B&G Bewegungstherapie und Gesundheitssport 2023; 39(04): 157-158
DOI: 10.1055/a-2102-9387
Journal Club

Was kostet uns Bewegungsmangel?

Analyse der Gesundheitskosten durch körperliche Inaktivität
 

Originalpublikation

Santos AC, Willumsen J, Meheus F, et al. The cost of inaction on physical inactivity to public health-care systems: a population-attributable fraction analysis. Lancet Glob Heal 2023; 11: e32–e39. doi:10.1016/S2214–109X(22)00464–8


#

Trotz der gut belegten positiven Effekte von körperlicher Aktivität und Sport weisen Erhebungen aus den letzten Dekaden darauf hin, dass bisherige Bemühungen zur Förderung von körperlicher Aktivität in Deutschland nicht zu signifikanten Veränderungen des Bewegungsverhaltens geführt haben. Daten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zeigen, dass in Deutschland vor der COVID-19 Pandemie nur 12–27 % der Kinder und Jugendlichen sowie 46 % der Erwachsenen unter 65 Jahren ausreichend körperlich aktiv waren [1]. Auch in anderen Ländern ist die Prävalenz körperlicher Inaktivität hoch, und der Fortschritt in der Reduktion des Bewegungsmangels gering [2]. Bewegungsmangel ist jedoch ein wichtiger veränderbarer Risikofaktor für nicht übertragbare Krankheiten und psychische Erkrankungen [3]. Inwiefern die Entstehung dieser Erkrankungen durch körperliche Inaktivität Einfluss auf Kosten der Gesundheitssysteme nimmt, stellen Santos et al. (2023) in ihrem Artikel „The cost of inaction on physical inactivity to public health-care systems: a population-attributable fraction analysis“ dar [4].

Erhebliche globale Gesundheitskosten durch Bewegungsmangel

Körperlich nicht ausreichend aktiv ist nach Santos et al., wer die Empfehlungen für körperliche Aktivität der WHO nicht erreicht. Für Erwachsene bedeutet dies mindestens 150 Minuten moderate aerobe körperliche Aktivität, mindestens 75 Minuten intensive aerobe körperliche Aktivität oder eine gleichwertige Kombination aus moderater und intensiver Aktivität pro Woche [5]. Mit dem vorliegenden Artikel beabsichtigen die Autoren, a) die öffentlichen Gesundheitskosten zu schätzen, die durch körperliche Inaktivität entstehen, und b) Entscheidungsträger damit zu unterstützen, politische Maßnahmen zu priorisieren, die Menschen zur Steigerung körperlicher Aktivität motivieren und befähigen.

Als Datengrundlage dienten den Autoren neueste globale und vergleichbare nationale Schätzungen der WHO für die Prävalenz der körperlichen Inaktivität Erwachsener ab 18 Jahren. Für die Analyse wurden Erkrankungen gewählt, die in der vergangenen Leitlinie zu körperlicher Aktivität und sitzendem Verhalten durch die WHO identifiziert wurden: koronare Herzkrankheit, Schlaganfall, Typ-2-Diabetes, Bluthochdruck, verschiedene Krebsarten, Demenz und Depression bei Erwachsenen über 18 Jahren.

Für jede der ausgewählten Erkrankungen wurden veröffentlichte Schätzungen der multivariablen bereinigten relativen Risiken (RR) verwendet. Anhand einer Formel nach Rockhill, Newman & Weinberg [6] konnte mithilfe dieser Daten der auf die Bevölkerung zurechenbare Anteil geschätzt werden, der auf körperliche Inaktivität zurückführbar ist. Santos et al. interpretieren diesen Wert als den Anteil des Krankheitsrisikos an der Gesamtbevölkerung, der reduziert oder theoretisch eliminiert werden könnte. Die Kosten für das öffentliche Gesundheitssystem wurden für die nicht übertragbaren Krankheiten aus verschiedenen Quellen zusammengetragen.

