CC BY-NC-ND 4.0 · Gesundheitswesen 2023; 85(S 05): S304-S310
DOI: 10.1055/a-2160-2733
Übersichtsarbeit

Mobilität und StadtGesundheit

Mobility and Urban Health
Sonja Kahlmeier
1   Departement Gesundheit, Fernfachhochschule Schweiz, Zürich, Switzerland
,
Dirk Wittowsky
2   Institut für Mobilitäts- und Stadtplanung, Universität Duisburg-Essen, Essen, Germany
,
Rainer Fehr
3   Sustainable Environmental Health Sciences, Medizinische Fakultät OWL, Universität Bielefeld, Bielefeld, Germany
› Institutsangaben
 

Zusammenfassung

Städte und Gemeinden bilden komplexe Mikrokosmen, in denen Menschen mit sehr unterschiedlichen Bedürfnissen und Möglichkeiten leben. Die bauliche Gestalt und die Funktionalität städtischer Räume haben einen signifikanten Einfluss auf die individuelle Mobilität und damit auf die Gesundheit und Lebensqualität der gesamten Bevölkerung. In den letzten Jahrzehnten haben Politik und Kommunen durch primär autogerechte Strukturen negative Effekte auf Menschen (besonders bei vulnerablen Gruppen) und Ökosysteme in Kauf genommen. Die Verzahnung von Gesundheits- und Nachhaltigkeitsaspekten wird in der integrierten Stadt- und Verkehrsplanung ein zentraler Prozessbaustein für die notwendige Transformation urbaner Strukturen sein. Obwohl es viele positive Rahmenbedingungen und Lösungsmöglichkeiten im internationalen und nationalen Kontext gibt, sind zahlreiche Prozesse zu optimieren und Maßnahmen großflächig umzusetzen. Zudem müssen die bestehenden Werkzeuge in der Stadt- und Verkehrsplanung konsequenter um Gesundheitsaspekte erweitert werden. Dabei sind sowohl Neujustierungen in der Wissenschaft, in der kommunalen Praxisplanung, in der Bildung sowie in interdisziplinären Förderprogrammen notwendig.


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Abstract

Cities and communities form complex microcosms in which people with very different needs and opportunities live. The structural design and functionality of urban spaces have a significant impact on individual mobility and thus on the health and quality of life of the entire population. In recent decades, politicians and municipalities have accepted negative effects on people (especially vulnerable groups) and ecosystems as a price worth paying for ensuring mobility through car-friendly structures. The interconnection of health and sustainability aspects will be a central process component for the necessary transformation of urban structures in integrated urban and transport planning. Although there are many positive framework conditions and possible solutions in the international and national context, numerous processes need to be optimized and measures implemented on a large scale. In addition, the existing tools in urban and traffic planning must be further expanded to include health aspects more comprehensively. This requires readjustments in science, in municipal practice planning, in education and in interdisciplinary funding programs.


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Veränderungen in der Raum- und Stadtentwicklung sowie im Verkehrssystem haben das Potential, die Gesundheit zu verbessern oder zu schädigen [1]. Einerseits stellt das Verkehrssystem den Zugang zu Arbeitsmöglichkeiten, Bildung, Dienstleistungen, Freizeitangeboten und sozialer Teilhabe sicher. Andererseits hat das Verkehrssystem nach wie vor vielfältige negative Einflüsse auf Umwelt, Gesundheit und Wohlbefinden. Mobilität bietet aber eine nachhaltige und einfache Möglichkeit für körperliche Aktivität, insbesondere durch zu-Fuß-Gehen und Fahrradfahren. Dadurch trägt das Verkehrssystem wesentlich zu Selbstbestimmung und ökonomischer Entwicklung bei. Dieser Beitrag soll die Bedeutung des Verkehrssystems für Umwelt und Gesundheit sowie wesentliche Entwicklungslinien und Akteure aufzeigen, Lösungsansätze für bestehende Probleme benennen und konkrete Folgerungen und Empfehlungen formulieren.

Schlüsselkonzepte

Zunächst werden einige Schlüsselkonzepte dieses Themenfeldes sowie Einflüsse des Verkehrssystems auf Umwelt und Gesundheit vorgestellt.

Verkehrsarten und modaler Mix

Die Verkehrsinfrastrukturen sowie die vorhandenen Mobilitätsangebote beeinflussen in hohem Maße die Nutzungsanteile der unterschiedlichen Verkehrsarten (Modal Split) und damit auch das Ausmaß an positiven und negativen Auswirkungen für die Gesellschaft und das Individuum.

