CC BY-NC-ND 4.0 · Fortschr Neurol Psychiatr 2023; 91(04): 141-146
DOI: 10.1055/a-2042-2338
Übersichtsarbeit

Gentherapie der Huntington-Krankheit

Gene Therapy for Huntington Disease
1   Klinik und Poliklinik für Neurologie, Universitätsklinikum an der TU Dresden, Dresden, Germany
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1   Klinik und Poliklinik für Neurologie, Universitätsklinikum an der TU Dresden, Dresden, Germany
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Zusammenfassung

Deutsch: Als häufige genetisch bedingte neurodegenerative Erkrankung ist die Huntington-Krankheit eine Modellerkrankung – auch für die Gentherapie. Unter den unterschiedlichen Möglichkeiten ist die Entwicklung von Antisense-Oligonukleotiden am weitesten fortgeschritten. Als weitere Optionen auf Ebene der RNA stehen Mikro-RNAs und Modulatoren der RNA-Prozessierung (Spleißen) zur Verfügung, auf DNA-Ebene Zink-Finger-Proteine. Mehrere Produkte befinden sich in der klinischen Prüfung. Diese unterscheiden sich in Applikationsform und systemischer Verfügbarkeit, aber auch in der genauen Wirkung. Ein wichtiger Unterschied könnte darin liegen, ob alle Formen des Huntingtin-Proteins gleichermaßen von der Therapie angesprochen werden, oder ob sich die Therapie präferentiell gegen besonders toxische Formen wie das Exon1-Protein richtet. Die Ergebnisse der kürzlich abgebrochenen GENERATION HD1 Studie waren etwas ernüchternd, am ehesten aufgrund der nebenwirkungsbedingten Liquorzirkulationsstörung. Sie sind daher nur ein Schritt in der Entwicklung zu einer wirksamen Gentherapie gegen die Huntington-Krankheit.


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Abstract

Englisch: Being one of the most common genetic neurodegenerative disease, Huntington’s disease has been a model disease – also for gene therapy. Among the various options, the development of antisense oligonucleotides is the most advanced. Further options at the RNA level include micro-RNAs and modulators of RNA processing (splicing), at the DNA level zinc finger proteins. Several products are in clinical trials. These differ in their mode of application and in the extent of systemic availability. Another important difference between therapeutic strategies could be whether all forms of the huntingtin protein are targeted in the same extent, or whether a therapy preferentially targets particular toxic forms such as the exon1 protein. The results of the recently terminated GENERATION HD1 trial were somewhat sobering, most likely due to the side effect-related hydrocephalus. Therefore they represent just one step towards the development of an effective gene therapy against Huntington’s disease.


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Einleitung

Die Huntington Krankheit ist eine der häufigsten genetisch-bedingten neurodegenerativen Erkrankungen. Die Prävalenz beträgt weltweit 2,7 je 100 000, in Europa liegt sie mit 5–10 je 100 000 deutlich höher [1] [2]. Ursache ist eine autosomal-dominant vererbte Mutation im Huntingtin-Gen. Hierbei handelt es sich um eine Expansion der CAG-Wiederholungen im Exon 1. Menschen mit einer Expansionslänge von mehr als 35 CAG-Wiederholungen besitzen ein Risiko zu erkranken. Bei Personen mit 40 oder mehr Wiederholungen gilt ein Krankheitsausbruch innerhalb einer durchschnittlichen Lebensspanne als sicher [3].

