Z Sex Forsch 2023; 36(03): 160-163
DOI: 10.1055/a-2114-0188
Praxisbeitrag

Sexualerziehung in der stationären Erziehungshilfe – ist die Kritik der letzten 15 Jahre gerechtfertigt?

Sexuality Education in Residential Care – Is the Criticism of the Last 15 Years Justified?
Dominik Mantey
1   Fachbereich Gesundheit und Pflege, Hamburger Fern-Hochschule
,
Steffi Bövers
2   jhj hamburg e. V., Hamburg
› Author Affiliations

Zusammenfassung

Langjährig wurde die Sexualerziehung in der stationären Erziehungshilfe als passiv und „nicht vorhanden“ problematisiert. Ausgangspunkt dieser Kritik waren einerseits eine Pilotstudie von Reinhard Winter und andererseits ein Verständnis von (guter) Sexualerziehung als aktive Angebotsstruktur auf der Basis von ablesbaren Konzepten. Der vorliegende Beitrag nimmt beide Aspekte kritisch in den Blick. Die Aussagekraft der Pilotstudie wird analysiert und auf Basis des Erziehungsverständnisses von Michael Winkler ein alternatives Verständnis von Sexualerziehung skizziert, das auch eine scheinbar passive Sexualerziehung als qualifiziert gelten lässt, bei der die Erziehenden die Aneignungsprozesse der Kinder und Jugendlichen beachten. Ergänzend werden Daten einer empirischen Masterarbeit herangezogen, die darauf hindeuten, dass Erziehende in der stationären Erziehungshilfe die sexualitätsbezogenen Aneignungsprozesse der Kinder und Jugendlichen im Blick haben. Auf dieser Basis kommt der Beitrag zu dem Schluss, dass die langjährige Kritik möglicherweise nicht gerechtfertigt ist und weitere empirische Daten notwendig sind.

Abstract

For many years, sexuality education in various residential care settings was criticized for being too passive or, worse, for being effectively non-existent. A pilot study by Reinhard Winter, and an understanding of sexuality education (and good sexuality education, especially) as needing to be actively provided using readable models, were both factors in this critical appraisal. The present article subjects both factors to critical scrutiny. The explanatory power of the pilot study is analysed, and an alternative understanding of sexuality education based on Michael Winkler’s understanding of pedagogy is explored. In this approach, marked by caregivers paying heed to the appropriation processes of children and adolescents, seemingly passive forms of sexuality education can also represent a satisfactory modus operandi. These considerations are supplemented by empirical data from a master’s thesis study which indicate that caregivers in residential care settings pay attention to and are aware of sexuality-related appropriation processes in children and adolescents. The paper concludes that the longstanding criticisms advanced in this area may not be justified and that further empirical data is needed.



Publication History

Article published online:
12 September 2023

© 2023. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

 
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