Beim Personentransport beträgt der Anteil des motorisierten Individualverkehrs in der EU ca. 83% und der Anteil des öffentlichen Verkehrs ca. 17% [2]. Der Anteil der aktiven Mobilität (zu-Fuß-Gehen und Fahrradfahren) wird trotz seiner Bedeutung für nachhaltige und gesunde Mobilität in Mobilitätserhebungen oft nur unzureichend dokumentiert. Die Variation dieser Anteile kann unterschiedliche Gründe haben, verweist aber auch auf den Einfluss verkehrs- und raumplanerischer Entscheidungen. Das Potential zur Steigerung der „aktiven“ Verkehrsträger wird auch daraus deutlich, dass beispielsweise in der Schweiz rund 10% der mit dem Auto zurück gelegten Wege nicht länger als 1 Kilometer sind, und rund ein Drittel nicht länger als 3 Kilometer; also Distanzen, die sich in vielen Fällen zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurücklegen lassen [3]. Dies hat sich seit Jahrzehnten kaum verändert und wird sich durch flexible Mobilitätsformen und -angeboten wie z. B. E-Scooter-Sharing oder On-Demand Shuttles auch in Zukunft ohne proaktive Steuerung und Maßnahmen kaum ändern.

In den letzten 20 Jahren hat sich bezüglich des Modal Splits auch in Deutschland wenig geändert; die habitualisierten Verhaltensmuster wurden bisher kaum in Richtung aktiver Mobilität aufgebrochen. So werden im Durchschnitt ca. 30% aller Wege zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurückgelegt [4]. Der Anteil aktiver Wege variiert jedoch in Abhängigkeit der Stadt- und Infrastrukturen in Deutschland. So werden in den „Hochburgen“ Freiburg und Münster mehr als 60% der Wege aktiv zu Fuß oder mit dem Rad zurückgelegt, während in den eher autoorientierten Städten Essen oder Dortmund der Anteil aktiver Wege nur zwischen 20% und 30% liegt. Dies ist auf unterschiedliche geografische und städtebauliche Rahmenbedingungen sowie das vorhandene Verkehrsangebot, aber auch auf eine unterschiedliche Mobilitätskultur (Politik, Kommune, Zivilgesellschaft) zurückzuführen.


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Einflüsse auf Umwelt, Gesundheit und Wohlbefinden

Zur Abschätzung der Langzeitwirkungen der Luftbelastung auf die Gesundheit der (Stadt-)Bevölkerung wird meist Feinstaub (particulate matter) verwendet, gemessen oder modelliert als PM10 oder PM2.5, also Partikel mit einem Durchmesser von 10 bzw. 2,5 μm oder weniger. Für kurzzeitige Wirkungen, vor allem in Stadtrandgebieten, ist zudem Ozon von Bedeutung, welches aus Vorläuferstoffen u. a. aus Verkehrsemissionen entsteht. Die Luftbelastung ist eine bedeutende Ursache von vorzeitiger Sterblichkeit und einer Reihe von Krankheiten [1] [5] [6]; sie schädigt zudem Ökosysteme, Lebensqualität und landwirtschaftlich genutzten Boden.

Auch die schädlichen Auswirkungen von Verkehrslärm sind schon lange bekannt, darunter Stressreaktionen, Schlafstörungen, kardiovaskuläre Krankheiten und reduziertes Wohlbefinden [1]. In der Europäischen Region werden zudem jedes Jahr 4.6 Mio. Menschen bei Verkehrsunfällen verletzt, über 100.000 sterben [1]. Hier ist jedoch von einer relativ hohen Dunkelziffer auszugehen, insbesondere bei den mittelschweren bis leichten Fuß- und Fahrradunfällen ohne Arztbesuche [7]. Detaillierte lokale Analysen des verkehrsbezogenen Unfallgeschehens sind möglich [8], werden aber bisher selten durchgeführt.

Sozial oder ökonomisch benachteiligte Bevölkerungsgruppen sind besonders auf einen gleichberechtigten Zugang zu Mobilität angewiesen. Ohne günstigen öffentlichen Verkehr wird der Zugang zu Arbeitsmöglichkeiten zusätzlich erschwert. Auch bei der voraussichtlich zunehmenden Elektromobilität wird eine mögliche Verschiebung durch differenzierte Kostenstrukturen von Anschaffungskosten sowie Betriebskosten von eigenen vs. öffentlichen Ladepunkten eine Rolle beim Zugang für verschiedene Bevölkerungsgruppen spielen. Gesundheitliche Chancengleichheit und Umweltgerechtigkeit hängen hier eng zusammen. Bei älteren Menschen kann eingeschränkte Mobilität zudem zu sozialer Isolation und Einsamkeit und damit zu negativen Gesundheitswirkungen führen [9].

