Nervenheilkunde 2023; 42(10): 674-678
DOI: 10.1055/a-2106-0087
Zu diesem Heft

Prävention im Bereich psychische Gesundheit: auf Krisen vorbereitet sein

Emily Gossmann
,
Jörg Fegert
,
Vera Clemens
 
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Emily Gossmann Universitätsklinikum Ulm Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie; Foto:©privat
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Prof. Dr. med. Vera Clemens Universitätsklinikum Ulm Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie; Foto: ©privat
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Prof. Dr. med. Vera Clemens Universitätsklinikum Ulm Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/ Psychotherapie; Foto: ©privat

Liebe Leserinnen und Leser,

sei es die Corona-Pandemie, der Klimawandel, Russlands Krieg in der Ukraine, die Inflation oder der Fachkräfte- und Personalmangel – die Auswirkungen vielfältiger, komplexer Krisen stellen uns tagtäglich vor Herausforderungen und dies nicht nur in der Krankenversorgung. Der Begriff „Krisen“ beschränkt sich nicht nur auf tatsächliche Katastrophen oder solche, die gesamtgesellschaftliche Folgen haben, sondern kann breiter als anhaltende psychosoziale Belastung oder herausfordernde Zeit für ein Individuum gefasst werden. So kann die Ursache der psychosozialen Belastungssituation vielfältig sein und auch in der eigenen Lebensgeschichte liegen.

Menschen, die psychosozial benachteiligt sind bzw. eine individuell herausfordernde Zeit erleben, sind auch vulnerabler für die Auswirkungen gesellschaftlicher Krisen und haben damit ein höheres Risiko für die Entstehung psychischer Belastungen oder Erkrankungen [1]. Gerade bei psychisch vorbelasteten Patienten führen im Kontext der kumulativen Ungleichheit die zusätzlichen Stressoren und Herausforderungen in Krisen sowie der Wegfall schützender Ressourcen meist dazu, dass sich psychische Belastungen verstärken. Spätestens die Corona-Pandemie hat verdeutlicht, dass besonders Kinder, Jugendliche und Familien unter den psychosozialen Folgen von allgemein gesellschaftlich herausfordernden Zeiten leiden [1]–[7]. Auch diverse Umfragen bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Deutschland zeigen, dass ihre größten Sorgen die derzeit dominierenden gesamtgesellschaftlichen Krisen betreffen [8], sie sich in hohem Maße psychisch belastet fühlen [8], [9] und dies ausgeprägter ist als bei den älteren Generationen [9].

Psychische Belastungen und Erkrankungen sowie die Inanspruchnahme professioneller Hilfen sind noch immer stigmatisierte, schambehaftete Themen – auch in der jungen Generation [9]. Das birgt die Gefahr, dass diese unbehandelt bleiben und somit langfristig bis ins Erwachsenenalter die Teilhabe und Gesundheit von Betroffenen beeinflussen können. Von zentraler Relevanz ist es also, das Thema zu „entstigmatisieren“, psychisch belastete Kinder und Jugendliche früh zu identifizieren und ihnen zeitnah passende Präventions-, Beratungs-, Unterstützungs- und Versorgungsangebote zur Verfügung zu stellen. Leider bestehen in Deutschland dahingehend Defizite, die sich mit dem Zuwachs an Beratungs- und therapeutischem Hilfebedarf für Kinder und Jugendliche während der Corona-Pandemie erheblich vergrößert haben [10]. Vor dem Hintergrund der Zunahme gesellschaftlicher Krisen ist anzunehmen, dass sich diese Defizite noch weiter vergrößert haben und künftig vergrößern werden. Wichtig ist deshalb, sich auf Krisen vorzubereiten und diesen Entwicklungen entgegenzuwirken durch den Ausbau und die Verbesserung geeigneter Maßnahmen der Prävention, Frühintervention und Versorgung.

Das vorliegende Themenheft berichtet in 6 Beiträgen über die Herausforderungen von unterschiedlichen Krisen im Bereich der psychischen Gesundheit mit einem besonderen Fokus auf (vorbelastete) Kinder, Jugendliche und Familien und zeigt Chancen der Prävention und Frühintervention in unterschiedlichen Kontexten auf.

