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DOI: 10.1055/a-2131-2391
Die Mobile psychiatrische Rehabilitation als zentraler Baustein in der Versorgung schwer psychisch kranker Menschen
Mobile Psychiatric Rehabilitation as a Central Element in the Care of Severely Mentally ill PeopleHintergrund
Der Zugang zu rehabilitativen Komplexleistungen in den stationären Einrichtungen der medizinischen Rehabilitation ist nahezu ausschließlich psychosomatisch und leicht psychisch erkrankten sowie abhängigkeitserkrankten Personen vorbehalten [1]. Schwer psychisch erkrankte Menschen werden auf die medizinisch-berufliche Komplexleistung der Rehabilitationseinrichtung für psychisch Kranke (RPK) verwiesen, für die sie jedoch meist nicht die Aufnahmevoraussetzungen erfüllen. Selbst bei der ambulanten RPK-Leistung wird die Teilnahme an täglich mindestens vier bis acht Stunden Therapiezeit an fünf bis sechs Tagen in der Woche vorausgesetzt. Gemeindepsychiatrische Leistungen erhalten sie in der Regel in unterstützten Wohnformen der Eingliederungshilfe, in denen im Jahr 2019 mehr als 200.000 Menschen mit seelischer Behinderung erfasst wurden [2]. Ambulante Komplexleistungen der medizinischen Rehabilitation im Anschluss an die stationäre oder stationsäquivalente (StäB) Akutbehandlung sind sozialrechtlich bisher nicht erschlossen.
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Dieser Bruch in der Versorgung kann durch die im SGB V verankerten Leistungen der medizinischen Rehabilitation geheilt werden, deren Zugang über die Vorschriften nach Kapitel 3 und 4 des geänderten SGB IX Teil 1 erfolgt, wodurch ein nahtloser Übergang von der Behandlung zur medizinischen Rehabilitation gewährleistet wird. Auf Grundlage der individuellen und funktionsbezogenen Bedarfsermittlung nach § 13 SGB IX können die Leistungen der medizinischen Rehabilitation als Einzel- und als Komplexleistungen im gewohnten Lebensumfeld in Anspruch genommen werden. Während Einzelleistungen der medizinischen Rehabilitation fachärztlich oder durch Psychotherapeut:innen verordnet werden können, können ambulante Komplexleistungen der Rehabilitation nur in Rehabilitationseinrichtungen erbracht werden, für die ein Versorgungsvertrag nach § 111c SGB V besteht.
Mit der Mobilen Rehabilitation (MoRe) wurde ein wichtiger Schritt der Einbeziehung von Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen in die Rehabilitationsangebote geleistet. Mit ihr besteht die Möglichkeit, individuell angepasste Leistungen der medizinischen Rehabilitation durch ein multiprofessionelles Team über einen definierten Zeitraum aufsuchend zu erbringen. Mobile medizinische Rehabilitationsleistungen in Ergänzung zu ambulanten und stationären Rehabilitationsleistungen wurden in der Erkenntnis geschaffen, dass ein Teil der Menschen nicht von den Komplexleistungen in einer Einrichtung außerhalb des gewohnten Umfeldes profitiert. Die Idee der MoRe unabhängig von der beruflichen Eingliederung entstand parallel zur Einführung des Pflegeversicherungsgesetzes SGB XI [3] und im Anschluss an eine Modellerprobung, die in gemeinsamen Rahmenempfehlungen zur Mobilen geriatrischen Rehabilitation (MoGeRe) unter Federführung des GKV-Spitzenverbandes resultierte [4].
Die Mobile Rehabilitation nimmt Fahrt auf
Aufgrund der positiven Erfahrungen mit der MoGeRe wurden Diskussionen über die Ausweitung geführt und die gemeinsamen Rahmenempfehlungen am 01.06.2021 um die Leistungen der Mobilen Indikationsspezifischen Rehabilitation erweitert [5]. Diese umfasst unter anderem die Personengruppe mit schweren psychischen Erkrankungen, nämlich Personen mit „erheblichen Schädigungen mentaler Funktionen, deren Ausprägung und Handlungsrelevanz bei Verlust gewohnter räumlicher und sozialer Bezüge derart zuzunehmen drohen, dass rehabilitative Maßnahmen nur unter Erhalt dieser Bezüge erfolgversprechend erscheinen.“ [5, S. 36]. Ermöglicht werden eine Rehabilitation und ein Training im vertrauten Umfeld unter Berücksichtigung relevanter Umweltfaktoren, wobei die alltägliche praktische Lebensführung zum Übungs- und Trainingsfeld wird [5].