Bewegungsmangel ist eine wichtige Ursache vieler nichtübertragbarer Krankheiten wie Diabetes Typ2 oder Herzkreislaufkrankheiten, welche zu erheblichen Gesundheitskosten führen [10] [11]. Zunehmend ist anerkannt, dass Bewegung nicht nur als sportliche Betätigung, sondern gerade auch als integrierte Bewegung im Alltag für alle Gruppen der Bevölkerung zu fördern ist. Fahrradfahren und zu-Fuß-Gehen sind Bewegungsformen, die für viele Bevölkerungsgruppen umsetzbar sind, wenn das gebaute Umfeld dazu die geeigneten Bedingungen bietet. Allerdings benötigen die beiden Bewegungsformen oft unterschiedliche Infrastruktur, und sogenannte „Mischflächen“ führen oft zu Konflikten [12].

Das Ausmaß der positiven Gesundheits- und Umweltwirkungen von aktiver Mobilität wurde lange unterschätzt [13]. Wanner et al. fassten 2012 erstmals Evidenz zusammen, dass aktiver Transport mit mehr Bewegung sowie einem geringeren Körpergewicht assoziiert ist. Diese Beobachtung wurde im Rahmen einer longitudinalen Analyse bestätigt [14]. Die oft angeführte Befürchtung, dass die Luftbelastung die positiven Effekte der aktiven Mobilität zunichtemachen würde, konnte widerlegt werden [15].

Der motorisierte Straßenverkehr ist einer der bedeutendsten Verursacher von Treibhausgasen. Die Mengen werden einerseits durch die zurückgelegten Fahrzeugkilometer und andererseits durch die Energie(in)effizienz der motorisierten Fahrzeuge beeinflusst. Zwischen 1990 und 2018 nahmen die Treibhausgasemissionen praktisch überall zu, in der EU um 20% [1]. Dabei haben die Transportvolumina stets mehr zugenommen als Energieeffizienzgewinne wettmachen konnten (Reboundeffekte).

Eine kürzlich erschienene Übersichtsarbeit identifiziert 14 verschiedene Pfade für die Auswirkung persönlicher und gesellschaftlicher Mobilitätsentscheidungen auf die Gesundheit [16]. Dazu gehören bspw. Situationen, in denen Mobilität als Mittel für soziale Teilhabe, Bewegung oder als Zugang zu Dienstleistungen genutzt wird, oder in denen ein Risiko für Verkehrsunfälle oder erhöhte Lärmexposition besteht.


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Entwicklungslinien

Der gesamte Verkehrssektor unterliegt einem laufenden Wandel, wobei sich technologische Entwicklungen, veränderte Präferenzen und wachsende Erwartungen an Umwelt- und Gesundheitsverträglichkeit überlagern. Zunächst seien die Entwicklungen in vier Belastungsbereiche betrachtet:

  • Im Bereich der Verkehrsunfälle ist einigen Ländern wie Deutschland, Frankreich, den Niederlanden und Schweden eine deutliche Reduktion gelungen [9]. Dies wurde durch die Übernahme der in Schweden entwickelten „Vision Zero“ von möglichst wenig Verkehrsunfallopfern erreicht, indem fortlaufend Maßnahmen wie z. B. Geschwindigkeitsreduktionen umgesetzt und eine striktere Anwendung der Verkehrssicherheitsgesetzgebung durchgesetzt wurde [17]. Dennoch ist das weltweit für 2020 verabschiedete Ziel der Halbierung der Anzahl von Verkehrstoten weiterhin nicht in Sicht [1], und im Rahmen der UN-Nachhaltigkeitsziele wurde ein neues Ziel einer 50%-igen Reduktion bis 2030 verabschiedet [18].

