Schlüsselwörter
Hausärztliche Versorgung - Delegation - VERAH - nicht-medizinisches Personal - Software
Key words
primary care - delegation - VERAH - non-medical staff - software
HZV Hausarztzentrierte Versorgung
MFA Medizinische:r Fachangestellte:r
NÄPA Nichtärztliche:r Praxisassistent:in
PraCMan Hausarztpraxis-basiertes Case Management
sCM softwaregestütztes Case Management
TelePraCMan Modellprojekt, Erweiterung von PraCMan durch eine Patienten-App
VESPEERA Modellprojekt, Einführung einer komplexen Intervention inkl.
sCM-Intervention
VERAH Versorgungsassistenz in der Hausarztpraxis
Hintergrund
Die hausärztliche Versorgung in Deutschland steht vor mehreren
Herausforderungen: Die Anzahl chronisch erkrankter Personen steigt [1], was mit einer gesteigerten Kontaktaufnahme
zu ambulanten Ärzt:innen [2], sowie
einer Verschiebung und Steigerung der Versorgungsanforderungen in der
hausärztlichen Versorgung [3]
einhergeht. Zudem wird durch demographische Verschiebungen und veränderte
Arbeitsmodelle der Bedarf an nicht-gedeckter hausärztlicher Versorgung auf
20 000 Stellen für das Jahr 2025 geschätzt [4]. Für das Jahr 2035 wird
prognostiziert, dass über 19% der maximal zu besetzenden
kassenärztlichen Sitze unbesetzt bleiben, bei erheblichen regionalen
Unterschieden [5]. Zugleich wird bereits seit
längerem eine Stärkung von hausärztlich koordinierten
Versorgungsmodelle empfohlen [5]
[6]. Es stehen sich zukünftig somit ein
steigender Versorgungbedarf und eine Verknappung von ärztlichem Personal
gegenüber [3].
Die Delegation ursprünglich ärztlicher Aufgaben wie Wundversorgung,
Prävention und Schulungsmaßnahmen [7]
[8] oder Haus- und Heimbesuche
[9] an nicht-ärztliches Personal
stellt einen Ansatz dar, diesen Herausforderungen zu begegnen. Internationale
Studien weisen darauf hin, dass mit der Aufgabenübernahme durch Pflegende,
gemessen an u. a. patientenbezogenen Outcomes [10], Patientenzufriedenheit [11], aber auch bezüglich der
Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen [10]
eine gleichbleibende, wenn nicht sogar verbesserte Patientenversorgung
einhergeht.
Die Delegation ärztlicher Leistungen in der Primärversorgung ist in
den angloamerikanischen, skandinavischen und südeuropäischen
Ländern stark verbreitet, wo vor allem an Pflegekräfte mit einem
akademischen Abschluss delegiert wird [12]
[13]. In Deutschland hingegen
ist die Primärversorgung stark ärztlich geprägt. Die
Bereitschaft zur Anwendung von Delegationsmodellen hat in den letzten Jahren
zugenommen [14], hängt jedoch auch von
den gesetzlichen Bestimmungen ab [15].
Konkrete Ansätze für die Umsetzung von Delegationsmodellen stellen
Qualifizierungsmaßnahmen für Medizinische Fachangestellte (MFA) dar
[16]. Das am weitesten verbreitete Modell
ist das der Versorgungsassistenz in der Hausarztpraxis (VERAH), das im Rahmen der
hausarztzentrierten Versorgung (HZV) 2008 eingeführt wurde. Zu den
Aufgabengebieten der VERAHS gehört unter anderem das Case Management, in
dessen Rahmen die VERAH, in enger Zusammenarbeit mit anderen Gesundheitsversorgern
die Evaluation, Planung, Koordination und Priorisierung der auf die
Bedürfnisse der Patienten angepassten Gesundheitsversorgung
übernimmt [8]
[17].
Bisherige Studien zur Rolle von nicht-ärztlichem Personal fokussieren meist
patientenbezogene Outcomes oder beschreiben die übernommenen Aufgaben und
Verantwortlichkeiten, in der Regel durch Pflegende [18]
[19]
[20]. Für die Vorbereitung der
hausärztlichen Gesundheitsversorgung auf die zukünftigen
Herausforderungen ist jedoch ein genaueres Verständnis der Rolle der VERAH
in den neuen Aufgaben- und Verantwortungsgefügen im konkreten Praxisalltag
notwendig. Bisherige Studien zeigen, dass die Nutzung protokollbasierter
Versorgungskonzepte die Rolle von Pflegenden verändert und deren Autonomie
erhöhen kann [25]. Die
Unterstützung des Teams ist entscheidend für die Umsetzung [21] und eine mangelnde Klarheit über
die Rolle und übernommenen Aufgaben von Seiten der Ärzt:innen und
die Selbstwahrnehmung der Pflegekräfte als abhängig arbeitende
Assistenz schränken die Zusammenarbeit und die Rolle der Pflegekraft ein
[22].
