

<0,001

Hauptschulabschluss

4

3,5

69

17,6

Realschulabschluss/10. Klasse POS

67

58,8

142

36,1

(Fach-)Abitur/EOS

43

37,7

182

46,3

Monatseinkommen

1,809

0,613

Bis 1500 €

19

16,7

66

16,8

Bis 2500 €

31

27,2

86

21,9

Bis 4000 €

34

29,8

118

30,0

Über 4000 €

30

26,3

123

31,3

Aktuelle Psychopathologie

Depressivität (PHQ-2)

0,89

1,43

1,09

1,46

− 1,330

0,184

Ängstlichkeit (GAD-2)

0,68

1,27

0,79

1,32

− 0,778

0,437

Gesamtbelastung (PHQ-4)

1,57

2,61

1,89

2,64

− 1,125

0,261

Das CFA-Messmodell mit fünf korrelierten Faktoren ergab keine befriedigende Modellpassung (χ2 (265)=746,20; p<0,001; CFI=0,89; RMSEA=0,06; SRMR=0,06). Die Inspektion von Modifikationsindizes ergab Hinweise auf lokale Missspezifikationen. Daher wurden in der Folge zwischen fünf Paaren von Indikatoren korrelierte Fehlervarianzen zugelassen. Diese Anpassungen schienen aufgrund semantischer Ähnlichkeiten zwischen den Items vertretbar (z. B. Item 20 „Während meiner Kindheit und Jugend versuchte jemand, mich sexuell zu berühren oder mich dazu zu bringen, sie oder ihn sexuell zu berühren.“ und Item 24 „Während meiner Kindheit und Jugend belästigte mich jemand sexuell.“). Die Modellanpassungen resultierten in einem guten Modellfit (χ2 (260)=472,02; p<0,001; CFI=0,95; RMSEA=0,04; SRMR=0,05). Die Messinvarianzprüfung basierend auf dem angepassten CFA-Messmodell legte nahe, dass von skalarer MI ausgegangen werden kann (▶Online-Tab. 3), so dass Mittelwertsdifferenzen zwischen den beiden Teilstichproben als Unterschiede in der Konstruktausprägung aufgefasst werden können.

Aus [Tab. 2] geht hervor, dass Probanden, die bis zur Volljährigkeit in der DDR aufgewachsen sind, im CTQ signifikant weniger emotionalen Missbrauch berichteten als Studienteilnehmer, die ihre Kindheit und Jugend in der BRD verlebt haben. Hinsichtlich aller anderen Formen von Kindesmisshandlungen zeigten sich keine signifikanten Unterschiede zwischen den beiden Teilstichproben.

Tab. 2 Vergleich der dimensionalen CTQ-Werte zwischen Probanden, die in der DDR bzw. BRD geboren und bis zur Volljährigkeit aufgewachsen sind (kontrolliert für Schulbildung).

CTQ-Subskalen

DDR

BRD

Regression

M

SD

M

SD

β

p

Sexueller Missbrauch

5,67

2,20

5,88

2,98

0,03

0,535

Körperlicher Missbrauch

6,27

2,61

6,52

3,16

0,04

0,390

Emotionaler Missbrauch

6,71

2,90

7,68

4,19

0,10

0,030

Körperliche Vernachlässigung

7,46

2,53

7,52

2,96

− 0,01

0,815

Emotionale Vernachlässigung

9,69

4,46

10,76

5,51

0,08

0,081

[Abb. 1] veranschaulicht die Häufigkeiten von Kindesmisshandlungen, wenn die kategoriale Auswertungsmethode des CTQ angewandt wird: In der linken Spalte ([Abb. 1a]) sind die Verteilungen der vierstufigen Ausprägungen, in der rechten ([Abb. 1b]) die zweistufigen Ausprägungen dargestellt. Mäßige, schwere und extreme Formen von emotionalem Missbrauch wurden von in der BRD aufgewachsenen Probanden signifikant häufiger erinnert als von jenen, die ihre Kindheit und Jugend in der DDR verbrachten. Die zweistufige Auswertung des CTQ ergab, dass auch emotionale Vernachlässigung signifikant häufiger von BRD-Studienteilnehmern erinnert wurde als von DDR-Probanden. Angaben zu sexuellem und körperlichem Missbrauch sowie zu körperlicher Vernachlässigung waren in etwa gleich verteilt in beiden Teilstichproben.

Zoom Image
Abb. 1 Häufigkeit von Kindesmisshandlung (vierstufige und zweistufige Auswertung).

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Diskussion

Nach dem sozioökologischen Modell werden Kindesmisshandlungen und ihre Prävalenzen auf der Makroebene von politischen, ökonomischen und kulturellen Faktoren determiniert [11] [12]. Für diese Annahme spricht u. a. die große Spannbreite der international berichteten Häufigkeiten, z. B. zu emotionaler Vernachlässigung, die von knapp 4% bis 80% reicht [8]. Vor diesem Hintergrund untersuchten wir, ob sich die Prävalenzen von selbstberichteten Kindheitstraumatisierungen in der Allgemeinbevölkerung zwischen BRD und DDR vor der Wiedervereinigung unterscheiden.