  • Die Emission von Luftschadstoffen ist vor allem dank technischer Entwicklungen seit längerem rückläufig [1]. Dennoch lag die Belastung beispielsweise durch Feinstaub (PM2.5) 2018 bei 74% der städtischen Bevölkerung der EU über dem von der WHO empfohlenen Grenzwert [1]. Zur Abschätzung gesundheitlicher Auswirkungen von Luftverschmutzung dienen quantitative Modellierungen. Die sogenannte Modellierungskaskade geht vom Mobilitätsverhalten der Bevölkerung aus und schließt Verkehrs-, Emissions- und Dispersionsmodelle ein [19] [20]. Wenn eine ausreichende Datenbasis zur Verfügung steht, ist Mikrosimulation mit hoher zeitlicher (Sekundenbereich) und räumlicher (einige 10 Meter) Auflösung möglich, so dass sich die Wirkung von Interventionen detailliert abschätzen lässt. Wie jedoch das Beispiel deutscher Autoproduzenten belegt, ist beim Gebrauch von Herstellerdaten für Modellrechnungen Vorsicht geboten [21]; in der als „Dieselgate“ bekannt gewordenen Situation hatten technische Manipulationen zu einer gravierenden Unterschätzung der von Dieselfahrzeugen emittierten Abgase geführt.

  • Bei der Lärmbelastung wird wegen einer voraussichtlichen Zunahme der Mobilität und der in Städten lebenden Bevölkerung von einer weiteren Zunahme ausgegangen [1]. Wissenschaftlich untermauerte WHO-Leitlinien [22] [23] sollen zum Schutz vor Umgebungslärm beitragen. Inzwischen wird die akustische Kulisse in der Stadt auch mit Blick auf eher positiv empfundene Geräusche untersucht, bspw. Vogelsang, Wehen des Windes und fließendes Wasser; möglicherweise kann solche Soundscape Ecology zur gesundheitsförderlichen Stadt- und Mobilitätsgestaltung beitragen [24].

  • Obwohl in Deutschland weiterhin neue Flächen für Siedlungs- und Verkehrszwecke in Anspruch genommen werden, ist die Inanspruchnahme neuer Flächen seit 2000 erheblich zurückgegangen [25]. Zudem wurden im Rahmen der Nationalen Nachhaltigkeitsstrategie in Deutschland das Ziel vorgegeben, den täglichen Zuwachs der Siedlungs- und Verkehrsfläche bis zum Jahr 2030 auf weniger als 30 Hektar zu begrenzen.

Aus der Perspektive von Gesundheit und Umwelt verdienen u. a. die beiden folgenden Entwicklungen besondere Aufmerksamkeit:

  • Kombinierte Nutzungen mehrerer Verkehrsmittel im Verlauf eines Weges (Intermodalität) sowie die Nutzung unterschiedlicher modaler Mobilitätsformen (Multimodalität) werden zu wichtigen Strategien, um Mobilität stadtverträglicher und nachhaltiger zu machen. Sie können zu einer neuen „Konjunktur“ von Fuß- und Radverkehr in der Stadtverkehrspolitik führen. So wurden im Rahmen des Nationalen Radverkehrsplans (NRVP) 2020 sieben „Stiftungsprofessuren Radverkehr“ vom BMVI eingerichtet, um nachhaltige Mobilität und Verkehrssicherheitsthemen zu fördern.

  • Die Elektromobilität erlebt gegenwärtig einen großen Aufschwung. Dies hat erwünschte positive Auswirkungen auf die Emission schädlicher Klimagase und könnte auch aus wirtschaftlicher Sicht attraktiv sein. Gleichzeitig sind mögliche negative Auswirkungen durch Energieverbrauch und Batterieherstellung zu beachten [1]. Außerdem ist der Zugang zu Lademöglichkeiten in hoch verdichten Räumen weiter ungleich verteilt und es handelt sich weiterhin um Autoverkehr im städtischen Raum, samt Lärmbelastung, stofflichen Emissionen (zumindest durch Reifenabrieb), Verletzungsrisken und Verdrängungspotenzial für gesundheits- und umweltfreundlichere Fortbewegungsarten.

Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen verdienen Bevölkerungsgruppen mit eingeschränkten Mobilitätsmöglichkeiten und spezifischen Mobilitätsbedarfen, darunter Kinder, Ältere [26] sowie alle Menschen mit physischen oder mentalen Beeinträchtigungen, eine besondere Aufmerksamkeit. Personen mit funktionalen Beeinträchtigungen halten sich überwiegend im Stadtteil oder zuhause auf, was die Möglichkeit unabhängiger Lebensgestaltung einschränkt [27].