Das Ziel dieser Studie war es daher, zu explorieren, wie sich die Rolle der VERAH in
hausärztlichen Praxen darstellt. Hier waren drei Fragestellungen leitend: a)
Welche Aufgaben übernehmen VERAHs, b) welchen Stellenwert haben diese
Tätigkeiten im Praxisalltag und c) wie verändert sich dadurch die
Beziehung zu Patient:innen?
Methodisches Vorgehen
Studiendesign
Zur Exploration der Rolle der VERAH in der hausärztlichen Versorgung
wurde eine qualitative Sekundäranalyse durchgeführt [23]. Grundlage waren zwei
Forschungsprojekte, in denen neue VERAH-Aufgaben im Rahmen der
Einführung und Umsetzung von softwaregestütztem Case Management
(sCM) vorgesehen waren. Von der Ethikkommission der Medizinischen
Fakultät Heidelberg liegen positive Ethikvoten vor (S-071/2018,
S-092/2019), beide Studien wurden zudem vorab registriert (DRKS00015183,
DRKS00017320).
Seit 2014 wird in Baden-Württemberg im Rahmen der HZV der AOK
Baden-Württemberg eine hausarztbasierte Case Management-Intervention
für chronisch Kranke (PraCMan) umgesetzt. Diese wurde in einem
Entwicklungsprojekt (TelePraCMan) durch eine Patienten-App erweitert
(Primärstudie 1 [24]). Ziel von
VESPEERA (Primärstudie 2) war der Einbezug von Hausarztpraxen in das
Einweisungs- und Entlassmanagement [25].
In beiden Projekten war vorgesehen, dass die Case Management-Aufgaben dabei
größtenteils (VESPEERA) oder ganz eigenständig
(TelePraCMan) von VERAHs softwaregestützt, standardisiert und
strukturiert umgesetzt werden.
Die Berichterstattung der vorliegenden Studie orientiert sich an Empfehlungen zur
Sekundärdatenanalyse [26], so
zutreffend wurden die Empfehlungen der COREQ Checkliste [27] genutzt.
Datenquellen
Insgesamt wurden 20 Einzelinterviews und zwei Fokusgruppen mit insgesamt 30
Mitarbeitenden in die vorliegende Untersuchung miteingeschlossen [24]
[28] (inkl. soziodemographischer Angaben, keine Feldnotizen, s. [Tab. 1]).
Tab. 1 Übersicht Datenquellen/Material
(Daten aus: [24]
[28]).
|
TelePraCMan (27.11.2017–17.06.2021)
|
VESPEERA (01.10.2017–30.09.2020)
|
Projektkontext
|
Projekt zur App-Entwicklung
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Prozessevaluation der Implementierung des sCM
|
Erhebungsform
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Fokusgruppen (n=2), Einzelinterviews
(n=3)
|
Leitfadengestützte semistrukturierte Einzelinterviews
(n=17)
|
Erhebungszeitraum
|
04/2019 bis 06/2019
|
09/2018 bis 09/2019
|
Rekrutierungswege/Sampling
|
Forschungspraxennetz Baden-Württemberg (FoPraNet),
Tag der Allgemeinmedizin Heidelberg, Ärztestammtisch
Heidelberg
|
alle Hausärzt:innen und VERAHs aus an der Hauptstudie
teilnehmenden Hausarztpraxen (n=74) postalisch
|
Sample
|
7 MFAs/VERAHs, 6 Hausärzt:innen
|
11 VERAHs, 6 Hausärzt:innen
|
Alter (in Jahren)
|
MFAs/VERAHs: 38.57 (24–56)*
|
VERAHs: 40 (31–54)*
|
Hausärzt:innen: 53.83 (38–77)*
|
Hausärzt:innen: 58 (50–64)*
|
Geschlecht
|
MFAs, VERAHs: n=7 (100%)
|
MFAs, VERHAs: n=11 (100%)
|
(weiblich)
|
Hausärzt:innen: n=3 (50%)
|
Hausärzt:innen: n=4 (66%)
|
Berufserfahrung (in Jahren)
|
MFAs/VERAHs: 10.43 (2–24)*
|
VERAHs: 17,5 (2–38)*
|
Hausärzt:innen: 14.48
(0.4–46) *, **
|
Hausärzt:innen: 16.5 (2–25)*
|
Länge (in Minuten)
|
|
|
Interviews
|
29 (21–39)*
|
39 (26–67)*
|
Fokusgruppen
|
69 (67–71)*
|
-
|
*Mittelwert (Minimum- Maximum), **1
fehlender Wert
Zum Zeitpunkt der Datenerhebung befanden sich die Praxen in unterschiedlichen
Stadien des Implementierungsprozesses der sCM-Interventionen. Die Erfahrung der
Praxismitarbeitenden reicht von ersten Berührungspunkten mit dem sCM im
Rahmen des VESPEERA-Projektes bis hin zu mehrjähriger Erfahrung mit der
PraCMan-Intervention.