Ein Problem der Umsetzung der indikationsspezifischen MoRe in der gemeindepsychiatrischen Versorgung besteht neben den konkreten Leistungsbestandteilen in der definierten Leistungsdauer. Ambulante Rehabilitationsleistungen werden längstens für 20 Behandlungstage erbracht, dementsprechend sollen auch Leistungen der MoRe in intensiv aufsuchender Form an 20 Behandlungstagen erbracht werden [5]. Ein Behandlungstag in der MoRe ist definiert durch die Erbringung von Therapieeinheiten à 45 Minuten durch das nichtärztliche Rehabilitationsteam.
Damit liegt die Weiterentwicklung und Verbreitung des Angebots der indikationsspezifischen MoRe als Mobile Psychiatrische Rehabilitation (MoPsyRe) nahe, bei der die besonderen Bedarfe schwer psychisch kranker Menschen berücksichtigt und eine Verknüpfung der Rehabilitationsdienste innerhalb eines vernetzten Systems wie dem Gemeindepsychiatrischen Verbund angestrebt werden. Eine Vorlage bietet das Modellprojekt „Mobile Medizinische Rehabilitation für Psychisch Erkrankte“ (MMRP) der Rudolf-Sophien-Stift gGmbH Stuttgart (RSS) [6].
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Anpassungen an die spezifischen Bedarfe schwer psychisch kranker Menschen
Die Teilhabeziele werden auf Grundlage der individuellen Beeinträchtigungen der mentalen Funktionen der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) [7] und der daraus resultierenden Teilhabebeeinträchtigungen mit der leistungsberechtigten Person festgelegt und unter Einbeziehung des Umfeldes ein detaillierter Rehabilitationsplan erstellt, der über die Zeitdauer der MoPsyRe hinausweist und eine langfristige Strategie zur Bewältigung der Behinderung entwickelt. Dafür bedarf es eines Instrumentes, das die Beeinträchtigungen der mentalen Funktionen in Wechselwirkung mit umwelt- und einstellungsbedingten Barrieren individuell erfasst und gleichzeitig die mentalen Funktionen sowie die soziale Umwelt als Förderfaktoren berücksichtigt und sich damit an der ICF [7] [8] orientiert.
Der Rehabilitationsplan wird als multiprofessionelle Komplexleistung mit ärztlichen, psychologischen, pflegerischen, sozialarbeiterischen und ergotherapeutischen Bestandteilen umgesetzt. Leistungserbringung und -dauer wurden, wie in den Rahmenempfehlungen für indikationsspezifische MoRe vorgesehen, für den Personenkreis der schwer psychisch erkrankten Menschen angepasst. Die Maßnahme der MoPsyRe ist im Konzept des Rudolf-Sophien-Stiftes über eine erweiterte Rehabilitationsdauer von 12 Wochen und einer individuell angepassten Behandlungstaktung mit Behandlungseinheiten von 45 Minuten angelegt. Es sind drei Behandlungstage pro Woche festgelegt, wobei ein Behandlungstag die Erbringung von mindestens einer Therapieeinheit durch das nichtärztliche Rehabilitationsteam beinhaltet. Während der zwölfwöchigen Dauer der Maßnahme sind zusätzlich mindestens sechs Leistungseinheiten durch die Fachärzt:in à 15 Minuten zu erbringen, die wie Sozialdienstleistungen zusätzlich abgerechnet werden können.
Sind wichtige Rehabilitationsziele noch nicht erreicht, kann in der 10. Woche ein Antrag auf Verlängerung der Maßnahme für weitere sechs Wochen (30 Therapieeinheiten) erfolgen. Erforderliche Leistungen der Krankenbehandlung wie ambulante allgemeinmedizinische und psychiatrische Behandlung, Richtlinien-Psychotherapie sowie psychiatrische häusliche Krankenpflege zur Unterstützung bei akuten psychischen Krisen werden bei Bedarf parallel von der gesetzlichen Krankenversicherung finanziert. Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben werden beibehalten, Leistungen der Eingliederungshilfe zur Sicherstellung der sozialen Teilhabe werden bei Bedarf parallel erbracht [9].