Im Jahr 2020 zeigte der in vielen Ländern umgesetzte Corona-Lockdown, dass sich die urbane Mobilität schnell neue Wege sucht: so entstanden beispielsweise sogenannte „pop-up Fahrradwege“, und der öffentliche Straßenraum wurde vielerorts von den Bürger:innen zurückerobert, beispielsweise in Berlin, Wien, Mailand oder Brüssel. Die gesundheitsförderliche aktive Mobilität hat dadurch oft einen großen Zulauf erhalten. Die Frage ist, ob diese Veränderungen Bestand haben werden oder ob die meisten Menschen nach der Aufhebung der Corona-Beschränkungen wieder in die alten Mobilitätsmuster zurückfallen. Dies scheint beispielsweise in der Schweiz der Fall zu sein, wo 2020 deutlich mehr Fahrrad gefahren wurde, dies nach der Aufhebung der Beschränkungen aber weitgehend auf das vorherige Niveau zurückging. Nur eine Abnahme der Nutzung des öffentlichen Verkehrs scheint Bestand zu haben [28]. Aber nicht nur Corona hat unsere physische Mobilität verändert, sondern auch gestiegene Kosten, neue Preismodelle im öffentlichen Nahverkehr (z. B. „Deutschlandticket“), flexible Mobilitätsangebote sowie neue Arbeitsmodelle führen zu rejustierten Mobilitätsmustern und einer veränderten Multioptionalität bei der Verkehrsmittwahl. So zeigt sich, dass bislang die individuelle Verkehrsleistung sich leicht unter dem Vor-Corona Niveau einpendelt und der Umweltverbund Marktanteile gewinnen kann – besonders bei kurzen Distanzen im nahräumlichen Umfeld wird vermehrt zu Fuß gegangen oder das Rad genutzt und die Nutzung des privaten Pkws geht moderat zurück [29] [30].


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Akteure und Lösungsansätze

Dieses (wie dargestellt) vielschichtige Thema «Mobilität und Gesundheit» ist inzwischen in Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft umfangreich vertreten; hier liegt eine der zentralen Aufgaben der nächsten Jahrzehnte. Neben der UN, WHO und EU sind hier Ministerien des Bundes und der Länder mit entsprechenden Strategien sowie die Landesprogramme mit Schwerpunkten zur Verkehrs- und Mobilitätswende aktiv. Auch Verkehrsunternehmen, Wohnungsbaugenossenschaften und Initiativen sind wichtige Impulsgeber.

Die Weltgesundheitsorganisation propagiert beharrlich eine integrierte Vorgehensweise in der Verkehrs- und Städteplanung, um den sozialen, gesundheitlichen und nachhaltigkeitsbezogenen Aspekten gleichzeitig stärker Rechnung zu tragen und Zielkonflikte konstruktiv anzugehen. Insbesondere das Pan-European Programme for Transport, Environment and Health (THE PEP) hat sich diesem Ziel verschrieben [31]. Das Programm wird gemeinsam vom WHO Regionalbüro Europa und der United Nations Economic Commission for Europe (UNECE) geleitet und bringt die Ministerien für Transport, Umwelt und Gesundheit regelmässig zusammen, um Arbeitsschwerpunkte zu definieren. Der jüngste Meilenstein des THE PEP war die Verabschiedung eines Europäischen Masterplans Fahrrad [32], mit dem das Ziel gesetzt wurde, bis 2030 den Anteil des Fahrradverkehrs in der Europäischen WHO-Region zu verdoppeln, indem geeignete Infrastruktur zu Verfügung gestellt und die Verkehrssicherheit verbessert sowie nationale Aktionspläne geschaffen und in Kooperation mit dem Gesundheits- und Raumplanungsbereich umgesetzt werden.

Auch in der neuen Leipzig-Charta (2020) „Die transformative Kraft der Städte für das Gemeinwohl“ [33] sind gesunde Lebensräume ein zentraler Aspekt bei der Gestaltung nachhaltiger und sicherer öffentlicher Räume. Durch eine ausgewogene Funktions- und Nutzungsmischung (kompakte Stadt) sowie eine hochwertige Stadtplanung mit modernen Infrastrukturen (gute Walk-/Bikeabilty) entsteht ein gesundes Stadtklima. – Bemerkenswerter Weise stand bereits 2014 der Verkehrsaktionsplan der Stadt London unter der Überschrift „Improving the health of Londoners“ und war entsprechend umfassend angelegt [34]. Der Plan wurde ab 2019 mit einem Indikatorensystem pro Quartier jährlich überprüft, wobei sich eine Zunahme der Anteile an Zufußgehen und eine leichte Zunahme beim Fahrradfahren sowie eine leichte Abnahme des Besitzes eines Pkws zeigt [35].