Alle Teilnehmenden wurden vor der Datenerhebung schriftlich und mündlich
aufgeklärt und haben in die Teilnahme schriftlich eingewilligt.
Während den Befragungen waren ausschließlich die Teilnehmenden
und Forschenden anwesend. Die Interviews wurden auf Tonband, die Fokusgruppen
zudem auf Video aufgezeichnet. Die Transkripte wurden nach zuvor festgelegten
Regeln erstellt, pseudonymisiert und den Teilnehmenden nicht zur Kontrolle
vorgelegt. Soziodemographische Daten wurden über einen Fragebogen
erhoben.
Datenanalyse
Grundlage der Auswertung der qualitativen Daten waren die unkodierten Transkripte
der Einzelinterviews und Fokusgruppen. In der Analyse wurden induktive und
deduktive Schritte verbunden [29]: a)
offenes Kodieren mit Fallmemos, b) fokussiertes thematisches Kodieren, c)
Zusammenführung von Codes und Themen (JM). Die Analyse wurde von JM
(weiblich, Versorgungsforscherin) durchgeführt. Die Ergebnisse wurden
regelmäßig mit an der Datenerhebung beteiligten Forscherinnen
(JF, NL) und in einer Forschungswerkstatt zu qualitativen Methoden (Leitung CU,
RPD) diskutiert. Für die Auswertung des qualitativen Datenmaterials
wurde die Software MAXQDA PLUS genutzt. Soziodemographiebögen wurden
deskriptiv mit Microsoft Excel ausgewertet.
Ergebnisse
In allen Einzelinterviews und Fokusgruppen wurden Aussagen zur Rolle der VERAH im sCM
gemacht. Dabei ließen sich drei Themen identifizieren a) Beschreibung der
konkreten Aufgaben der VERAH im sCM innerhalb des Praxisteams, b) Stellenwert des
sCM innerhalb der Tätigkeiten der VERAHS und c) Beziehung der VERAHs zu
Patient:innen.
Aufgaben der VERAH im sCM und Stellung/Zusammenarbeit im
Praxisteam
In den Aussagen der Befragten wird deutlich, dass VERAHs aus allen Praxen, aus
denen Mitarbeitende befragt wurden, Aufgaben im sCM übernehmen, etwa die
Erstellung von Einweisungsbriefen und die Organisation der Versorgung nach
Entlassung (z. B. Bereitstellung von Heil- und Hilfsmitteln,
Durchführung von Telefonmonitorings).
Das Aufgabenspektrum und das Ausmaß der Verantwortung für diese
Tätigkeiten sind unterschiedlich. Einige VERAHs beschreiben sich als die
Hauptbetreuenden im sCM und sehen sich in einer Koordinatoren- und
Vermittlerfunktion zwischen Ärzt:innen und Patient:innen bzw. anderen
Leistungserbringenden. Eine VERAH stellt dies wie folgt dar: „Klar der
Arzt, der schaut drüber und man bespricht es ja dann auch, aber die
Hauptbetreuung liegt ja eigentlich schon bei der VERAH.“ [V22]. Die
Verantwortung der VERAHs wird auch daran deutlich, dass manche
Ärzt:innen in einige Bereiche des sCM keinen Einblick haben, denn
„das macht überwiegend meine VERAH, da habe ich relativ wenig
mit zu tun.“ [HA7]. Der Grad, in dem sich die VERAHs bei der
selbständigen Durchführung von patientennahen
Tätigkeiten mit Ärzt:innen absprechen, scheint in den Praxen
unterschiedlich. Einerseits wird von regelmäßigen und engen
Absprachen berichtet, in anderen Fällen wird berichtet, dass eine
Absprache nur bei Unklarheiten stattfindet.