Die physiologischen Funktionen von Huntingtin sind noch nicht bis ins Detail verstanden. Es spielt eine wichtige Rolle in der Regulation von Mikrotubuli-vermittelten Transportvorgängen innerhalb von Zellen [1]. Diese spielen vor allem in den Nervenzellausläufern eine wichtige Rolle. Insbesondere der Transport des Wachstumsfaktors BDNF („Brain-derived neurotrophic factor“) aus dem Kortex ins Striatum erfolgt entlang von Mikrotubuli. Da striatale Zellen selbst kein BDNF produzieren können, ist der Transport von BDNF wichtig für die Integrität des Striatums. Darüber hinaus sind Mikrotubuli an der Genese von Zilien beteiligt, fadenförmigen Fortsätzen auf neuronalen und nicht-neuronalen Zellen [4]. Primäre Zilien sind unbeweglich, aber erforderlich für verschiedene Signalwege [5]. Bewegliche Zilien bewegen Flüssigkeiten in Holorganen (z. B. Liquor, Urin, Trachealskret). Zu den pathologischen Effekte von mutiertem Huntingtin zählen daher ein gestörter Transport entlang von Mikrotubuli, eine gestörte Ziliogenese, eine Beeinträchtigung der Autophagie und eine mitochondriale Dysfunktion [1] [4]. Die Tatsache, dass sich homozygote Träger einer Huntingtin-Mutation nicht erheblich von heterozygoten Mutationsträgern unterscheiden, impliziert allerdings, dass die pathologischen Effekte vorwiegend auf einem toxischen Zugewinn beruhen und nicht auf dem Verlust der physiologischen Funktion [6]. Dies legt nahe, dass auch das mutierte Protein einen relevanten Teil der normalen biologischen Funktion weiter ausüben kann.

Als wichtigster pathogenetischer Faktor für die Symptome der Huntington-Krankheit wird das Auftreten toxischer, intranukleärer Aggregate angesehen. Diese sind auf die CAG-Expansion im Huntingtin-Gen zurückzuführen [7]. Der Entstehungsmechanismus dieser Aggregate ist nicht abschließend geklärt. Interessanterweise beinhalten die Aggregate nicht immer das gesamte Huntingtin-Protein, sondern hauptsächlich das sogenannte Exon-1-Protein, das durch aberrantes Spleißen der mRNA entsteht [8]. Bei verschiedenen Repeat-Erkrankungen können zusätzlich zur Glutamin-Expansion auch toxische Dipeptide entstehen. Diese spielen jedoch zumindest im Mausmodell der Huntington-Erkrankung keine Rolle für die Pathogenese [9]. Ein weiterer wichtiger Mechanismus in der Pathogenese der Huntington-Erkrankung ist die somatische Instabilität der CAG-Wiederholungen. Hierbei kommt es im Laufe des Lebens zu einer Expansion der CAG-Wiederholungen – unter anderem im Huntingtin-Gen. Das Ausmaß der somatischen Instabilität ist nicht in allen Zellen gleich. Die von der Huntington-Erkrankung besonders betroffenen Neurone im Striatum zeigen eine besonders ausgeprägte Expansion [10].

Zeichen der Neurodegeneration lassen sich schon lange vor Beginn der klinischen Symptomatik nachweisen. Besonders früh ist ein Anstieg on Neurofilament messbar. Die Höhe dieses Neurodegenerationsmarkers nimmt zu, je näher ein Patient dem errechneten Krankheitsbeginn kommt [11].

Klinisch sind die ersten Anzeichen der Huntington-Krankheit häufig psychiatrische Symptome und kognitive Einschränkungen. Diese treten etwa 15 Jahre vor der Bewegungsstörung auf [12] [13] [14]. Auch eine Atrophie des Nucleus caudatus ist beim Auftreten erster kognitiver Defizite bereits nachweisbar [15] [16]. Die Bewegungsstörung ist zu Beginn meist hyperkinetisch, aber auch eine Bradykinese ist häufig bereits zu diesem Zeitpunkt nachweisbar[17]. Im Verlauf treten in der Regel dystone Anteile hinzu und die Bradykinese nimmt weiter zu [18] [19]. Häufig erfordert diese Veränderung in der Symptomatik dann auch eine Anpassung der Medikation. Für Details verweisen wir hier auf die deutsche Leitlinie [20], welche sich derzeit in Überarbeitung befindet. Bei Patienten mit einer juvenilen oder pädiatrischen Verlaufsform der Erkrankung stehen Dystonie und Bradykinese häufig bereits am Beginn der Erkrankung im Vordergrund [21].