Die Verkehrswende in Richtung umweltschonende, gesunde und sozial gerechte Mobilität bildet eine gesellschaftliche Herausforderung, die ein inter- und transdisziplinäres Vorgehen verlangt. Partizipative und co-kreative Prozesse im Hinblick auf Mobilitätskultur und Wahrnehmungen sowie zur Bewegungsfreundlichkeit von Lebenswelten aus Sicht von Individuen, Gruppen und politischen Entscheidungsträgern sind notwendig, um Potenziale auszuloten.

Vermehrt werden nachhaltige Mobilitätspläne in den Kommunen nach dem Konzept der Sustainable Urban Mobility Plans (SUMPs) entwickelt. Hier werden gesundheitsbezogene Ziele wie Sicherheit im Straßenverkehr und Verringerung der lokalen Luftverschmutzung im Plan verankert. So lautet z. B. in Wien ein Ziel, die körperliche Aktivität der Bürger:innen zu erhöhen. Zukünftig sollen solche gesundheitsbezogenen Maßnahmen verstärkt berücksichtigt werden. Den Umstieg auf klimafreundliche Verkehrsmittel und die Stärkung der Nahmobilität unterstützen u. a. die Arbeitsgemeinschaft fußgänger- und fahrradfreundlicher Städte, der ADFC, ProBahn, Gemeinden und Kreise sowie das Zukunftsnetzwerk Mobilität in NRW.

Aktuell stellt sich auch die Frage nach der Gestaltbarkeit der „smarten“ Stadt-Zukunft. Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) sollen effizient Prozesse aus unterschiedlichen Bereichen wie Mobilität, Energie, Gesundheit oder Sicherheit vernetzen und das technologische Potenzial der „smarten“ Stadt so gestalten, dass urbane Räume der Zukunft intelligenter, ressourcenschonender und lebenswerter genutzt werden als sie es heute sind. Wie bei allen Gestaltungsprozessen ist dabei mit Konflikten zu rechnen, weil u. a. die Ausgangs- und Interessenlagen, Prioritäten und Zeithorizonte beteiligter Personen in hohem Maße variieren.

Neue subkulturelle Bewegungen wie die „Slow-Mobility-Gemeinschaft“ [36] stellen die Werte «einfach, sauber, fair» ins Zentrum. Inwiefern diese Art der Mobilität zu mehr oder weniger körperlicher Aktivität führen wird, lässt sich derzeit noch kaum abschätzen.

Die Anzahl möglicher Ansatzpunkte für eine gesundheitsfreundliche und ökologisch nachhaltige Verkehrsgestaltung ist groß. Eine in europäisch-nordamerikanischer Zusammenarbeit entstandene Synopse resümiert mehr als zwei Dutzend Interventionen in sieben Kategorien, darunter Standards für Luftqualität und Fahrzeugemissionen; Autofreiheit; Fahrzeugtechnologien (elektrisch; autonom); Stadtgestaltung (z. B. Radwegenetz); Angebot hochwertiger Grünflächen; und öffentlicher Personennahverkehr [37]; wie die Autor:innen ausführen, lassen sich durch integrierte Politikpakete die Interventionsergebnisse noch verbessern. Instruktiv ist der Vergleich konkreter Lösungsansätze wie Superblocks (Barcelona), autofreies Quartier (Vauban/Freiburg) und 15-Minuten-Stadt (Paris) [38].

Als Beispiel eines bereits vielfach verwendeten Werkzeugs ist das Health Economic Assessment Tool (HEAT) der Weltgesundheitsorganisation zu nennen. HEAT wurde für Verkehrsplaner:innen entworfen, um eine gesundheitsökonomische Einschätzung des zu Fuß-Gehens und Fahrradfahrens zu ermöglichen und die Ergebnisse in Kosten-Nutzen-Bewertungen von Verkehrsprojekten aufnehmen zu können. Es berücksichtigt sowohl die positiven Gesundheitseffekte der körperlichen Aktivität durch Fuß-Gehen und Fahrradfahren als auch die negativen Effekte durch die Luftbelastung und Verkehrsunfälle und erlaubt eine Abschätzung der Klimagas-Effekte durch Umsteigen von der motorisierten auf nicht-motorisierte Mobilität. Es ermöglicht durch Vorgabewerte die breite Anwendbarkeit, auch wenn nur wenige lokale Daten vorliegen [39]. HEAT wird sowohl im Verkehrsbereich als auch von der Community der öffentlichen Gesundheit breit angewendet [40].