Darüber hinaus gibt es in den Interviews viele Hinweise auf eine
Zusammenarbeit von VERAHs und MFAs im sCM. Eine VERAH beschreibt:
„Ich mach VESPEERA, dann bin ich halt auch mal fünf
Minuten weg und dann wissen auch alle anderen: Ok, die müssen quasi
meinen Part mit übernehmen, also das läuft bei uns super
gut“ [V17]. Diese Zusammenarbeit ermöglicht auch die
Durchführung des sCM im Schichtbetrieb: „[…] von der
einen Kollegin ‘hey da ist jemand, nimm den mal‘. Weil dann
ich ja auch nicht alles mitkriege […], ich bin nicht immer
da“ [V19]. Gleichzeitig erschweren Probleme bei der
Kommunikation im Team die Umsetzung des sCM.
Stellenwert des sCM innerhalb der VERAH-Tätigkeiten
In den Aussagen der Befragten zeigt sich eine Heterogenität bzgl. des
Ausmaßes der Übernahme an neuen Aufgaben und Verantwortungen,
der Priorisierung von sCM-Tätigkeiten gegenüber Routineaufgaben
und den gegebenen notwendigen Rahmenbedingungen.
In wenigen Praxen liegt die vorrangige Aufgabe der VERAHs in der
Durchführung des sCM bzw. reiner VERAH-Tätigkeiten. Eine VERAH
berichtet beispielsweise: „Ich bin hier als VERAH hauptsächlich
für die VESPEERA- und die PraCMan-Patienten eingesetzt. […] Ich
springe schon auch vorne ein, aber hauptsächlich bin ich in meinem
Zimmer und mache bestimmte Patienten.“ [V22]. In zahlreichen Praxen
hingegen entsprechen die Hauptaufgaben der VERAHs denen der MFAs, das sCM nimmt
dann eine Sonderstellung ein und wird als Zusatzaufgabe gegenüber dem
Tagesgeschäft, Routinearbeit und Kernaufgaben wahrgenommen. Das sCM wird
dann teilweise als problematisch angesehen, im Praxisalltag nur teilweise
umgesetzt oder häufig nur verfolgt, sofern die Erledigung der
Routinearbeiten nicht beeinträchtigt wird. In anderen Praxen existieren
hingegen explizite Regelungen (z. B. Bürotage), die eine
Durchführung des sCM parallel zu den Routinearbeiten und somit eine
stärkere Integration in den Alltag ermöglichen.
Als weitere Rahmenbedingungen zur Umsetzung werden zum einen EDV-bezogene
Faktoren wie die Anbindung der sCM-Software an die Praxissoftware genannt. Zum
anderen wurde angeführt, dass für die Durchführung des
sCM ein zusätzlicher separater Raum notwendig wäre,
während dies in anderen Praxen bereits umgesetzt wird: Das ist mein
Raum, in dem bin immer ich den nutze ich hauptsächlich nur
für diese Dinge [V22]. In einigen Interviews wird
außerdem berichtet, dass die benötigte infrastrukturelle
Ausstattung, wie z. B. Computer und Drucker, nicht in notwendigem
Ausmaß oder den entscheidenden Räumen vorhanden sind.
Die VERAHs wenden unterschiedliche Strategien, wie die Reservierung von festen
Zeitfenstern, handschriftliche Zwischenschritten (zunächst
papierbasierte Dokumentation, später Nachfassung in der Software) und
Anpassungen der sCM-Intervention in Form von
Kürzungen/Auslassungen in den Assessments an, um die Umsetzung
des sCM dennoch zu ermöglichen. Diese werden jedoch von den VERAHs
kritisch betrachtet und als nicht dauerhaft praktikabel bewertet.