Eine kausale Behandlung der Huntington-Krankheit ist derzeit nicht möglich. Allerdings kann insbesondere die hyperkinetische Bewegungsstörung gut symptomatisch behandelt werden. Die psychiatrischen Symptome und insbesondere kognitive Einschränkungen sind dabei schwieriger zu behandeln. Leider sind diese häufig relevanter für das Leben der Betroffenen und ihre Familien als die motorischen Symptome [18]. Daher ruhen die Hoffnungen vieler Familien auf neuen Behandlungsansätzen, insbesondere aus dem Feld der Gentherapien ([Abb. 1]), die in der Zukunft eine kausale Therapie der Huntington-Erkrankung ermöglichen könnten.

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Abb. 1 Wirkmechanismen der Gentherapeutika. Der Zink-Finger Transkriptionsfaktor TAK-686 hemmt die Transkription in Abhängigkeit der Anzahl der CAG-Wiederholungen. Die Modulatoren des Spleißens Branaplam und PTC518 führen zum Einbau eines Pseudoexons mit vorzeitigem Stopp-Codon und damit zu einer reduzierten der Translation (*). Die ASOs Tominersen und WVE-003 interagieren mit der mRNA, ebenso wie die miRNA welche AMT-130 codiert. Diese Substanzen wirken damit direkt auf der Ebene der Translation.

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Gentherapien für die Huntington-Erkrankung

Antisense-Oligonukleotide (ASO)

Tominersen

Bei Tominersen handelt es sich um ein Antisense-Oligonukleotid, entwickelt von Ionis Pharmaceutics und übernommen von der F. Hoffmann-La Roche AG. Tominersen interagiert sowohl mit der RNA von Wildtyp-Huntingtin als auch mit der RNA von mutiertem Huntingtin und induziert deren Abbau [22]. Die Applikation erfolgt intrathekal mittels Lumbalpunktion. Nach ermutigenden Ergebnissen der präklinischen Untersuchungen wurde 2015 eine Phase 1b/2a Studie (NCT02519036) gestartet. Es wurden 5 verschiedene Dosen an 4 Tagen innerhalb von 3 Monaten verabreicht, die alle sicher und verträglich waren. Es konnte eine dosisabhängige Reduktion von mutiertem Huntingtin im Liquor erreicht werden [23]. Daher wurde für folgende Studien die höchste Dosis von 120 mg ausgewählt [3]. Dies erfolgte zunächst in der Phase 2 Open-label-Studie (NCT03342053), bereits hier zeigte sich eine dosisabhängige Ventrikelerweiterung und eine Erhöhung der Neurofilament-Werte. Auch in der Phase 3 Studie GENERATION HD1 (NCT03761849) wurde die Dosis von 120 mg verwendet. Die Probanden erhielten entweder 120 mg Tominersen alle 8 Wochen (8 W), 120 mg Tominersen alle 16 Wochen (16 W) oder ein Plazebo [24]. Eine Lumbalpunktion erfolgte in allen Gruppen 8-wöchentlich. Anfang 2021 wurde die Dosisapplikation nach einer unabhängigen Untersuchung gestoppt, da sich Hinweise für ein ungünstiges Risiko-Nutzen-Verhältnis ergeben hatten. Auch in der Phase 3 Open-label-Studie (GEN-EXTEND; NCT03842969) wurde die Dosisgabe gestoppt.

In der geplanten Auswertung der GENERATION HD1-Studie zeigte sich für die 8W- Behandlungsgruppe ein tendenziell schlechteres Ergebnis in allen Parametern der klinischen Endpunkte und keine Tendenz zur Verbesserung in der 16W-Gruppe im Vergleich zu Plazebo [24]. Die Neurofilament-Werte im Liquor waren im Vergleich zum Behandlungsbeginn in der 8W-Gruppe zu allen Zeitpunkten erhöht. In der 16W-Gruppe war nur zu Beginn eine Erhöhung feststellbar. Die Menge des mutierten Huntingtin Proteins im Liquor wurde jedoch in beiden Behandlungsgruppen signifikant gesenkt. In beiden Behandlungsgruppen war bildgebend eine deutliche Zunahme des Ventrikelvolumens im Vergleich zu Plazebo nachweisbar. Unerwünschte Ereignisse und schwere unerwünschte Ereignisse, waren in allen Behandlungsgruppen auf Plazebo-Niveau.