Zudem gibt es zahlreiche Tools für Erreichbarkeits- und Qualitätsanalysen [41], um wichtige Informationen für eine nachhaltige und gesunde Planung zu erhalten. Für die Anpassung und Weiterentwicklung dieser Tools – ggf. auch mit Blick auf StadtGesundheit – wurde bei der Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (FGSV) ein Arbeitskreis Erreichbarkeitsanalyse installiert.


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Folgerungen samt Empfehlungen in vier Richtungen

Eine grundsätzliche Mobilitätswende stellt einen wesentlichen Baustein für nachhaltige und gesunde Städte dar. Es geht um eine Neuaufteilung des öffentlichen Raums und der Verkehrsräume, um nachhaltigen Formen städtischer Mobilität mehr Raum einzuräumen, aktive Formen der Mobilität zu fördern und auch anderen Nutzungen für Bewegung und Begegnung Fläche zu geben. Verkehrsplanung und Stadtgestaltung müssen dabei eng zusammenarbeiten.

Im Sinne von Health in all Policies sollten bestehende Instrumente der räumlichen Planung um den Aspekt Gesundheit erweitert werden. Hierzu gehören insbesondere Themen wie z. B. Qualität des Wohnumfelds, grüne Infrastrukturen, Mobilität im Alltag, Stadt der kurzen Wege und lokale Dienstleistungen, Gesundheitsdienste, behindertengerechter Zugang zu Gebäuden wie auch Wärmeinseln und Hitzestress.

Empfehlungen für die Wissenschaft inkl. Forschungsbedarf

  1. Aufbereitung der Evidenz zum Zusammenhang zwischen der gebauten Umwelt und aktiver Mobilität, zu nachhaltigen Mobilitätskonzepten und innovativen Verkehrsangeboten („Was wirkt, unter welchen Bedingungen?“). Hierzu ist eine interdisziplinäre empirische Untersuchung des Mobilitätsverhaltens notwendig, um kleinräumige Analysen zu ermöglichen.

  2. Beschreibung von Indikatoren bzw. Umgebungsvariablen für eine bewegungs- und gesundheitsförderliche Kommune: Entwicklung eines Repertoires räumlicher, funktionaler, gestalterischer und umgebungsspezifischer Indikatoren im Wohnumfeld zur Beschreibung von aktiver (täglicher) Mobilität, Erreichbarkeiten, Wohnumfeld, grünen Infrastrukturen, lokalen Dienstleistungen, Gesundheitsdiensten, Wohlbefinden und wahrgenommener Sicherheit. Diese Indikatoren sollten für integratives Monitoring in der Planung gesunder Städte eingesetzt werden. Auch das Policy-Umfeld für zu-Fuß-Gehen und Fahrradfahren sollte bspw. durch einen Cycling and Walking Policy Environment Score [42] wissenschaftlich untersucht werden.

  3. Langzeitstudien in konkreten räumlichen Kontexten (sog. Reallabore): Hier sollten – systematisch interdisziplinär – Daten und Informationen auch zur Mobilität gesammelt werden, um das Konzept der „gesunden und nachhaltigen Stadt/Stadtentwicklung/Stadtteile für alle“ zu verfeinern und Erkenntnisse in den Kommunen umzusetzen.


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Empfehlungen für die Praxis

  1. Eine nachhaltige und gesunde Mobilitätspolitik ist nur erreichbar, wenn für die Mobilitätsbedürfnisse aller Menschen in ihren jeweiligen Lebenswelten geeignete Alternativen zum PKW bereitstehen. Dafür muss eine nachhaltige Mobilitätskultur auf allen Ebenen (Politik, Kommune, Zivilgesellschaft) unterstützt werden. Zudem ist ein effektives Monitoring mit entsprechenden Indikatoren zu installieren, um frühzeitig erwünschte und unerwünschte Effekte abzubilden.

  2. Beteiligung und Aktivierung der Bevölkerung sind als wesentliche Elemente kommunaler Politik zu betrachten, um das Ziel aktiver Mobilität unter dem Aspekt der Chancengleichheit und Umweltgerechtigkeit zu verfolgen. Zunächst gilt es, ein Verständnis zu wecken, welches Gesundheitspotenzial in aktiven Mobilitätsformen steckt. Dabei sollen auch Inklusionsaspekte samt Barrierefreiheit Berücksichtigung finden, denn die aktive Mobilität wird von sozialen und ökonomischen Merkmalen sowie kulturellen und körperlichen Determinanten mitbestimmt.