Insgesamt wird deutlich, dass die neuen Aufgaben im sCM zu einer Aufwertung der
Rolle der VERAH führen, diese Neues lernen und damit Freunde und
Abwechslung verbinden. Eine VERAH berichtet: „Ja gut, das ist halt
eigenverantwortliches Arbeiten […], man kriegt einfach einen guten
Draht zum Patienten, […]. Ist natürlich auch eine
Aufwertung, klar keine Frage, ja das macht einfach auch Spaß,
[…].“ [V17]. Ärzt:innen bestätigen
diesen Eindruck: „Ich denke auch, dass es für die Mitarbeiterin,
die sich da engagiert hat, eine positive neue Herausforderung […] und
eine Aufwertung für ihren Beruf ist, dass sie nun eine gewisse
Koordination und Betreuung übernimmt.“ [HA31]. Sofern die
Rahmenbedingungen erfüllt sind, geht damit auch eine hohe Zufriedenheit
einher. Gleichzeitig befürchten die Befragten jedoch auch, dass es durch
die Übernahme weiterer Aufgaben und Verantwortlichkeiten zu einer
insgesamt sehr hohen Arbeitslast für die VERAHs kommen kann. Sofern die
Rahmenbedingungen nicht erfüllt und Verantwortlichkeiten nicht
abschließend geklärt sind – die Rolle der VERAH also
unklar definiert ist – kann dies zu Stress, Überforderung,
Unzufriedenheit und Frust führen. Ein Arzt beschreibt: „Also die
VERAH wird halt immer gefragt und ist natürlich auch immer die, die
ranmuss und das ist manchmal ein bisschen viel für eine.“
[HA7].
Beziehung zwischen VERAHs und Patient:innen
Durch die Übernahme von Aufgaben im sCM verändert sich die
Beziehung der VERAH zu den Patient:innen. Hierbei erfahren sich die VERAHs als
Koordinatorinnen zwischen Ärzt:innen und Patient:innen sowie als
arztentlastend und patientenunterstützend.
Viele VERAHs berichten detailliert von ihren Beziehungen zu Patient:innen und
beschreiben diese als eng, intensiv oder vertrauensvoll. Sie geben in ihren
Konsultationen Raum nicht nur für medizinische, sondern auch
außermedizinische Anliegen der Patient:innen. VERAHs sehen sich so als
wichtige Ansprechpersonen für die Patient:innen. Eine VERAH
erläutert, die Patient:innen: „wollen den Arzt nicht so lange
belasten […]. Die kommen dann zu mir und erzählen mir das. Die
merken dann, da ist mehr Zeit da und da kann ich das auch
erzählen.“ [V22]. Dabei betont sie jedoch auch, dass diese
Beziehung die Arzt-Patienten-Beziehung nicht ersetzt, sondern ergänzt.
Durch das sCM bekommen einige VERAHs ein „breiteres
Hintergrundwissen“ [V17] über die Patient:innen oder
„einen besseren Einblick“ [V6] in die jeweilige
Patientensituation. Dies wiederum ermöglicht einigen ein besseres
Verständnis für das Verhalten der Patient:innen und die
Notwendigkeit von Behandlungsschritten: „Manch ungünstige
Situation, die an der Anmeldung passiert, bei der man das Verhalten des
Patienten nicht versteht, versteht man dann, wenn man jemanden näher
kennenlernt oder die Geschichte dazu kennt.“ [V16].
Diskussion
Wie in der Konzeptionen der sCM-Interventionen VESPEERA und TelePraCMan intendiert,
übernehmen die VERAHs aller Hausarztpraxen, aus denen Interviewpartner:innen
teilnahmen, Aufgaben im sCM. Dies führt nicht nur zu einer Übernahme
von neuen Aufgaben und Verantwortlichkeiten, sondern auch zu einer
Veränderung der Stellung gegenüber Patient:innen. Dies
bestätigt bereits im Rahmen der HZV-Evaluation gewonnene Erkenntnisse, dass
sich VERAHs als wichtige zusätzliche Vertrauenspersonen innerhalb des
Praxisteams sehen [30] und auch von
Patient:innen als solche gesehen werden [31],
was auf die Stärkung der Kernaufgaben der VERAHs hindeutet.
Zugleich wird das sCM häufig als Zusatzaufgabe wahrgenommen, die neben
allgemeinen MFA-Aufgaben übernommen wird. Auch Gensichen et al. [32] zeigen in der Evaluation einer von speziell
geschulten MFA durchgeführten Case Management-Intervention eine
zusätzliche Arbeitsbelastung der MFA und beschreiben dies als einen
Limitationsfaktor für die Umsetzung des Case Managements [18]. Ähnlich wie bisherige Studien
[22]
[33]
[34]
[35], weist auch die vorliegende Studie auf
konkrete Konflikte hin, die sich aus dieser Rollenunklarheit ergeben.