In einer nachträglichen Analyse wurden die behandelten Menschen in Abhängigkeit von Alter und Krankheitslast in 4 Gruppen eingeteilt. Als einfaches Maß für die Krankheitslast wurde dabei das CAG-Alter-Produkt verwendet (CAP, Alter*(CAG-Wiederholungen-33,66)). Für die Subgruppe mit niedrigem Alter und niedriger Krankheitslast zeigte sich für das 16-Wochen-Intervall keine eindeutige Verschlechterung der klinischen Parameter [24]. Keine der vom Sponsor der Studie berichteten Tendenzen dieser Subgruppe war im Vergleich zu Plazebo signifikant. Die entsprechende Analyse wurde nachträglich und rein explorativ durchgeführt. Die Studie war nicht für eine Subgruppenanalyse ausgelegt. Die Ventrikelweite nahm im Vergleich zu Plazebo aber auch in dieser Subgruppe zu. Der Sponsor gab an, dass aufgrund dieser Analyse für die Zukunft eine Phase 2 Studie mit jüngeren Patienten und niedriger Krankheitslast geplant sei. Weitere Details hierzu sind bisher nicht bekannt.


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WVE-003

Bei WVE-003 handelt es sich um ein intrathekal appliziertes Antisense-Oligonukleotid von Wave Life Sciences. Dieses zielt auf einen nicht näher bezeichneten Einzelnukleotid-Polymorphismus ab [25]. Über diesen Mechanismus soll es allelspezifisch wirken. WVE-003 ist damit nicht für alle Patienten geeignet – dieser Polymorphismus soll aber bei etwa 40% der Menschen mit der Huntington-Erkrankung vorliegen [26]. Die beiden früheren Entwicklungen von Wave (WVE-120101 und WVE-120102) waren ebenfalls allelspezifische ASO mit Einzelnukleotid-Polymorphismen als Ziel. Sie konnten in klinischen Studien das mutierte Huntingtin in Patienten nicht senken und wurden daher nicht weiter verfolgt [22] . In vitro führte die Applikation von WVE-003 zu einer Reduktion vorrangig der mutierten Huntingtin-mRNA. Im Mausmodell konnte WVE-003 mutierte Huntingtin-mRNA in Kortex und Striatum dauerhaft senken [27]. Auf Basis dieser Ergebnisse begann im September 2021 die SELECT-HD-Studie, eine Phase 1b/2a-Studie (NCT05032196) die Sicherheit, Verträglichkeit und pharmakologische Eigenschaften von WVE-003 in Huntington-Patienten untersucht. Ergebnisse aus dieser Studie sind bisher nicht bekannt.


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miRNA

AMT-130

Bei AMT-130 von UniQure N.V. handelt es sich um eine DNA-Sequenz, welche für eine miRNA codiert. Diese wird mittels Adeno-assoziiertem-Virus (AAV) der Serogruppe 5 in die Zielzellen eingebracht [28]. Die miRNA aktiviert den „RNA-induced Silencing Complex“ und reduziert hierdurch die Huntingtin-Synthese. AMT-130 wird durch intrastriatale Injektion appliziert und wirkt potentiell auch gegen das Exon-1-Protein. Präklinisch konnte gezeigt werden, dass AMT-130 in verschiedenen in vitro und in vivo Modellen sowohl Huntingtin-mRNA als auch das Protein reduziert [28]. Dabei zeigte sich ein andauernder Effekt; auch 7 Monate nach Injektion war eine deutliche Reduktion von Huntingtin nachweisbar. In nicht-menschlichen Primaten zeigte sich neben der Sicherheit und Verträglichkeit der Behandlung auch eine grundsätzlich wünschenswerte Ausbreitung von Vektor-DNA und miRNA über das Injektionsareal hinaus. Diese waren – in geringeren Mengen – beispielsweise im Kortex nachweisbar.Derzeit läuft eine Phase 1b/2a Studie (NCT04120493), welche die Verträglichkeit und das Therapiekonzept in 26 Huntington-Patienten prüft. Die Auswertung erfolgt anhand von Liquor-Biomarkern, Bildgebung und klinischen Scores. Bei 3 von 14 Patienten mit der hohen Dosis kam es zu Nebenwirkungen. Alle drei Patienten erholten sich nach der notwendigen Krankenhausbehandlung vollständig und nach einer Überprüfung empfahl das Datenüberwachungskommitee die Weiterführung, auch der hohen Dosierung [29]. Auch die ersten Ergebnisse der Patientengruppe mit der niedrigen Dosierung sprechen bisher für die Sicherheit dieser Behandlung. Insgesamt wurden 10 Patienten in dieser Kohorte behandelt, davon erhielten sechs AMT-130, die anderen Plazebo. Die behandelten Patienten wiesen nach 12 Monaten im Liquor eine Reduktion des mutierten Huntingtins um 53,8% im Vergleich zum Ausgangswert auf. In der Plazebogruppe kam es zu einem Rückgang um 16,8%. Die NeurofilamentWerte lagen nach dem initialen Anstieg im Rahmen der Applikation, nach 12 Monaten im Bereich des Ausgangswertes [30]. Ein vorübergehender Anstieg von Neurofilament konnte auch nach anderen intrazerebralen Manipulationen wie Tiefe Hirnstimulation und Shuntanlage beobachtet werden [31].