Bei unveränderter Prävalenz körperlicher Inaktivität treten bis 2030 499,2 Mio. (154–860 Mio., Ober-/Untergrenze der RR) vermeidbare, schwere, nicht übertragbare Krankheiten und psychische Erkrankungen auf, wodurch direkte Gesundheitskosten in Höhe von 523,9 Mrd. US Dollar (182–900 Mrd. US Dollar) entstehen [4].

Dargestellt wurden die Kosten differenziert nach Erkrankung, Ländern, WHO-Regionen sowie Einkommensklassifizierung der Weltbank. 74 % der Kosten würden in Ländern mit niedrigem bis mittlerem Einkommen auftreten, 63 % der Kosten jedoch von Ländern mit hohem Einkommen getragen werden. Gezeigt wird auch, dass verschiedene Diagnosen unterschiedlich hohe Kosten verursachen; z. B. entspricht die Demenzdiagnose 3 % aller Neuerkrankungen, wirft jedoch 22 % der gesamten direkten Gesundheitskosten auf.


#

Kommentar

Santos et al. verdeutlichen die enorme gesellschaftliche Relevanz von Bewegung und Bewegungsförderung. Sie generieren wichtige wirtschaftliche Argumente, die zu einer Priorisierung entsprechender politischer Entscheidungsprozesse beitragen können. Außerdem machen sie auf die Heterogenität der Gesundheitssysteme verschiedener Länder und die damit verbundene Ungleichverteilung entstehender globaler Gesundheitskosten aufmerksam.

Nicht berücksichtigt sind in der Analyse unter anderem die Kosten, die durch chronische Erkrankungen verursacht werden und eine zusätzliche sowie unverhältnismäßig große wirtschaftliche Belastung darstellen [4]. Wünschenswert wäre zudem, wenn zur Bewertung der körperlichen Aktivität zukünftig die Muskelkräftigung berücksichtigt werden könnte.

Die Erhebung gesundheitsspezifischer Daten ist in einigen Ländern nicht ausreichend. Eine verbesserte Erfassung dieser Daten wäre für die globale Schätzung der Gesundheitskosten gewinnbringend und könnte die Weiterentwicklung der dargestellten Methode unterstützen. Außerdem sollten zukünftige Arbeiten die Kosten inkludieren, die durch die Umsetzung von Maßnahmen zur Steigerung körperlicher Aktivität entstehen [4], sodass eine noch genauere Kostenkalkulation erstellt werden kann.

Diese Arbeit liefert eine erste Schätzung der durch körperliche Inaktivität entstehenden globalen Kosten für die Gesundheitssysteme. Die Autoren zeigen damit die enorme gesellschaftliche Bedeutung der Bewegungsförderung und liefern wirtschaftliche Argumente für politische Entscheidungsträger.

Fazit
  • Durch eine Steigerung der körperlichen Aktivität kann das Wohlbefinden gesteigert und die Prävalenz von nicht übertragbaren Krankheiten und psychischen Erkrankungen beeinflusst werden; dies führt zu einer erheblichen Kostenreduktion für die Gesundheitssysteme.

  • Vor diesem Hintergrund empfehlen die Autoren in Maßnahmen zur Bewegungsförderung zu investieren.


#
#
Zoom Image
Mathilda Meyer
Universität Hamburg,
Fakultät für Psychologie
und Bewegungswissenschaft,
Institut für
Bewegungswissenschaft
Turmweg 2
20148 Hamburg
Deutschland
mathilda.meyer@uni-hamburg.de

Korrespondenzadresse

Mathilda Meyer
Universität Hamburg, Fakultät für Psychologie und Bewegungswissenschaft, Institut für Bewegungswissenschaft
Turmweg 2
20148
Hamburg
Deutschland   

Publication History

Article published online:
07 August 2023

© 2023. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany


Zoom Image
Mathilda Meyer
Universität Hamburg,
Fakultät für Psychologie
und Bewegungswissenschaft,
Institut für
Bewegungswissenschaft
Turmweg 2
20148 Hamburg
Deutschland
mathilda.meyer@uni-hamburg.de