PiD - Psychotherapie im Dialog 2024; 25(02): 1
DOI: 10.1055/a-2124-0218
Editorial

PiD - Psychotherapie im Dialog

Barbara Stein

Liebe Leserin und lieber Leser,

vor ein paar Tagen wurde mir wieder einmal bewusst, was für einen interessanten und ausgesprochen lehrreichen Beruf wir doch haben! In den Gesprächen mit unseren Patientinnen und Patienten kommen wir mit Lebenswelten in Kontakt, zu denen wie sonst vermutlich wenig Zugang finden würden. Denn wann erklärt uns schon mal eine Fachkraft für Kreislauf- und Abfallwirtschaft die Vorteile eines bestimmten Abfallsammelfahrzeugs? Und wir lernen dadurch auch die korrekte Berufsbezeichnung und ein neues Berufsbild kennen? Oder erfahren, bei welchen Temperaturen Obstbäume im Winter optimalerweise geschnitten werden (zwischen 0 und 5 Grad Celsius) und welche Gesprächsstrategie bei zornigen Mandanten in einer Rechtsanwaltskanzlei verfolgt wird?

Wie in der Feldforschung der Ethnologie erfahren wir in unseren Begegnungen viel über Wertvorstellungen, Gesellschaftsbilder, Rollenvorstellungen, Familienkonzepte, Kommunikationsstrukturen, Krankheitstheorien, Ideologien, Lebensphilosophien – manches ist uns fremd oder erstaunt uns, manches teilen wir und, natürlich: von manchen Einstellungen distanzieren wir uns auch. Psychotherapie und Ethnologie sind zwar wissenschaftlich unterschiedliche Disziplinen, aber teilen das Ziel, menschliches Verhalten und soziale Strukturen besser zu verstehen.

Psychotherapie zielt zudem darauf hin, unsere Patientinnen und Patienten bei der Bewältigung ihrer emotionalen Schwierigkeiten zu unterstützen. In unserem Beruf lernen wir „schräge“ Typen kennen, die uns durch ihr ungewöhnliches Verhalten und eindrückliche Gedanken und Gefühle herausfordern. Psychotherapie erfordert einen empathischen Perspektivwechsel und das Wahrnehmen der emotionalen Verletzungen, ungelebten Wünsche und verlorenen Hoffnungen, die sich hinter Persönlichkeitsstörungen verbergen. Ich hoffe, dass wir mit dem vorliegenden Heft zu diesem Perspektivwechsel beitragen können, und grüße Sie herzlich!

Barbara Stein



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Article published online:
27 May 2024

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