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Modulatoren des Spleißens

PTC518

PTC518 ist eine niedermolekulare Verbindung von PTC Therapeutics, welche den Vorgang des Spleißens moduliert. Die Einnahme erfolgt oral. PTC518 verursacht den Einbau eines neuen Pseudoexons mit vorzeitigem Stopcodon zwischen Exon 49 und Exon 50 [32]. Hierdurch kommt es zum Abbau der Huntingtin-mRNA und dadurch zur Reduktion des Huntingtin-Proteins. Dieser Prozess ist nicht allelspezifisch. Das gesunde Huntingtin-Allel wird dementsprechend ebenfalls reduziert. In einer Phase 1 Studie konnte eine dosisabhängige Reduktion von Huntingtin-mRNA und Protein von 30–50% im Blut gemessen werden [32]. Zudem konnte gezeigt werden, dass PTC518 im Menschen die Blut-Hirnschranke überwinden kann. Eine Phase 2 Studie, welche die Sicherheit und Pharmakodynamik in Patienten mit der Huntington-Krankheit untersucht, wurde im April 2022 gestartet (PIVOT HD; NCT05358717).


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Branaplam (LMI070)

Auch Branaplam ist eine niedermolekulare Verbindung, die das Splicing moduliert. Branaplam wurde von Novartis entwickelt und wird einmal wöchentlich oral eingenommen. Ähnlich wie PTC518 verursacht es den Einbau eines neuen Pseudoexons zwischen Exon 49 und Exon 50. Initial wurde dieses Präparat für die Spinale Muskelatrophie entwickelt. In Tiermodellen zeigte sich jedoch auch eine Reduktion der Huntingtin-mRNA und des mutierten Huntingtin-Proteins [33]. Daher wurde in Menschen mit der Spinalen Muskelatrophie Typ 1 die Expression der Huntingtin-mRNA im Blut gemessen. Nach 940 Tagen zeigte sich eine Reduktion um 40%. Daher wurde im Dezember 2021 eine Phase 2b-Studie (NCT05111249) zur Dosisfindung mit 75 früh manifesten Personen mit der Huntington-Erkrankung gestartet. Im August 2022 wurde die Studienmedikation aufgrund möglicher Nebenwirkungen gestoppt, da sich bei einigen Teilnehmern der Studie Hinweise auf eine beginnende Polyneuropathie zeigten [34], im Dezember 2022 wurde die Studie dann endgültig gestoppt [35].