Anhand einer Literaturübersicht veranschaulichen Emily Gossmann et al. die vielfältigen direkten und indirekten psychosozialen Folgen von ausgewählten gesellschaftlichen Krisen oder Katastrophen für Kinder und Jugendliche. Obwohl Fachkräfte eine zentrale Rolle bei der Früherkennung von psychischen Symptomen und der Weitervermittlung in Hilfen einnehmen, kann es für sie herausfordernd sein, Betroffene zu erkennen, anzusprechen und sie zu unterstützen. Ein zentraler Ansatz diesen Problemen zu begegnen ist es, die beteiligten Fachkräfte fachlich weiterzubilden.

In ihrem Beitrag beschreiben Marius Schmitz und Kollegen die Entwicklung zweier sich ergänzender CME-zertifizierter Online-Fortbildungsangebote für Hausärzte sowie Ärzte in Weiterbildung Allgemeinmedizin, um diese im praktischen Umgang mit als schwierig empfundenen Interaktionsstilen sowie tabuisierten psychosozialen Problemen, z. B. arbeitsplatzbezogenen Problemlagen, Schwierigkeiten in Partnerschaft und Sexualität, Kindeswohlgefährdung und Suizidalität, zu stärken. Kim Magiera und Koautoren stellen ausgewählte Ergebnisse eines Forschungsprojektes zu Möglichkeiten und Grenzen einer verbesserten familienorientierten Prävention häuslicher Gewalt vor und fokussieren auf die Schlüsselrolle von Ärzten. Für eine Schulung zur Sensibilisierung von Fachkräften im Gesundheitssektor zur standardisierten Erfassung von Kindesmisshandlung sowie zur Relevanz der Dokumentation für Prävention und Intervention plädieren auch Andreas Jud und Mitautoren. In ihrem Beitrag skizzieren sie anhand von Ergebnissen eines Forschungsprojektes die Lücken und Herausforderungen der Folgekostenschätzung zu Kindesmisshandlung im SGB VIII und den Weiterentwicklungsbedarf im SGB V. Dagegen fokussieren Janice Ullrich und Mitarbeiter in ihrem Beitrag auf die Notwendigkeit von Fort- und Weiterbildung von Schulpersonal für das Thema nicht suizidales selbstverletzendes Verhalten und Suizidalität bei Kindern und Jugendlichen, indem sie Inhalte und erste Evaluationsergebnisse eines Online-Kurses vorstellen.

Dass eine Krise auch auf institutioneller Ebene stattfinden kann, stellt der Beitrag von Ulrike Hoffmann und Jörg Fegert dar. Sie identifizieren Risikofaktoren von (sexualisierter) Gewalt an Kindern und Jugendlichen in medizinischen Institutionen und präsentieren Maßnahmen, die zur institutionellen Krisenprävention beitragen können.

Das Themenheft macht deutlich, dass Krisen jeglicher Art eine Herausforderung für die psychische Gesundheit von Kindern, Jugendlichen und Familien, aber auch für Fachkräfte darstellen können. Während Krisen in den Beiträgen unterschiedlich definiert werden, veranschaulichen sie eindrücklich, wie sich die verschiedenen Arten von Krisen wechselseitig beeinflussen können und dass verschiedene Ebenen, Systeme, Institutionen, Professionen, Kontexte und Zielgruppen bei einer umfassenden gesellschaftlichen Krisenbewältigungs- und Präventionsstrategie im Bereich der psychischen Gesundheit bedacht werden müssen. Sie stellen dar, dass dringende Verbesserungsbedarfe in der Wissensvermittlung, Qualifikation von Fachkräften, Früherkennung sowie der niedrigschwelligen Beratung und Versorgung psychosozialer Belastungen von Kindern, Jugendlichen und Familien bestehen und zeigen wichtige Ansatzpunkte auf. Bevorstehende und wahrscheinliche Krisen, z. B. die Zunahme von Extremwetterereignissen, verdeutlichen die Relevanz dieses Themas und die Notwendigkeit weiterführender Ansätze und Strategien der Prävention in Zukunft. Übergreifendes Ziel sollte ein krisenfestes, gestuftes psychosoziales Präventions-, Versorgungs- und Unterstützungssystem für Kinder, Jugendliche und Familien sein, das zum kontinuierlichen Aufbau ihrer psychosozialen Resilienz beiträgt.

Emily Gossmann, Jörg M. Fegert und Vera Clemens, Ulm


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Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
09. Oktober 2023

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Prof. Dr. med. Vera Clemens Universitätsklinikum Ulm Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie; Foto: ©privat
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