Unsere Ergebnisse legen nahe, dass Probanden, die in der DDR geboren wurden und dort bis zur Volljährigkeit aufwuchsen, signifikant weniger emotionalen Missbrauch angaben, als die aus der BRD stammenden Probanden, wobei sowohl die dimensionale als auch die kategoriale Auswertung des CTQ zu diesem Resultat kam. Der gleiche Befund wurde auch von einer unabhängigen Arbeitsgruppe publiziert [17] und korrespondiert mit anderen Allgemeinbevölkerungsstudien, nach denen ostdeutsche Probanden ihre Eltern emotional wärmer und weniger ablehnend bzw. kontrollierend erinnern als westdeutsche Studienteilnehmer [30] [31]. Bei der Interpretation dieser Befunde sind jedoch Sozialisations- und Enkulturationseffekte auf das Gedächtnis zu berücksichtigen: So führten sozioökonomische Bedingungen in der DDR (z. B. die Vollzeitberufstätigkeit beider Eltern) und sozialpolitische Faktoren (etwa die überwiegende Fremdbetreuung bereits ab dem Säuglingsalter) zu einer geringen Interaktionszeit zwischen Eltern und Kindern im familiären Rahmen [32] [33] [34] [35], was sich vermutlich in Art und Inhalt der Erinnerungsrepräsentationen niederschlagen dürfte. Zudem stellte die kollektive Sozialisierung in meist staatlichen Betreuungseinrichtungen hohe Anpassungsanforderungen an die so erzogenen Kinder [32] [33] [34] [35] [36], wodurch möglicherweise die Wahrnehmungsschwelle und die Bewertungsmaßstäbe von Kindesmisshandlungen im Allgemeinen und emotionalem Missbrauch im Besonderen beeinflusst worden sind. Andererseits legen Studien nahe, dass die „sozial offenere(n) Ostdeutsche(n)“ „mehr soziale Nähe suchen und sich im Ganzen als mehr sozial verbunden erleben“ als die „individualistischere(n) Westdeutsche(n)“ ([37]; S. 15). Zudem legen sie mehr Wert auf Familienleben, verspüren mehr soziale Unterstützung und zeigen mehr zuwendungsorientiertes Coping als Probanden aus der BRD [38]. Es wäre somit denkbar, dass die Sozialisationsunterschiede zwischen Probanden aus der DDR und der BRD die Wahrnehmung, die Erinnerung und das Berichten emotional missbräuchlicher Erfahrungen beeinflussen. Für diese Überlegung spricht, dass die Items der CTQ-Subskala emotionaler Missbrauch vergleichsweise offen formuliert sind und somit größeren Interpretationsspielraum zulassen als die Items der anderen Skalen. Zusammenfassend muss offen bleiben, ob emotionaler Missbrauch in der DDR tatsächlich seltener als in der BRD stattfand oder ob dieser Befund ganz überwiegend durch soziokulturelle Effekte erklärbar ist.

Hinsichtlich anderer Formen von Kindesmisshandlungen ergaben sich keine relevanten Differenzen zwischen den Teilstichproben. Dieses Ergebnis steht in deutlichem Kontrast zu den Befunden von Ulke und Kollegen [17]. In dieser Studie berichteten vor 1980 geborene, in Westdeutschland lebende Frauen signifikant häufiger alle Formen von Kindesmisshandlung als in der DDR lebende und vor 1980 geborene Frauen. Bei Männern fanden sich signifikante Unterschiede bezüglich körperlichen und sexuellen Missbrauchs, die von westdeutschen Probanden mit einer 80% respektive 150% höheren Wahrscheinlichkeit berichtet wurden als von ostdeutschen Männern [17]. Diese Kontraste könnten eventuell auf die zunehmende zeitliche Distanz zur DDR-Vergangenheit zurückgeführt werden, denn während die Gruppe um Ulke [17] Daten auswertete, die 2010, 2013 und 2016 erhoben worden waren, basieren unsere Befunde auf Erhebungen aus 2022. Eine alternative Erklärung bezieht sich auf ein divergierendes Erhebungsinstrumentarium und unterschiedliche Einschlusskriterien. So haben Ulke und Kollegen [17] Probanden eingeschlossen, die bei der Wiedervereinigung erst 10 Jahre alt waren, und die Differenzierung in Ost- respektive Westdeutsche anhand des aktuellen Wohnortes vorgenommen und so die Binnenmigration nicht berücksichtigt. Zudem wurde mit dem CTS ein ultra-kurzes Screeningverfahren angewandt, das die verschiedenen Formen von Kindheitstraumatisierungen mit nur je einem Item erfasst, die darüber hinaus nicht dimensional, sondern dichotomisiert ausgewertet wurden. Im Unterschied dazu wurde in unserer Studie der CTQ eingesetzt, der die diversen Formen von Kindesmisshandlungen mit je fünf Items differenzierter abbildet [14] [15] und der sowohl dimensional als auch kategorial ausgewertet wurde. Auch wurden ausschließlich Probanden berücksichtigt, die zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung 18 Jahre oder älter waren und die nach ihrem Geburtsort der DDR- respektive BRD-Gruppe zugeordnet wurden.