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Zink-Finger-Proteine

TAK-686

Sangamo Therapeutics und Takeda haben einen Zink-Finger Transkriptionsfaktor für die Behandlung der Huntington-Erkrankung entwickelt [36]. TAK-686 befindet sich derzeit in noch in der Phase der präklinischen Testung. Interessanterweise wirkt dieses Präparat zum einen allelspezifisch, zum anderen könnte dieser Wirkmechanismus auch die durch das Exon-1-Protein verursachte Pathologie positiv beeinflussen. Die Expression des Transkriptionsfaktors erfolgt durch einen AAV der Serogruppe 9, der mittels Injektionen in das Striatum appliziert wird. In verschiedenen in vitro und in vivo Modellen konnte eine deutliche Reduktion der mutierten Huntingtin-mRNA gezeigt werden. Die Wildtyp-Huntingtin-mRNA war über die Modelle hinweg nicht unter 86% des Ausgangswertes reduziert [37].


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Diskussion

Die Ergebnisse der ersten Phase 3 Studie mit einer Gentherapie gegen die Huntington-Krankheit (Tominersen, GENERATION HD1) waren für Patienten und forschende Ärzte enttäuschend. Dennoch konnte die Reduktion des Huntingtin-Proteins im Liquor auch in dieser Studie bestätigt werden. Zudem erbrachte die Studie weitere wichtige Erkenntnisse, die in Folgestudien aufgegriffen werden können. Auch befinden sich eine Reihe weiterer, vielversprechender Ansätze in der Prüfung. Die Gentherapie gegen die Huntington-Krankheit ist somit noch am Anfang ihrer Entwicklung.

Applikationswege

Ein wichtiges Thema für die Weiterentwicklung der Gentherapie gegen die Huntington-Krankheit ist die Verfügbarkeit in Striatum und Kortex, also den Regionen des Gehirns, in denen vermutlich die motorischen und kognitiven Symptome der Erkrankung entstehen. In keiner der bisherigen Studien konnte die Konzentration von Huntingtin-Protein im Striatum der Patienten gemessen werden. Daher ist unklar, ob die intrathekale Applikation von Tominersen mittels Lumbalpunktion ausreicht, um das Huntingtin-Protein im Gehirn zu beeinflussen. Die fehlende therapeutische Wirkung könnte zumindest dadurch erklärt werden. Eine alternative Erklärung ist, dass die Dauer der Reduktion zu kurz war. Dies ist jedoch angesichts der nachgewiesenen Progredienz von Symptomen und Biomarkern weniger wahrscheinlich, jedoch könnten die dosisabhängigen Nebenwirkungen mögliche positive Effekte überdeckt haben. Vor diesem Hintergrund könnte eine weitere Prüfung in niedrigerer Dosis sinnvoll sein.

Da es sich bei der Huntington-Krankheit um eine Systemerkrankung handelt, wäre die Verfügbarkeit in allen betroffenen Zellen vermutlich am besten durch eine orale Gabe sicherzustellen. Dies ist allerdings für die meisten ASO-Präparate nicht möglich. Lediglich die Spleiß-Modulatoren PTC518 und Branaplam sind oral verfügbar. Eine zweite Möglichkeit sind AAV. Diese müssen mittels intrastriataler Injektion appliziert werden. Allerdings ist eine auf das Striatum beschränkte Therapie vermutlich nicht ausreichend, um auch die für die Patienten relevanten kognitiven und psychiatrischen Defizite wirksam zu verhindern. Für AMT-130 konnte in nicht-menschlichen Primaten gezeigt werden das sich Vektor-DNA und transgene miRNA auch weit über die Injektionsstelle hinaus im Gehirn ausbreiten können [28]. Es ist jedoch unklar, ob dies für einen relevanten Effekt ausreicht. In diesem Zusammenhang sind präklinische Daten relevant, welche die Relevanz kortikaler Neurone für die Huntington-Pathologie untermauern. In einem in vitro Modell neuronaler Kulturen aus striatalen und kortikalen Neuronen hing die Pathologie stärker vom Mutationsstatus der kortikalen Neurone ab, als vom Mutationsstatus der striatalen Neurone [38]. Selbst für die typische Atrophie des Striatums bei der Huntington-Krankheit könnte daher die Expression von mutiertem Huntingtin in kortikalen Neurone wichtiger sein als die Expression im Striatum selbst.


