Nervenheilkunde 2023; 42(08): 507-509
DOI: 10.1055/a-2083-8039
Zu diesem Heft

Funktionelle neurologische Bewegungsstörungen – Ein Update zur Diagnosestellung, Forschung und Therapie

Anne Weißbach
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Alexander Münchau
 
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    Priv.-Doz. Dr. med. Anne Weißbach Leiterin der Arbeitsgruppe für funktionelle neurologische Störungen am Institut für systemische Motorikforschung und Zentrum für seltene Erkrankungen, Campus Lübeck. Quelle: ©privat
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    Prof. Dr. med. Alexander Münchau Direktor des Instituts für systemische Motorikforschung und Leiter der klinischen Sektion Zentrum für Seltene Erkrankungen des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein Campus Lübeck. Quelle: ©Christof Westenberger

    Dieses Themenheft der Nervenheilkunde widmet sich den funktionellen neurologische Bewegungsstörungen, die als eine der größten Gruppen funktioneller Störungen einen der häufigsten Vorstellungsgründe in der neurologischen und psychiatrischen Praxis ausmachen. Patienten mit funktionellen Bewegungsstörungen, haben einen extrem hohen Leidensdruck und chronifizieren häufig. Ein Großteil der Patienten erhält keine Diagnose oder wird erst mit erheblicher Latenz diagnostiziert und scheidet zum Teil komplett aus dem Arbeitsleben aus. Darüber hinaus werden durch diagnostische Unsicherheiten viele Kollegen unterschiedlicher Fachdisziplinen konsultiert und umfangreiche teure Ausschlussdiagnostik eingeleitet. Dies ist besonders bedauerlich, da bei den meisten Patienten eine Diagnose schnell und sicher anhand rein klinischer Kriterien gestellt werden kann.

    Der erste Artikel dieses Themenheftes, den wir gemeinsam mit Feline Hamami und Christos Ganos erstellt haben, hebt deshalb praxisnah die 2 Hauptfeiler der klinischen Diagnosestellung – Inkongruenz und Inkonsistenz – hervor. Erstere bedeutet, dass sich Symptome nicht an neuroanatomische Gesetzmäßigkeiten halten und nicht dem klinischen Bild von nicht funktionellen Bewegungsstörungen entsprechen. Die Inkonsistenz zeigt sich am besten bei der Verlagerung von Aufmerksamkeit weg von den betroffenen Körperregionen und den Symptomen hin zu noch gut funktionierenden und nicht betroffenen Körperbereichen. Entscheidend ist dabei, dass die Patienten aktiv in die klinische Untersuchung und Identifikation der klinischen Diagnosekriterien einbezogen werden, um ihnen zu verdeutlichen, dass ihre Symptome durch eine solche Aufmerksamkeitsverlagerung und damit durch sie selbst beeinflussbar sind. Dadurch erleben sich Patienten selbst wieder als Akteure ihrer eigenen Bewegungen.

    Damit dies einen Schlüsselmoment darstellen kann, in der die Diagnosestellung bereits zum Start der Therapie wird, ist eine besondere Gesprächsführung unerlässlich. Im zweiten Artikel dieses Themenheftes von Rosa Michaelis und Stoyan Popkirov beschreiben diese detailliert, wie es gelingt, dass Patienten ihre Diagnose verstehen und akzeptieren und so die Grundlage geschaffen wird, dass therapeutische Maßnahmen wirksam werden können. Dabei hat es sich unter anderem bewährt, den Patienten pathophysiologische Konzepte aus der aktuellen Forschung, laienverständlich zu erläutern. Alexander Gless, Jos Becktepe und Kirsten Zeuner legen dazu in ihrem Artikel des Themenheftes dar, wie es trotz fehlender, struktureller Veränderungen zu einem gestörten Zusammenspiel von Hirnbereichen kommt, welche für die Bewegungsplanung, -initiierung und -wahrnehmung von Bedeutung sind. Neurophysiologische und bildgebende Forschungsbefunde wiesen zudem Auffälligkeiten in der Emotionsregulation, der flexiblen Aufmerksamkeitsverlagerung, der motorischen Metakognition und der Filterung intero- und exterozeptiver Reize nach.

    Diese pathophysiologischen und klinischen Charakteristika können sehr gut therapeutisch genutzt werden. In ihrem Artikel zur Physiotherapie verdeutlichen Christof Degen, Annemarie Reincke, Bernhard Fasching und Kerstin Lüdtke wie mithilfe von motorischer Aufmerksamkeitsverlagerung auf noch gut funktionierende Tätigkeiten, z. B. Hobbys, die Symptome reduziert und kontrollierbar gemacht werden. Damit unterscheidet sich diese erheblich von herkömmlichen physiotherapeutischen Maßnahmen anderer neurologischer Störungen, die am Symptom bzw. betroffenen Körperteil trainieren. Spezialisierte Physiotherapie funktioneller Bewegungsstörungen folgt einem kognitiv-verhaltenstherapeutischem Ansatz, bei dem Symptomtrigger mit den Patienten identifiziert werden und der richtige Umgang mit diesen im Rahmen eines gesundheitsförderlichen Verhaltens trainiert wird.

    Das Pendant zu diesen physiotherapeutischen Maßnahmen sind psychotherapeutische Behandlungsansätze, bei denen unter anderem ein kognitives Aufmerksamkeitstraining im Rahmen einer metakognitiven Therapie zur Anwendung kommt. Diese und weitere psychotherapeutische Therapiemöglichkeiten und deren Grundlagen beschreiben Christina Bolte, Johanna Geritz, Daniel Alvarez-Fischer und Matthias Hoheisel anhand illustrativer Fallbeispiele in ihrem Beitrag.

    Als Therapie-Goldstandard gilt die interdisziplinäre Behandlung, bei der Physio- und Psychotherapie neben Ergo-, Logo-, Musik- und/oder sozialtherapeutischen Maßnahmen den größten Stellenwert haben. Eine synergistische Zusammenarbeit zwischen den unterschiedlichen Fachdisziplinen mit gleicher Terminologie und Verständnis der Erkrankung fördert die interdisziplinäre Psychoedukation der Patienten, durch welche diese ihre Erkrankung besser verstehen und akzeptieren können. Patienten werden so zu eigenen Experten ihrer Erkrankung und lernen, Selbsthilfestrategien erfolgreich zu nutzen und sich und andere fortzubilden. Dies führte unter anderem zur Gründung der ersten deutschlandweiten Patienteninitiative für funktionelle neurologische Störungen (fns.initiative@gmail.com).

    Im Rahmen dieses Themenheftes stellen die Kollegen Tamara Schmidt und Georg Ebersbach in einem Artikel und Roger Schmidt, Dominik Klaasen van Husen, Michaela Gegusch, Alexandra Steurer, Dagmar Schmid und Constanze Hausteiner-Wiehle in einem weiteren Artikel die stationären, interdisziplinären Behandlungskonzepte ihrer Kliniken vor. In Studien konnte der Therapieerfolg solcher stationärer und ambulanter Konzepte bereits belegt werden, wobei einer guten interdisziplinären Zusammenarbeit ein hoher Stellenwert zukommt. In diesem Jahr wurde vor diesem Hintergrund die Arbeitsgemeinschaft „Funktionelle Neurologische Störungen“ (www.ag-fns.de) gegründet, in der interdisziplinäre Therapie- und Forschungskonzepte erarbeitet und gefördert werden sollen.

    Unser Themenheft verdeutlich eindrücklich den großen Fortschritt in der Erforschung und klinischen Versorgung funktioneller neurologischer Bewegungsstörungen und wie sich diese im alltäglichen Umgang mit den Patienten nutzen lassen. Es zeigt auch Problemfelder auf, die weiterhin im Umgang und der klinischen Versorgung dieser Patienten bestehen und bietet Lösungen an, wie diese Herausforderungen durch neue Behandlungsstrategien und Forschungsbemühungen zukünftig besser bewältigt werden könnten.

    Anne Weißbach und Alexander Münchau, Lübeck


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    Publication History

    Article published online:
    02 August 2023

    © 2023. Thieme. All rights reserved.

    Georg Thieme Verlag KG
    Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

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    Priv.-Doz. Dr. med. Anne Weißbach Leiterin der Arbeitsgruppe für funktionelle neurologische Störungen am Institut für systemische Motorikforschung und Zentrum für seltene Erkrankungen, Campus Lübeck. Quelle: ©privat
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    Prof. Dr. med. Alexander Münchau Direktor des Instituts für systemische Motorikforschung und Leiter der klinischen Sektion Zentrum für Seltene Erkrankungen des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein Campus Lübeck. Quelle: ©Christof Westenberger