Durch dieses Einschlusskriterium (Alter bei Studienteilnahme≥50 Jahre) war das Durchschnittsalter der Stichprobe vergleichsweise hoch, so dass altersbedingte Erinnerungsverzerrungen (Übersicht bei [39] [40]) nicht ausgeschlossen werden können. Während mit dem Alter allgemeine Erinnerungsverzerrungen zunehmen, scheint sich hingegen das autobiographische Gedächtnis auf das Wesentliche zu fokussieren [41]; daher muss offen bleiben, inwiefern unsere Befunde durch altersbedingte Gedächtnisveränderungen beeinflusst sind. Zudem waren beide Teilstichproben gleich alt, so dass Verzerrungen durch Alterseffekte bei ihrem Vergleich wenig plausibel erscheinen.

Gleichwohl müssen einige methodenkritische Aspekte hervorgehoben werden, davon insbesondere die im Vergleich zu Ulke et al. [17] deutlich kleinere und nicht in allen soziodemografischen Parametern repräsentative Stichprobe, v. a. hinsichtlich der Geschlechterverteilung mit einem Überwiegen der männlichen Studienteilnehmer. So konnte zwar basierend auf dem angepassten CFA-Modell skalare Messinvarianz nach dem geforderten Kriterium angenommen werden, jedoch ist anzumerken, dass sich im SRMR eine substantielle Verschlechterung über die verschiedenen Messinvarianzstufen zeigte. Auch müssen die Ergebnisse der MI-Testung hinsichtlich der ungleichen Gruppengröße der beiden Teilstichproben mit Vorsicht interpretiert werden, da dies zu Verzerrungen in der Schätzung von faktorieller Invarianz führen könnte [42]. Zudem ist wahrscheinlich, dass eine online dargebotene Umfrage qua Selbstselektion andere Probanden erreicht und die interessierenden Ergebnismaße anders abbildet als eine Repräsentativbefragung mit persönlichem Kontakt zu den Studienteilnehmern [17]. Diese Überlegungen unterstreichen abermals, wie zentral die Methodik in Studien zu Kindesmisshandlungen ist, v. a. bei Prävalenzerhebungen im Dunkelfeld [12].

Unabhängig davon bleibt festzuhalten, dass epidemiologische Untersuchungen zur Prävalenz von Kindesmisshandlung nicht nur aus methodischen Gründen eine Herausforderung darstellen [12], sondern auch wegen ihrer hochsensiblen gesellschaftlichen und politischen Implikationen besonders sorgfältig zu planen, durchzuführen und zu interpretieren sind. Gerade hier sind Replikationsstudien von hoher Relevanz, denn nur auf einer soliden Datenbasis können aus der Perspektive des sozioökologischen Modells [11] sinnvolle gesundheitspolitische Maßnahmen zur Primär- und Sekundärprävention von Kindesmisshandlungen abgeleitet werden.


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Konsequenzen für Klinik und Praxis

  • Weil epidemiologische Untersuchungen zur Prävalenz von Kindesmisshandlungen methodisch herausfordernd sind, erfordern sie eine gleichermaßen sorgfältige wie ausgewogene Planung, Durchführung und Interpretation.

  • Das sozioökologische Modell bietet einen sinnvollen Rahmen, um auf einer breiten Datenbasis gesundheitspolitische Strategien zur Primär- und Sekundärprävention abzuleiten.


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Interessenkonflikt

Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Fördermittel

Gesellschaft für Nervenheilkunde Mecklenburg-Vorpommern e.V.

Zusätzliches Material

  • Literatur

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  • 3 Pfaltz MC, Halligan SL, Haim-Nachum S. et al. Social Functioning in Individuals Affected by Childhood Maltreatment: Establishing a Research Agenda to Inform Interventions. Psychother Psychosom 2022; 91: 238-251
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Korrespondenzadresse

Prof. Dr. Carsten Spitzer
Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universitätsmedizin Rostock
Gehlsheimer Str. 20
18147 Rostock
Deutschland   
Telefon:    

Publikationsverlauf

Eingereicht: 03. Dezember 2022

Angenommen: 23. Februar 2023

Artikel online veröffentlicht:
05. Mai 2023

© 2023. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

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Abb. 1 Häufigkeit von Kindesmisshandlung (vierstufige und zweistufige Auswertung).