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Biomarker und ihr Einfluss auf den Behandlungsbeginn

Für die weitere Entwicklung von Gentherapien wäre es daher wünschenswert, Biomarker für die Expression von mutiertem Huntingtin im Gehirn zur Verfügung zu haben. Es ist fraglich, dass die bisher verfügbare Messung von mutiertem Huntingtin im Liquor hierfür eine ausreichende Aussagekraft besitzt.

Klinische Parameter wie Veränderungen in der „Unified Huntington‘s Disease Rating Scale“ (UHDRS) oder der „Total Functional Capacity“ (TFC) können die Progredienz der Erkrankung in Patienten mit manifester Huntington-Erkrankung abbilden, verändern sich jedoch relativ langsam im Krankheitsverlauf und sind für Menschen im Frühstadium oder prämanifesten Personen kaum geeignet. Da ein erheblicher Teil der Nervenzellen bereits vor dem Auftreten erster Symptome degeneriert, wäre ein früher Beginn der Behandlung sinnvoll. Wie bereits oben aufgeführt, sprechen die Ergebnisse der „Huntington‘s disease Young Adult Study“ für die Relevanz von Neurofilament als sehr früh nutzbaren Biomarker. Auch die Ergebnisse anderer Untersuchungen können dies belegen; hier sei insbesondere ENROLL-HD (https://www.enroll-hd.org/) mit der zugehörigen Liquor-Studie HDClarity erwähnt – auch ist hier an vielen Zentren im deutschsprachigen Raum eine Teilnahme möglich [39] [40].

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Entwicklung des „Huntington´s disease Integrated Staging System“, eines neuen Systems welches die Huntington-Erkrankung in vier Stadien – davon zwei prämanifeste – einteilt (0: Mutationsträger ohne feststellbare Pathologien; 1: Stadium messbarer Krankheitsprogression anhand von Biomarkern ; 2: Stadium klinischer Symptome; 3: Stadium des Funktionsverlustes) [41]. Bei diesem System handelt es sich um einen ersten Versuch in klinischen Studien auch prämanifeste Personen mit einzubeziehen. Sowohl bei der Studie von PTC, als auch der neuen Studie von Roche, ist die Möglichkeit der Teilnahme einer begrenzten Zahl von prämanifesten Mutationsträgern vorgesehen.

Aus den oben genannten Gründen ist ein Beginn der Gentherapie im prämanifesten Stadium wahrscheinlich der erfolgversprechendste Zeitpunkt. Wann genau der optimale Startzeitpunkt ist – beispielsweise beim Auftreten degenerativer Veränderungen in der Bildgebung, oder bereits beim Anstieg von Neurofilament – werden zukünftige Studien zeigen müssen.


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Die Rolle des gesunden Huntingtin-Allels

Unabhängig von der Frage, in welchen Bereichen des Gehirns die Huntington-Gentherapie wirken sollte und wie die Verfügbarkeit dort am besten erreicht werden kann, stellt sich die Frage, ob die unselektive Absenkung des Huntingtin-Proteins – wie sie durch Tominersen vermittelt wird – die bestmögliche therapeutische Option darstellt. Wie eingangs diskutiert übt das Huntingtin-Protein wichtige physiologische Funktionen im Nervensystem aus. Daher könnte eine zu starke Absenkung von Huntingtin Nebenwirkungen verursachen. Dies könnte eine Erklärung für die tendenziell stärkere Verschlechterung unter Tominersen im Vergleich zu Plazebo in der GENERATION HD1-Studie sein. Insbesondere die Zunahme der Ventrikelweite und die vereinzelt aufgetretenen Hydrozephalie könnten durch die Rolle von Huntingtin für motile Zilien erklärt werden. Im Tiermodell führte ein vollständiges Ausschalten von Huntingtin zu einer Schädigung von Zilien, zu einer Beeinträchtigung des Liquorflusses und zum Auftreten eines Hydrozephalus [4]. In wie weit entzündliche Veränderungen hier eine zusätzliche oder die führende Rolle spielen ist noch zu klären. Gegen die Hypothese der entzündlichen Genese spricht, dass diese Nebenwirkung bei anderen intrathekalen ASO-Therapien nicht in einem vergleichbaren Ausmaß beobachtet wurde.