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Besonderheiten der MoPsyRe
Das Rehabilitationsverständnis ist ein ganzheitliches und basiert auf dem bio-psycho-sozialen Modell von Gesundheit. Psychiatrische Rehabilitation beinhaltet im Wesentlichen zwei Strategien: (1) die auf das Individuum zentrierte Rehabilitation, mit der Kompetenzen und Fertigkeiten der Rehabilitanden gefördert und entwickelt werden, um die Anforderungen der Umwelt bewältigen zu können und (2) die Auseinandersetzung mit den sozialen Rahmenbedingungen, um Stressoren zu reduzieren und die Entfaltung der Persönlichkeit zu ermöglichen. Durch die Erbringung der Rehabilitationsleistung im sozialen und häuslichen Umfeld können gesundungsfördernde und hemmende Umweltfaktoren erkannt und potenzielle Barrieren beseitigt werden. Aktivitäten und Teilhabe können im direkten Lebensumfeld der betroffenen Personen etabliert und erweitert werden. Das häufig auftretende Problem des unzureichenden Transfers des Erlernten in den Alltag wird vermieden.
Die Inhalte von MoPsyRe sind darauf ausgerichtet, dass die leistungsberechtigte Person durch ein komplexes Behandlungsangebot auf Grundlage eines konkreten Rehabilitationsplans die von ihr angestrebten Ziele erreicht, sowie individuelle mentale Beeinträchtigungen reduziert und Fähigkeiten und Ressourcen aktiviert werden. Dieses muss auf evidenzbasierten Interventionen basieren und kann daher nur von entsprechenden Fachkräften ausgeübt werden [10]. Der Rückgriff auf die Empfehlungen der S3-Leitlinie „Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen“ [11] ist daher zwingend erforderlich. Die Interventionen setzen in der häuslichen Umgebung an und erweitern sich sukzessive in den öffentlichen Raum und das soziale Umfeld. Die Gesamtverantwortung liegt bei der leitenden psychiatrischen Fachärzt:in, die auch weitergehende rehabilitationsbezogene Behandlungsangebote nach Abschluss der Maßnahme verordnet.
Die nicht-ärztlichen Leistungen werden von einem multiprofessionellen Rehabilitationsteam abgestimmt erbracht, das psychologische und soziotherapeutische Leistungen, Leistungen der psychiatrischen Pflege einschließlich Ernährungsberatung, ergotherapeutische Leistungen und Sporttherapie erbringt.
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MoPsyRe auf Start für eine bundesweite Umsetzung
Das Rudolf-Sophien-Stift erstellte aus den therapeutischen Erfahrungen während der Modellphase in Verbindung mit den gesetzlichen Vorgaben eine Konzeption für die MoRe für Menschen mit psychischen Erkrankungen. Diese wurden vom Medizinischen Dienst (MD) geprüft und es erfolgte die Bestätigung, dass die konzeptionellen Voraussetzungen für eine medizinisch leistungsfähige Rehabilitationsbehandlung vollständig erfüllt sind. Sind bis zum Abschluss einer Versorgungs- und Vergütungsvereinbarung noch einige Details zu regeln, so ist mit der Anerkennung des MD der Weg zur bundesweiten Etablierung der MoPsyRe offen. Damit könnte der Empfehlung 10 der S3-Leitlinien Psychosoziale Therapien, wonach in allen Versorgungsregionen eine gemeindepsychiatrische, teambasierte und multiprofessionelle Behandlung zur Versorgung von Menschen mit schwerer psychischer Erkrankung zur Verfügung stehen soll [11], weiter Vorschub geleistet werden.
