Subscribe to RSS
DOI: 10.1055/a-2117-3256
Notfallpsychiatrie im Spannungsfeld gesellschaftlicher Veränderungen
Notfallmedizinische Einsätze bei Menschen mit psychischen Erkrankungen in Rettungsdienst und Notaufnahmen sind häufig aufwendig und komplex in der Akutbehandlung, jedoch effizient durchführbar. Häufige Anlässe sind Intoxikationen, Erregungszustände und Suizidalität sowie eine Eigen- oder Fremdgefährdung, sodass oft ein interdisziplinäres Vorgehen häufig auch unter Einbezug von Angehörigen erforderlich ist. Meist sind primär nicht in der Psychiatrie tätige Ärztinnen und Ärzte mit der Ersteinschätzung und -versorgung konfrontiert. Um Patientinnen und Patienten suffizient versorgen zu können und Fehlzuweisungen bzw. -behandlungen zu vermeiden, sind daher Kenntnisse bezüglich des diagnostischen und therapeutischen Vorgehens bei psychiatrischen Notfällen unter Berücksichtigung regionaler und juristischer Unterschiede notwendig. Hierbei bewegen sich die behandelnden Ärztinnen und Ärzte häufig im Spannungsfeld zwischen der individuellen Selbstbestimmung der PatientInnen und der ärztlichen Fürsorgepflicht, die ein differenziertes Abwägen der Einweisung und Behandlung unter detaillierter Kenntnis der Rechtslage erfordert.
Fragt man Kolleginnen und Kollegen, die im Rettungsdienst, in Notaufnahmen oder Akutpsychiatrien tätig sind, so berichten diese häufig, dass sich zunehmend an den Vorstellungs- und Einweisungsgründen gesellschaftspolitische Veränderungen widerspiegeln: Verfügbarkeit von und Zugang zu ambulanten Hilfesystemen, eine veränderte subjektive Haltung gegenüber der Inanspruchnahme von notfallmedizinischen Leistungen und die Übertragung ordnungspolitischer Funktionen an die Psychiatrie. Teilweise werden Menschen in Kliniken niedrigschwellig gegen ihren Willen eingewiesen, deren Verhaltensauffälligkeiten zwar störend sind, bei genauerem Hinsehen jedoch nicht in Zusammenhang mit einer psychischen Erkrankung gebracht werden können bzw. keine Indikation für eine Krankenhausbehandlung vorliegt. Es muss darauf hingewiesen werden, dass eine Pathologisierung von beispielsweise aggressivem oder delinquentem Verhalten nicht nur für die Betroffenen eine inadäquate Behandlung nach sich ziehen kann, sondern auch die Versorgung von anderen Menschen mit somatischen oder psychischen Erkrankungen aufgrund von knappen personellen Ressourcen und Versorgungsengpässen einschränkt. In manchen Fällen steht zudem eine soziale Indikation für eine Einweisung klar im Vordergrund, was teilweise zum Schutz der Betroffenen und der weiteren Organisation von Hilfeleistungen durchaus sinnvoll sein kann. Eigentlich müssten jedoch hier im Vorfeld andere Strukturen zuständig sein und nicht stellvertretend für diese die Daseinsfürsorge von der Psychiatrie mangels Alternativen übernommen werden. Hinzu kommt, dass eine Einweisung vor allem gegen den Willen der Betroffenen in manchen Fällen zur diagnostischen und prognostischen Einschätzung zwar nötig sein kann, jedoch sollten gerade die potenziell (re)traumatisierenden Unterbringungen gegen den Willen der Patientinnen und Patienten und Zwangsbehandlungen möglichst vermieden werden. In anderen Fällen werden Patientinnen und Patienten Notaufnahmen zugeführt, die dann als sogenannte „Frequent User“ immer wieder auftauchen und die durch eine tiefergehende Kenntnis und breitere Ausbildung zu psychiatrischen Krankheitsbildern bei den vorgeschalteten Polizei- und Rettungsdiensteinheiten und in den Notaufnahmen adäquater versorgt werden könnten bzw. sich überhaupt nicht erst in einer Notaufnahme vorstellen müssten.
Ein breiteres Wissen um psychische Erkrankungen und die Rechtsgrundlagen der Behandlung, gemeinsame interdisziplinäre Fortbildungen, Hospitationen in der Psychiatrie, eine Stärkung vorgeschalteter ambulanter Maßnahmen – wie die der sozialpsychiatrischen (Krisen)-Dienste oder von Zuhausebehandlungsteams – und ein niedrigschwelliger Zugang zur ambulanten psychiatrischen Versorgung sind einige der Maßnahmen, die dazu beitragen können, dass Menschen mit akuten psychischen Erkrankungen besser versorgt werden könnten bzw. erst gar nicht das notfallmedizinische Behandlungssystem in Anspruch nehmen müssten.
Publication History
Article published online:
07 August 2023
© 2023. Thieme. All rights reserved.
Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany