Schlüsselwörter
Zwangsmaßnahme - Unterbringung - Patientenmerkmale
Key words
Coercion - involuntary admission - patient characteristics
Einleitung
Die Einführung des Kindes- und Erwachsenenschutzrechts (KESR) in der Schweiz
im Jahr 2013 hatte unter anderem die Vereinheitlichung der Vorgehensweisen im
Zusammenhang mit der Fürsorgerischen Unterbringung (FU) sowie die
Stärkung der Autonomie der betroffenen Personen zum Ziel. Im Einzelnen
handelt es sich um folgende im KESR geregelte Maßnahmen:
-
FU: Einweisung in eine geeignete Einrichtung zur Behandlung/Betreuung
unter definierten Voraussetzungen einschliesslich Verfahren und
Zuständigkeit, periodische Überprüfung und Einbezug
einer Vertrauensperson
-
Zurückbehaltung freiwillig hospitalisierter Personen
-
Medizinische Maßnahmen bei einer psychischen Störung:
Behandlungsplan, Behandlung ohne Zustimmung, Notfallmaßnahmen,
Austrittsgespräch, ambulante Maßnahmen,
Patientenverfügung
-
Maßnahmen zur Einschränkung der Bewegungsfreiheit
-
Anrufung des Gerichts
Auch nach der Gesetzesrevision gibt es in der Schweiz weiterhin eine hohe
interkantonale Varianz der FU-Raten [1] sowie bei den Quoten für
bewegungseinschränkende Maßnahmen und Behandlungen ohne Zustimmung
[2], die sich nicht allein durch die Patientenmerkmale erklären lassen. Die
Maßnahmen zur Stärkung der Patientenautonomie werden in der Praxis
wenig genutzt. Das KESR erlaubt den Kantonen weiterhin einen gewissen Spielraum in
der Umsetzung der FU, der sich durch Unterschiede in den jeweiligen kantonalen
Regelungen bzw. Einführungsgesetzen widerspiegelt [3]. So sind die Kantone
befugt, die Berechtigung zur Anordnung einer FU neben den Kindes- und
Erwachsenenschutzbehörden (KESB) auch Ärztinnen zu
übertragen (Art. 429 Abs. 1 ZGB). Dabei bestehen oft keine Vorgaben
über die Fachrichtung, die eine Ärztin aufweisen muss. Eine andere
kantonal variierende Regelung betrifft die Fristen bis zur ordentlichen
Überprüfung der ärztlich angeordneten FU durch die KESB.
Die FU-Rate in der Schweiz ist im internationalen Vergleich hoch [4] und in den
letzten Jahren steigend [1]. Die schweizweite FU-Rate liegt im Jahr 2021
durchschnittlich bei 1,9 pro 1000 Einwohnerinnen, je nach Kanton variierend von 0,8
bis 2,8. Im Kanton Zürich ist die FU-Rate seit Jahren konstant hoch (ca. 2,6
pro 1000 Einwohner im Jahr 2021) und die Quote rangiert zwischen 20% und
33% aller Einweisungen. Der Kanton ist geprägt durch die
grösste (Zürich) und sechstgrösste (Winterthur) Stadt der
Schweiz und deren Agglomerationen mit rund 1,5 Mio. Einwohnerinnen. Die Befugnis zur
Anordnung einer FU wurde in Ergänzung zur KESB allen Ärztinnen und
Ärzten mit Berufsausübungsbewilligung unabhängig von der
Spezialisierung übertragen. Im Gegensatz dazu wurde z. B. im Kanton
Baselland eine eher niedrige FU-Rate von 1,1 pro 1000 Einwohner im Jahr 2021 sowie
eine Quote von 15% aller Klinikeintritte festgestellt. Dieser Kanton hat
eine vergleichsweise ländliche Struktur mit rund 300’000
Einwohnerinnen. FU können in diesem Kanton ausschliesslich durch die KESB
angeordnet werden. Neben dem in der Literatur beschriebenen erhöhten Risiko
für FU in urbanen Gebieten scheint auch die gesetzliche Auslegung einen
relevanten Anteil in der Varianz der FU-Raten und auch der klinischen
Verläufe nach einer FU zu erklären [5,6].
Bisherige Forschungsarbeiten fokussierten im europäischen Bereich
hauptsächlich auf den Einfluss der Gesetzgebung auf die unterschiedlichen
Raten und Quoten von FU [4,7]. Deutliche Unterschiede bestehen bei der Definition
der Voraussetzungen, der zur Anordnung der Maßnahme befugten Personen, der
Anforderungen an die Dokumentation sowie zeitlicher und prozeduraler Aspekte.
Im Rahmen der vorliegenden explorativen Studie wurden fünf psychiatrische
Kliniken aus Regionen mit unterschiedlichen Strukturmerkmalen in Bezug auf FU-Quoten
sowie die betroffene Klientel im Vergleich zu Personen mit freiwilligen
Hospitalisationen untersucht. Die Studie ging folgenden Fragestellungen nach:
-
Wie unterscheidet sich die Verteilung der per FU zuweisenden Instanzen
zwischen den einzelnen Kantonen (Verhältnis
allgemein-ärztliche FU/psychiatrisch-ärztliche
FU/behördliche FU)?
-
Welche klinischen und soziodemographischen Charakteristika beschreiben die
per FU eingewiesenen Personen und wie unterscheiden sich diese von den
freiwillig hospitalisierten Personen?
-
Welche weiteren Zwangsmaßnahmen werden angewendet und wie
häufig? Welche Unterschiede bestehen zwischen den Kliniken resp.
Kantonen?
-
Wie ist die Dauer der Hospitalisierung nach Zuweisung per FU? Bestehen
Unterschiede zwischen den Kantonen bzw. nach zuweisender Instanz?
Methodik
Für die Studie wurden anonymisierte Routinedaten der teilnehmenden Kliniken
aus fünf Kantonen ausgewertet. Hierzu gehören soziodemographische
und klinische Basisdaten inklusive der Daten der «Nationalen
Qualitätsmessung in der stationären Erwachsenenpsychiatrie»
des nationalen Vereins für Qualitätsentwicklung in Spitälern
und Kliniken (ANQ), vgl. [Tab. 1].
Tab. 1 Einbezogene Variablen.
Soziodemographie
|
-
Geschlecht
-
Alter
-
Wohnkanton
-
Nationalität
-
Höchste abgeschlossene Schul- oder
Berufsausbildung
-
Aufenthaltsort vor Eintritt
-
Erwerbstätigkeit vor Eintritt
-
Aufenthalt nach Austritt
|
Prozedurale Aspekte
|
|
Klinische Aspekte
|
|
HoNOS (Health of the Nation Outcome Scales) ist ein Messinstrument zur
differenzierten Erfassung des Schweregrades einer psychischen Störung und
der sozialen Funktionsfähigkeit aus Sicht der behandelnden Person im Sinne
einer Fremdbeurteilung. Das Instrument enthält 12 Items, die Verhalten,
Beeinträchtigung, Symptome, soziales Funktionieren und Bedingungen in Beruf
und Alltag messen. Es können in der Summe 0 bis 48 Punkte erreicht werden,
wobei höhere Werte für größere Probleme in den
genannten Bereichen sprechen. Statistische Routinedaten zur FU liegen in der Schweiz
systematisch nur in psychiatrischen Kliniken vor. Von Pflege- und Wohneinrichtungen
sowie anderen Institutionen, in die eine Einweisung per FU als geeignete Einrichtung
möglich ist, werden keine Routinedaten erfasst, weshalb kein umfassendes
Bild aller FU in einem Kanton erhältlich ist [8]. Für die
vorliegende Studie wurden die Routinedaten der jeweils grössten
psychiatrischen Klinik im Kanton eingeschlossen, in die auch der grösste
Teil aller FU erfolgt. Im Einzelnen wurden die in [Tab. 2] aufgeführten Kantone und Kliniken in die Studie
eingeschlossen.
Tab. 2 Beteiligte Kantone und Kliniken.
Kanton
|
Einwohner-innen
|
Einwohner pro km2
|
Sprach-region
|
FU-Rate/1000 2016/2019
|
Häufigste FU anordnende Instanz
|
FU Dauer nach ärztl. Anordnung
|
Größte Klinik
|
Baselland1
|
290000
|
566
|
DE
|
0,85/1,06
|
KESB
|
24 Stunden
|
PBL
|
Graubünden2
|
200000
|
28
|
DE/RO/IT
|
0,71/1,43
|
Ärzte
|
6 Wochen
|
PDGR
|
Tessin3
|
350000
|
125
|
IT
|
1,86/1,73
|
Ärzte
|
6 Wochen
|
CPC
|
Waadt4
|
820000
|
256
|
FR
|
2,29/2,06
|
Ärzte
|
6 Wochen
|
CHUV
|
Zürich5
|
1500000
|
905
|
DE
|
2,07/2,18
|
Ärzte
|
6 Wochen
|
PUK
|
1FU wird innert 24 Stunden durch ein Mitglied der
Spruchbehörde (KESB) angeordnet, keine ärztlich angeordnete
FU (Antrag mit ärztlichen Zeugnis), bei Gefahr im Verzug
telefonische Anordnung durch KESB-Dienst für max. 24 Stunden.
Teilnehmende Klinik: Psychiatrie Baselland (PBL) Liestal.;
2Gesetzliche Regelung ärztliche FU: a) jeder im Kanton
zur selbständigen Berufsausübung zugelassene Arzt der
Grundversorgung (Hausarzt), mit Facharzttitel Psychiatrie und Psychotherapie
oder Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie; b) jeder
Bezirksarzt; c) der behandelnde Arzt der überweisenden Einrichtung.
Teilnehmende Klinik: Psychiatrische Dienste Graubünden (PDGR)
Chur/Cazis.; 3Tessin: Teilnehmende Klinik: Clinica
psichiatrica cantonale (CPC) Mendrisio.; 4Waadt: KESB als
Justizbehörden organisiert. Gesetzliche Regelung ärztliche
FU: die vom Gesundheitsdepartement autorisierten Ärztinnen und
Ärzte für eine maximale Dauer von sechs Wochen. Teilnehmende
Klinik: Centre hospitalier universitaire vaudois (CHUV) Département
de psychiatrie.; 5Zürich: Gesetzliche Regelung
ärztliche FU: alle Ärzte, die a) über ein
eidgenössisches oder ein eidgenössisch anerkanntes
ausländisches Diplom und b) über eine Bewilligung zur
selbständigen Berufsausübung in der Schweiz verfügen
oder unter der Verantwortung eines Arztes mit einer entsprechenden
Bewilligung arbeiten. Teilnehmende Klinik: Psychiatrische
Universitätsklinik Zürich (PUK).
Für die quantitativen Auswertungen wurden die Routinedaten aller Patientinnen
und Patienten, die von 2016 bis 2019 aufgrund einer psychiatrischen
Primärdiagnose nach ICD-10 (ICD-10 F0-F9) in einer der teilnehmenden
Kliniken freiwillig oder per FU behandelt wurden, in die Analysen aufgenommen. Es
handelt sich um insgesamt rund 57000 Fälle aus allen 5 teilnehmenden
Kliniken (BL 16%, GR 13%, TI 10%, VD 28%, ZH
33%) von knapp 33000 Patientinnen.
Die statistischen Analysen erfolgten deskriptiv und komparativ mittels R
Version 3.6.0. Dabei wurden für numerische Variablen der Mittelwert und die
Standardabweichung sowie der Median, Minimum und Maximum angegeben. Bei kategorialen
Variablen wurden die Anzahl sowie der prozentuale Anteil der gültigen
Fälle angegeben.
Die Studie ist Teil eines Evaluationsprojekts zur Umsetzung der FU in der Schweiz,
welches im Auftrag des Bundesamts für Justiz von den Autorinnen und Autoren
durchgeführt wurde. Neben der hier präsentierten Auswertung der
Routinedaten wurden in zwei Teilprojekten Stakeholder-Befragungen und Beurteilungen
von Fallvignetten durchgeführt. Die Evaluation wurde durch die Kantonale
Ethikkommission Zürich als Leitkommission für die multizentrische
Studie am 1.9.2021 bewilligt (BASEC 2021–00857).
Resultate
Stichprobe und Zuweisende
Die FU-Quote für das gesamte Sample der 57000 Fälle bei knapp
27% mit dem höchsten Anteil im Kanton TI (36%) und dem
geringsten im Kanton GR (13%). Die hohe FU-Quote in TI ist dadurch
bedingt, dass die Kantonale Klinik nur über die Hälfte der
Akutbetten verfügt, aber ca. 90% der FU-Patienten aufnimmt.
[Abb. 1] zeigt verschiedene Entwicklungen
auf: Im Kanton GR ist ein stetiger Anstieg der FU-Quote erkennbar,
während diese in den anderen Kantonen mit kleinen Schwankungen stabil
blieb. Der Anstieg im Kanton GR ist teilweise erklärbar durch
Veränderung des Dienstarztsystems des Churer Ärztevereins.
Konkret sind die niedergelassenen Psychiaterinnen seit dem Jahr 2018 nicht mehr
in den FU-Dienst involviert. Der Dienst wird stattdessen ausschliesslich von
Hausärzten und dem Amtsarzt durchgeführt, was mit dem Anstieg
der FU Einweisungen in Zusammenhang stehen könnte. Die Psychiaterinnen
verantworten nun den Gutachtensdienst bei einer Beschwerde nach abgelehntem
Entlassungsgesuch in der Klinik. Ein Hauptgrund für diese neue Regelung
war der Mangel an Psychiaterinnen und der Altersdurchschnitt der
niedergelassenen Psychiater von weit über 60 Jahren.
Abb. 1 Anteil FU nach Kanton und Jahr.
Tab. 3 (nur online) zeigt die Verteilung
hinsichtlich der zuweisenden Instanzen innerhalb der einzelnen Kantone
(allgemein-ärztliche FU/psychiatrisch-ärztliche
FU/behördliche FU). Der Anteil ärztlicher FU Zuweisungen
lag in allen Kantonen bei über 80% (im Kanton BL werden alle FU
durch die KESB angeordnet, als ärztliche FU wird der Anteil genannt, der
auf ärztlichen Antrag initiiert wurde). Der Anteil FU Zuweisungen durch
Psychiaterinnen lag zwischen 20% und 41%, mit Ausnahme von
6% in Graubünden, wo die Psychiater nicht mehr in den FU-Dienst
involviert sind (s. o.). Der Anteil Selbstzuweisender mit FU ist
mutmasslich auf freiwillige Eintritte mit späterem Rückbehalt
zurückzuführen.
Soziodemographische Basisdaten
Der Anteil Frauen lag bei allen Aufnahmen (mit und ohne FU) in allen Kantonen
zwischen 45% und 50%. In GR und TI war der Anteil Frauen mit FU
rund 5% geringer als bei Aufnahmen ohne FU. In den anderen Kantonen
zeigte sich kein Unterschied im Anteil Frauen zwischen Aufnahmen mit und ohne
FU. Die Altersverteilung war in allen Kantonen im Wesentlichen vergleichbar, der
Anteil von Hospitalisationen mit FU lag bei über 65-jährigen
Patientinnen in allen Kantonen deutlich über jenem bei den unter
65-jährigen Patienten. Dies ist unter anderem darauf
zurückzuführen, dass bei über 65-jährigen
Patientinnen häufiger dementielle und andere organisch bedingte
Störungen mit kognitiven Einschränkungen, Selbst- oder
Fremdgefährdung sowie gegebenen FU-Kriterien vorkommen. Der Anteil
Schweizer unter allen Patienten lag in den Kantonen BL, GR und TI bei knapp
80%, in ZH bei 70% und in VD bei 65%.
Klinische Basisdaten
Tab. 4 (nur online) zeigt die Verteilung
der Hauptdiagnosen pro Kanton und in Abhängigkeit davon, ob eine FU
vorlag oder nicht. Es sind folgende Beobachtungen aus den Daten ableitbar:
-
Bei FU-Einweisungen war die Hauptdiagnose einer schizophrenen Psychose
(F2) mit durchschnittlich 33% am häufigsten, einzig in
GR waren die Abhängigkeitserkrankungen (F1) häufiger
(26%) vertreten.
-
Insgesamt war der Anteil organischer Störungen (F0) und
schizophrener Psychosen als Hauptdiagnose bei Patientinnen mit FU
höher als bei Patientinnen ohne FU.
-
Abhängigkeitserkrankungen als Hauptdiagnose waren in den Kantonen
GR und TI bei Patienten mit FU häufiger und deren Anteil lag
deutlich höher als in den anderen Kantonen. Der Anteil
schizophrener Psychosen war bei Patienten mit FU im Kanton BL fast
doppelt so hoch wie bei Patientinnen ohne FU, während deren
Anteil im Kanton TI bei beiden Gruppen annähernd gleich war.
Funktionseinschränkung und Symptombelastung
Die Summe der Funktionseinschränkungen nach HoNOS bei Eintritt wurde in
den Kantonen ZH und BL im Mittel mit 21 Punkten bewertet, in den anderen
Kantonen mit 17 Punkten. Wie in Tab. 5
(nur online) ersichtlich, wurde aggressives Verhalten (HoNOS Item 1) bei
Patientinnen mit FU weitaus häufiger in schwerem Ausmaß
festgestellt (rund 40% der Fälle) gegenüber 13 bis
19% bei Patienten ohne FU. Selbstverletzendes Verhalten (HoNOS Item 2)
mit schwerem Ausmass war ebenfalls häufiger bei FU, jedoch weniger stark
erhöht gegenüber Patientinnen ohne FU und weniger als halb so
häufig wie aggressives Verhalten. Probleme durch Substanzkonsum (HoNOS
Item 3) mindestens schweren Ausmaßes kam bei einem Drittel der Patienten
vor, mit nur kleinen Unterschieden zwischen Gruppen mit und ohne FU.
Zwangsmaßnahmen (ZM)
[Tab. 6] zeigt an, wie häufig und
in welcher Form ZM in den fünf Kliniken angewandt werden. Der Anteil
Fälle mit mindestens einer ZM im Beobachtungszeitraum liegt zwischen
4,7% (VD) und 11,7% (BL). Unterscheidet man die Art der ZM so
werden Isolationen und Fixierungen am häufigsten im Kanton BL
angewendet. Zwangsmedikation kommen im Kanton TI bei einem höheren
Anteil Patienten vor. Hier werden andererseits keine Isolationen und Fixierungen
durchgeführt.
Tab. 6 Zwangsmaßnahmen (ZM) pro Kanton –
Anzahl und Anteil betroffene Fälle.
Zwangsmassnahmen pro Kanton – Anzahl (N) und Anteil
(%)
|
|
BL
|
GR
|
TI
|
VD
|
ZH
|
Total
|
ZM – Betroffene Fälle
|
N
|
%
|
N
|
%
|
N
|
%
|
N
|
%
|
N
|
%
|
N
|
%
|
Fälle ohne ZM
|
7269
|
88,3
|
6627
|
91,4
|
6197
|
93,7
|
15240
|
95,3
|
17795
|
92,9
|
253128
|
92,8
|
Fälle mit mind. einer ZM
|
961
|
11,7
|
624
|
8,6
|
415
|
6,3
|
751
|
4,7
|
1366
|
7,1
|
4117
|
7,2
|
Fixierung Anzahl betroffene Fälle
|
175
|
2,1
|
8
|
0,1
|
0
|
0
|
7
|
0,1
|
42
|
0,2
|
232
|
0,4
|
Isolation Anzahl betroffene Fälle
|
714
|
8,7
|
471
|
6,5
|
0
|
0
|
549
|
3,4
|
1142
|
6,0
|
2876
|
5,0
|
Zwangsmedikation Anzahl betroffene Fälle
|
436
|
5,3
|
252
|
3,5
|
415
|
6,3
|
238
|
1,5
|
674
|
3,5
|
2015
|
3,5
|
Aufenthaltsdauer
Der Anteil Patientinnen (mit und ohne FU) mit nur einmaliger Hospitalisation im
Untersuchungszeitraum war in allen Kantonen hoch (65% bis 71%).
In der Gruppe der Patienten mit FU lag der Anteil mit nur einmaliger
Hospitalisation durchwegs mit 70% bis 76% etwas höher.
Die mittlere Aufenthaltsdauer aller Fälle lag zwischen 25 und 33 Tagen,
die mediane Aufenthaltsdauer zwischen 17 und 23 Tagen. In der differenzierten
Auswertung der Aufenthaltsdauern zwischen Fällen mit und ohne FU zeigte
sich ein größerer Unterschied von mehr als zwei Tagen im
Mittelwert oder Median zwischen den Patientengruppen mit und ohne FU konnte nur
in den Kantonen GR und VD (mittlere Aufenthaltsdauer ohne FU in GR 32 bzw. in VD
23 Tage, mit FU in GR 27 bzw. in VD 32 Tage). Bei Patientinnen ohne FU ist die
mediane Aufenthaltsdauer bei einer ärztlichen Zuweisung zwischen 3 und 9
Tagen länger als bei Selbstzuweisung (Ausnahme Kanton TI), bei
psychiatrischer Zuweisung nochmals um 1 bis 5 Tage länger als bei
Zuweisung durch nicht-psychiatrische Ärztinnen. Bei Patienten mit FU ist
in den Kantonen BL, GR und TI die mediane Aufenthaltsdauer bei psychiatrischer
Zuweisung 6 bis 12 Tage länger als bei nicht-psychiatrischer
ärztlicher Zuweisung, in den Kantonen ZH und VD zeigte sich
diesbezüglich kein Unterschied.
Diskussion
Die vorliegende Studie beschreibt soziodemographische und klinische Routinedaten von
Personen, die per FU in die jeweils grösste psychiatrische Klinik der
involvierten Kantone eingewiesen wurden, im Vergleich zu Personen, die freiwillig
hospitalisiert wurden. Die Ergebnisse schliessen an frühere Studien zu
Risikofaktoren für FU und Zwangsmaßnahmen aus der Schweiz an [9,10].
Die fünf beteiligten Kantone weisen heterogene Strukturmerkmale sowie
Unterschiede in der kantonsspezifischen Umsetzung der FU auf. Die Kantone umfassen
alle Sprachregionen der Schweiz sowie ländlich, urban und gemischt
geprägte Strukturen, wodurch ein breites Spektrum der interkantonalen
Heterogenität der Schweiz abgedeckt wird. Kausale Zusammenhänge
zwischen kantonalen Strukturen und Regelungen zur FU und den per FU eingewiesenen
Personen sind nicht ableitbar. Dennoch können die Merkmale und Variablen im
gemeinsamen Kontext diskutiert und daraus Hypothesen abgeleitet werden.
VD und ZH als urbane Kantone mit hoher Bewohnerdichte haben die höchsten
FU-Raten und FU-Quoten, den höchsten Anteil durch Psychiaterinnen
zugewiesene Personen, den höchsten Anteil Nicht-Schweizer unter den
FU-Zuweisungen sowie eine kürzer mittlere und mediane Aufenthaltsdauer als
die ländlicheren Kantone (mit Ausnahmen TI). Der höhere Anteil FU
Zuweisungen durch Psychiater korrespondiert mit einer hohen Anzahl niedergelassener
Psychiaterinnen und Psychiater in diesen Kantonen [11]. Dies ermöglicht eine
breitere Abdeckung des Notfalldienstes durch psychiatrische Fachärztinnen,
was in Kantonen mit Mangel an Fachärzten nicht möglich ist und
dadurch häufiger andere Ärztinnen zum Einsatz kommen. Im
ländlich geprägten Kanton GR hat dies dazu geführt, dass
Psychiaterinnen nur noch bei Zurückbehaltungen durch die Einrichtung und
anderen spezifischen Fragestellungen beigezogen werden und die primäre
ärztliche FU-Anordnung ganz an den allgemeinen Notfalldienst sowie die
Grundversorger übertragen wurde. Die hohen FU-Raten der beiden Kantone VD
und ZH sowie der höhere Anteil von Nicht-Schweizern ist im Zusammenhang mit
dem Urbanizitätsgrad zu interpretieren [10].
Die Kantone TI und GR weisen im Gegensatz zu den anderen Kantonen einen deutlich
höheren Anteil substanzbezogene Störungen unter den Personen mit
FU-Einweisungen gegenüber den freiwillig Hospitalisierten auf. Im Kanton GR
ist die Hauptdiagnose einer substanzbezogenen Störung bei FU- Einweisungen
zudem höher als schizophreniform psychotische Störungen, die in
allen anderen Kantonen am häufigsten vorkommen. Dieser hohe Anteil
substanzbezogener Störungen unter FU-Patienten könnte damit in
Zusammenhang stehen, dass niederschwellige suchtspezifische Angebote aufgrund der
räumlichen Distanzen in der durch zahlreiche Täler geprägte
Geographie dieser ländlichen Kantone für viele Betroffene erschwert
ist und aufgrund starker Stigmatisierung substanzbezogener Störung erst
spät und dann nicht freiwillig Hilfe in Anspruch genommen wird.
In den Kantonen TI und VD werden ambulante Zwangsmaßnahmen
regelmässig umgesetzt. Es stehen jeweils ca. 50 bis 70 Personen unter
laufender Maßnahme, hauptsächlich Personen mit einer
schizophreniformen Psychose als Hauptdiagnose. Diese kantonale Maßnahme in
TI steht über eine Reduktion wiederholter FU Zuweisungen dieser Personen
wahrscheinlich mit zwei weiteren Spezifika des Kantons TI in Zusammenhang. Im Kanton
TI kommen Schizophrenien als Hauptdiagnose bei Aufnahmen mit FU gleich
häufig vor wie bei freiwilligen Aufnahmen, während in allen anderen
Kantonen der Anteil dieser Hauptdiagnose bei FU ca. doppelt so hoch ist wie bei
freiwilligen Hospitalisationen. Die ambulanten Maßnahmen ermöglichen
es zudem Patienten mit zuvor hoher Inanspruchnahme insbesondere unter FU-Bedingungen
aus dem stationären Bereich fern zu halten, was dort eine bessere Umsetzung
des Prinzips der offenen Türen und des Verzichts auf Isolation und Fixierung
ermöglicht. Im Kanton TI werden keine Isolationen und Fixierungen
angewendet, hingegen im Vergleich zu den anderen Kantonen häufiger
Zwangsmedikationen.
Im Kanton BL wurde der höchste Anteil organische Störungen
(z. B. Demenzen) als Hauptdiagnose bei FU-Einweisungen festgestellt. Dies
korrespondiert mit einem hohen Anteil alterspsychiatrischer Betten in der dortigen
Klinik sowie einem hohen Anteil betagter Personen in der
Allgemeinbevölkerung (der sich allerdings nicht von den anderen
ländlich geprägten Kantonen TI und GR unterscheidet). Im Kanton BL
werden zudem die höchsten Anteile freiheitsbeschränkende
Maßnahmen (bei gleichzeitig geringsten FU Quoten) festgestellt. Es
wäre zu prüfen, ob diese Maßnahmen auch zu einem
größeren Teil alterspsychiatrische Patientinnen betreffen. Dies ist
aus den vorliegenden Daten nicht ableitbar.
FU-anordnende Ärzte berichten häufig von ethischen Dilemmata, Druck
von Drittpersonen (am häufigsten durch Angehörige und Polizei) und
Unsicherheiten bei der Anwendung der gesetzlichen Kriterien [3].
Fachärztinnen für Psychiatrie und Psychotherapie weisen dabei
signifikant mehr Sicherheit im Umgang mit FU und deren gesetzlichen Grundlagen auf
als Ärztinnen mit anderer Spezialisierung [6]. Die Qualität der
administrativen Abläufe bei Zwangseinweisungen z. B. der
Dokumentationsqualität variiert je nach Fachrichtung der zuweisenden
Ärzte [12,13]. Darüber hinaus unterscheidet sich die Dauer von FU
bei Patientinnen signifikant, abhängig vom Erfahrungsstand bzgl.
psychiatrischer Notfälle der FU anordnenden Ärzte [14]. Dies weist
darauf hin, dass FU, die von wenig erfahrenen Ärztinnen angeordnet werden,
früher wieder aufgehoben werden können und sich ein Teil an FU
darunter befindet, der ganz vermeidbar gewesen wäre. Eine weitere Schweizer
Studie fand keine Unterschiede zwischen verschiedenen Zuweisenden
bezüglicher der Entscheidung für oder gegen eine FU bei
verschiedenen Fallvignetten, sodass kantonale Unterschiede bei den FU-Raten
hierdurch unzureichend erklärt werden [15].
Die Anwendung von Zwangsmaßnahmen (ZM) während des
stationären Aufenthalts hat sich durch die Revision des KESR 2013 nicht
signifikant verändert [16,17], vielmehr zeigen sich auch hier innerhalb der
Schweiz deutliche Unterschiede bei den Quoten, die wesentlich auf die jeweilige
Klinikkultur und Haltung zurückgeführt werden können [18].
Eine wesentliche Maßnahme zur Beeinflussung der ZM-Quoten ist neben der
jeweiligen kantonsspezifischen gesetzlichen Regelung die jeweilige
institutionsspezifische Umsetzung der fachlichen Leitlinien [19]. Die Wahl der
angewendeten ZM (Isolation, Fixierung, Zwangsmedikation) unterliegt unter anderem
der jeweiligen Institutionskultur. Im Kanton TI werden in der psychiatrischen Klinik
keine Fixierungen und Isolationen durchgeführt. Jedoch ist im TI die
Zwangsmedikation mit 6% der Fälle am höchsten im Vergleich
zu Kliniken der anderen Kantone und es werden ambulante Zwangsmaßnahmen
eingesetzt.
Limitationen
Für die Studie wurde ein sehr großer Datensatz aus den
fünf jeweils größten psychiatrischen Kliniken aus
fünf strukturell heterogenen Kantonen und über einen Zeitraum
von 4 Jahren zusammengestellt und ausgewertet. Der Datensatz erfüllt
dennoch nicht den Anspruch auf Repräsentativität für die
Schweiz und auch nicht für die jeweiligen Kantone, da jeweils weitere
Institutionen vorhanden sind. Es handelt sich um deskriptive und vergleichende
Auswertungen, die keine Ableitung von Kausalzusammenhängen zulassen.
Konsequenzen für Klinik und Praxis
-
Die Raten fürsorgerischer Unterbringung variieren erheblich
zwischen verschiedenen Regionen mit differierender rechtlicher und
prozeduraler Grundlage.
-
Deutliche Unterschiede der Charakteristika der betroffenen Personen
zwischen den Regionen weisen auf differierende Entscheidungspraktiken
hin.
-
Einheitliche Kriterien und Prozesse zur Entscheidung und Umsetzung der
fürsorgerischen Unterbringung sowie standardisiertes Training
der zur Anordnung einer Unterbringung befugten Personen könnten
für mehr Rechtsgleichheit und Reduktion der Unterbringungsraten
führen