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Interessenkonflikt
Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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Literatur
- 1 Hibbeler B. Medizinische Rehabilitation: Mehr psychische Erkrankungen. Dtsch Ärztebl 2011; 10: 452
- 2 Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe (BAGüS). Kennzahlenvergleich Eingliederungshilfe der überörtlichen Träger der Sozialhilfe 2020. Berichtsjahr 2018. Im Internet: http://kennzahlenvergleich-eingliederungshilfe.de/images/berichte/2020-04-21%20BAGS%20Bericht%20Kennzahlenvergleich%20Berichtsjahr%202018%20final.pdf; (20.02.2023)
- 3 Ribbert-Elias J. Mobile Rehabilitation – Chancen und Grenzen für das Handlungskonzept „Case Managament“. Case Management 2021; 18: 146-150
- 4 GKV-Spitzenverband. Rahmenempfehlungen zur mobilen geriatrischen Rehabilitation (01.05.2007). Im Internet: Rahmenempfehlungen zur mobilen geriatrischen Rehabilitation, Stand: 01.05.2007 (aok.de), (15.02.2023)
- 5 GKV-Spitzenverband. Gemeinsame Empfehlungen zur mobilen Rehabilitation (01.06.2021). Im Internet: https://www.gkv-spitzenverband.de/media/dokumente/krankenversicherung_1/rehabilitation/m_reha/2021_07_12_Gemeinsame_Empfehlungen_Mobile_Reha_v02.pdf (14.02.2023)
- 6 Walburg D. Der Beitrag der mobilen psychiatrischen Rehabilitation in der gemeindepsychiatrischen Versorgung. Verortung und Etablierung der mobilen Rehabilitation RESET im Gemeindepsychiatrischen Verbund Stuttgart. [unveröff. Masterthesis]. Fulda: Hochschule Fulda Fachbereich Sozialwesen; 2022
- 7 World Health Organization (WHO). ICF. Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit. Neu-Isenburg: Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information; 2005
- 8 Konrad M, Dellmann S. Rehabilitation und Teilhabe wie aus einer Hand. Vom Gesetz zur Praxis. Köln: Psychiatrie-Verlag; 2022
- 9 Konrad M. Die Assistenzleistung. Die universelle Leistung der Eingliederungshilfe. Köln: Psychiatrie-Verlag; 2022
- 10 Welti F. Medizinische Rehabilitation. In: Deinert, O. et al. (Hg.), Stichwort Kommentar Behindertenrecht. Arbeits- und Sozialrecht, Öffentliches Recht, Zivilrecht. 3. Aufl. Baden-Baden: Nomos; 2022: 1040-1059
- 11 DGPPN (Hg). S3-Leitlinie Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen. S3-Praxisleitlinien in Psychiatrie und Psychotherapie. 2. Auflage. Berlin: Springer; 2019
Korrespondenzadresse
Publication History
Article published online:
11 September 2023
© 2023. Thieme. All rights reserved.
Georg Thieme Verlag
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart,
Germany
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Literatur
- 1 Hibbeler B. Medizinische Rehabilitation: Mehr psychische Erkrankungen. Dtsch Ärztebl 2011; 10: 452
- 2 Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe (BAGüS). Kennzahlenvergleich Eingliederungshilfe der überörtlichen Träger der Sozialhilfe 2020. Berichtsjahr 2018. Im Internet: http://kennzahlenvergleich-eingliederungshilfe.de/images/berichte/2020-04-21%20BAGS%20Bericht%20Kennzahlenvergleich%20Berichtsjahr%202018%20final.pdf; (20.02.2023)
- 3 Ribbert-Elias J. Mobile Rehabilitation – Chancen und Grenzen für das Handlungskonzept „Case Managament“. Case Management 2021; 18: 146-150
- 4 GKV-Spitzenverband. Rahmenempfehlungen zur mobilen geriatrischen Rehabilitation (01.05.2007). Im Internet: Rahmenempfehlungen zur mobilen geriatrischen Rehabilitation, Stand: 01.05.2007 (aok.de), (15.02.2023)
- 5 GKV-Spitzenverband. Gemeinsame Empfehlungen zur mobilen Rehabilitation (01.06.2021). Im Internet: https://www.gkv-spitzenverband.de/media/dokumente/krankenversicherung_1/rehabilitation/m_reha/2021_07_12_Gemeinsame_Empfehlungen_Mobile_Reha_v02.pdf (14.02.2023)
- 6 Walburg D. Der Beitrag der mobilen psychiatrischen Rehabilitation in der gemeindepsychiatrischen Versorgung. Verortung und Etablierung der mobilen Rehabilitation RESET im Gemeindepsychiatrischen Verbund Stuttgart. [unveröff. Masterthesis]. Fulda: Hochschule Fulda Fachbereich Sozialwesen; 2022
- 7 World Health Organization (WHO). ICF. Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit. Neu-Isenburg: Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information; 2005
- 8 Konrad M, Dellmann S. Rehabilitation und Teilhabe wie aus einer Hand. Vom Gesetz zur Praxis. Köln: Psychiatrie-Verlag; 2022
- 9 Konrad M. Die Assistenzleistung. Die universelle Leistung der Eingliederungshilfe. Köln: Psychiatrie-Verlag; 2022
- 10 Welti F. Medizinische Rehabilitation. In: Deinert, O. et al. (Hg.), Stichwort Kommentar Behindertenrecht. Arbeits- und Sozialrecht, Öffentliches Recht, Zivilrecht. 3. Aufl. Baden-Baden: Nomos; 2022: 1040-1059
- 11 DGPPN (Hg). S3-Leitlinie Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen. S3-Praxisleitlinien in Psychiatrie und Psychotherapie. 2. Auflage. Berlin: Springer; 2019