Insgesamt zeigt sich eine große Heterogenität in der Umsetzung des
sCM und damit auch in der Ausgestaltung der Rolle der VERAH im sCM. So zeigen die
Ergebnisse, dass für die Umsetzung des sCM ausreichend zeitliche und
personelle Ressourcen sowie notwendige infrastrukturelle Gegebenheiten
ausschlaggebend sind. Dies bestätigt Ergebnisse einer qualitativen
Befragungsstudie zur Umsetzung des VERAH-Konzepts und damit verbundenen
Förder- und Hemmfaktoren [36]. In der
Selbstbeschreibung der VERAHs deutet sich an, dass einige VERAHs sich als autonom,
andere als stark weisungsgebunden wahrnehmen. Die Studie von McInnes et al. [22] zeigt, dass es die Zusammenarbeit im Team
und die Rolle der Pflegekraft einschränkt, wenn diese sich als Assistenz und
nicht als autonome Gesundheitsversorger:in wahrnimmt.
Dennoch weisen unsere Ergebnisse darauf hin, dass protokoll-basierte
Versorgungsansätze eine Möglichkeit darstellen, die Rolle der VERAHs
bzw. des nicht-ärztlichen Personals in Deutschland zu stärken. Dies
bestätigt vorliegende Studienergebnisse, die zeigen, dass die Nutzung eines
protokollbasierten Versorgungsansatzes das Potenzial hat, die Umverteilung von
ärztlichen Aufgaben auf nicht-ärztliches Personal zu erleichtern
[37] und die Autonomie
nicht-ärztlichen Personals zu erhöhen [16]. Hierbei ist das von Seiten der
Ärzt:innen entgegengebrachte Vertrauen in die VERAHs förderlich
für die Delegation [36].
Insgesamt zeigen sich positive Effekte der VERAH-Weiterbildung für deren
Stellenwert und Arbeitsalltag. Ein Ausbau der
Weiterqualifizierungsmöglichkeiten könnte die Attraktivität
des Berufs weiter steigen. Unsere Ergebnisse weisen zugleich auf Herausforderungen
hin, die neuen Kompetenzen im Alltag umzusetzen.
Weiterqualifizierungsmöglichkeiten sollten auf diesen Aspekt
verstärkt eingehen und die Relevanz von Rollenklärung,
Aufgabenteilung im Team sowie Anpassung von Rahmenbedingungen adressieren.
Stärken und Limitationen
Die analysierten Daten bieten einen unmittelbaren Einblick in die Arbeit mit
sCM-Interventionen in der hausärztlichen Versorgung, welcher durch den
Einbezug von zwei Projekten an Breite gewonnen hat. Die Auswertung der Daten mit
einer anderen Zielsetzung als derjenigen, für welche sie erhoben wurden,
kann das Ausmaß, in welchem ein thematisches Ergebnis identifiziert
wurde, einschränken. Die in der Studie untersuchten Praxen nehmen alle
an der HZV in Baden-Württemberg sowie an Forschungsprojekten zu neuen
Versorgungskonzepten teil, daher ist von einem entsprechenden Selektionsbias
auszugehen.
Schlussfolgerung
Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass die Einführung des sCM zu einer
Erweiterung der Rolle der VERAHs beitragen kann. Um die durch Weiterbildung
bereitgestellten Kompetenzen und Fähigkeiten des nicht-ärztlichen
Personals optimal nutzen zu können, sollte künftige Forschung sowohl
eine klare Beschreibung der neuen Rolle fokussieren als auch die Rahmenbedingungen
der Aufgabenerfüllung der VERAH adressieren.
Einhaltung Ethischer Richtlinien
Einhaltung Ethischer Richtlinien
Deklaration von Helsinki
Alle beschriebenen Untersuchungen am Menschen wurden mit Zustimmung der
zuständigen Ethik-Kommission (Ethikkommission der Medizinischen
Fakultät Heidelberg (S-071/2018, S-092/2019), im
Einklang mit nationalem Recht sowie gemäß der Deklaration von
Helsinki von 1975 (in der aktuellen, überarbeiteten Fassung)
durchgeführt. Von allen beteiligten Patient:innen liegt eine
Einverständniserklärung vor.
Fördermittel
VESPEERA: Innovationsfonds, Förderkennzeichen 01NVF17024; TelePraCMan:
Ministerium für Soziales und Integration Baden-Württemberg,
Förderprogramm „Digitalisierung in Medizin und Pflege“