Eine Möglichkeit, diese Nebenwirkungen zu vermeiden, könnte darin liegen, das Huntingtin-Protein weniger deutlich zu senken. Ein anderer Ansatz wäre die selektive Reduktion des mutierten Huntingtin-Allels wie es mit dem ASO WVE-003 und dem Zink-Finger Transkriptionsfaktor TAK-686 angestrebt wird. Nachteilig ist hierbei, dass beispielsweise WVE-003 aufgrund des Wirkmechanismus nicht für alle Patienten mit der Huntington-Erkrankung anwendbar ist.


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Die Rolle des Exon-1-Huntingtin-Proteins

Ein weiterer noch offener Punkt ist die Relevanz des oben beschriebenen Exon-1-Huntingtin-Proteins. Einige Autoren sehen darin den wichtigsten Verursacher der toxischen, intranukleären Aggregate und stellen die Hypothese auf das ein Ausschalten dieses Proteins die Erkrankung erheblich mehr beeinflussen würde als die Reduktion des mutierten Huntingtins [8]. Der Entstehung des Exon-1-Huntingtin-Proteins liegt ein inkomplettes Splicen der mutierten Huntingtin-mRNA zu Grunde. Daher sind nicht alle Therapiemechanismen in der Lage, die Produktion des Exon-1-Proteins zu beeinflussen. Lediglich AMT-130 und TAK-686 sind potentiell dazu in der Lage.


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Einfluss der somatischen CAG-Expansion

Auch die Rolle der somatischen Expansion der CAG-Wiederholungen auf die Wirkung der diskutierten gentherapeutischen Ansätze ist bisher unbekannt. Es ist denkbar, dass betroffene Neurone durch die Veränderungen im Rahmen der somatischen Expansion weniger empfindlich für bestimmte Gentherapien werden. Zum Beispiel ist bei der Gruppe der Zink-Finger Transkriptionsfaktoren die Wirkung von der Anzahl der CAG-Wiederholungen abhängig. Umgekehrt ist ebenso denkbar, Gentherapien speziell auf Zellarten mit somatischer Expansion zuzuschneiden und dadurch Nebenwirkungen zu reduzieren [3].


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Schlussfolgerungen

Die Huntington-Krankheit ist aufgrund ihrer Häufigkeit eine Modellerkrankung genetisch bedingter neurodegenerativer Erkrankungen. Daher kommt ihr eine Pionierfunktion in der Etablierung von Gentherapien zu. Viele der aktuell für die Huntington-Krankheit zu lösenden Fragen sind auch für andere genetisch bedingte Erkrankungen relevant. Dies betrifft insbesondere die Applikationsform und die Frage nach allelspezifischen Therapien. Durch die aktuell laufenden Studien zur Gentherapie gegen die Huntington-Krankheit sind also weiterhin spannende Erkenntnisse zu erwarten.


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Interessenkonflikt

Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.


Korrespondenzadresse

Prof. Björn Falkenburger
Universitätsklinikum an der TU Dresden
Klinik und Poliklinik für Neurologie
Fetscherstrasse 74
01307 Dresden
Germany   
Phone: +401622584149   

Publication History

Received: 01 September 2022

Accepted: 16 February 2023

Article published online:
11 April 2023

© 2023. The Author(s). This is an open access article published by Thieme under the terms of the Creative Commons Attribution-NonDerivative-NonCommercial-License, permitting copying and reproduction so long as the original work is given appropriate credit. Contents may not be used for commercial purposes, or adapted, remixed, transformed or built upon. (https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/).

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Abb. 1 Wirkmechanismen der Gentherapeutika. Der Zink-Finger Transkriptionsfaktor TAK-686 hemmt die Transkription in Abhängigkeit der Anzahl der CAG-Wiederholungen. Die Modulatoren des Spleißens Branaplam und PTC518 führen zum Einbau eines Pseudoexons mit vorzeitigem Stopp-Codon und damit zu einer reduzierten der Translation (*). Die ASOs Tominersen und WVE-003 interagieren mit der mRNA, ebenso wie die miRNA welche AMT-130 codiert. Diese Substanzen wirken damit direkt auf der Ebene der Translation.