  3. Der Ansatz Health in all Policies sollte sich als ein Leitgedanke durch die kommunale Politik ziehen – u. a. in den Themenbereichen Mobilität und Stadtgestaltung [43]. Die durch das Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention (Präventionsgesetz – PrävG) gebotenen Möglichkeiten sollten umfassend genutzt werden.

  4. “Beispiele guter Praxis“ sollten als Leitfaden dienen, um proaktive Anpassungsstrategien abzuleiten. Auf dieser Grundlage lassen sich im Dialog mit Fachplaner:innen und Akteur:innen vor Ort (sogenannter „Co-Creation“-Ansatz) Maßnahmen zur Transformation der Stadt- und Mobilitätsinfrastruktur priorisieren.

  5. Um Stadt- und Raumplanungsansätze bewegungs- und gesundheitsförderlich zu gestalten, sollten Walk-Bike-Audits, Policy-Audits oder andere Formen von Folgenabschätzung (Impact Assessment) zum Einsatz kommen.

  6. Um Stadtteile aufzuwerten für Naherholung und Freizeit, sollten “Premiumachsen“ der Nahmobilität (einschließlich zu-Fuß-Gehen und Radfahren) eingeführt werden, welche die Abhängigkeit vom Wetter reduzieren und durch neue Standards wie Mindestbreiten neue Qualitäten schaffen.

  7. Das Potenzial spielerischer Anreizsysteme (Gamification-Elemente) für die Förderung nachhaltiger und gesunder Mobilität sollte erprobt werden. Durch Einsatz intelligenter Geräte und Apps könnten für fußläufige Verbindungen zwischen zwei Punkten neben kürzesten Wegen auch besonders gehfreundliche oder attraktive Alternativen [44] angeboten werden [45].

  8. Mit Blick auf Infektionsrisiken wie bspw. durch SARS-CoV-2 sollten kombinierte Homeoffice-Angebote und nachfrageorientierte ÖPNV-Konzepte vorangetrieben werden.

  9. Angesichts zukünftig vermehrter hybrider und virtueller Arbeitsmodelle müssen reale Interaktions- und Bewegungsräume – auch in der Nähe von Co-working-spaces – geschaffen werden, um aktive Mobilität und Bewegung trotz Homeoffice zu fördern.


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Empfehlungen für Aus- und Fortbildung

  1. Aspekte von Gesundheitsschutz und Gesundheitsförderung sollten in allen einschlägigen Aus- und Fortbildungsgängen samt ihren Akkreditierungsprozeduren berücksichtigt werden. Jede Verkehrs- und Stadtplaner:in muss im Rahmen der Qualifikation für Nachhaltigkeit und Gesundheitsbelange sensibilisiert werden.

  2. Die z. B. vom TÜV angebotene Zusatzqualifikation für betriebliches Mobilitätsmanagement muss um Aspekte wie aktive Mobilität sowie Schutz und Förderung von Gesundheit erweitert werden.

  3. Wissen über Nachhaltigkeit, StadtGesundheit und Mobilität sollte in den Schulen in Projektwochen integriert werden.


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Empfehlungen für Förderprogramm und Konferenzserie „Stadt der Zukunft“

Das Förderprogramm und die Konferenzserie „Stadt der Zukunft“, die in Deutschland im vergangenen Jahrzehnt bereits inter- und transdisziplinäre Kooperationen im Themenfeld „Mobilität und Gesundheit“ angestoßen haben, sollten diese Thematik weiterhin behandeln. Ein wichtiger Anspruch sollte die Verstetigung angestoßener Prozesse auch nach Abschluss geförderter Projekte in den beteiligten Städten sein.


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Fazit

Ob Menschen sich in ihrem Alltag für ein bestimmtes Verkehrsmittel (inklusive des Zu-Fuß-Gehens) entscheiden, inwiefern sie überhaupt (aktiv)mobil sind und das Haus oder die Wohnung verlassen und dabei ihre gewöhnlichen Mobilitätsmuster ändern, hängt von einem Bündel von Einflussfaktoren ab; dazu gehören die Infrastruktur (z. B. Radwege), die gebaute Umwelt (z. B. Gehfreundlichkeit/walkability), das vorhandene (öffentliche) Verkehrsangebot und dessen Qualität und Sicherheit sowie persönliche Einstellungen, Normen und Möglichkeiten. Die Stadtverkehrspolitik kann Rahmenbedingungen für ein attraktives bewegungsförderndes und gesundes Umfeld schaffen, welches eine nachhaltige und gesundheitsfördernde Mobilität aller Menschen unterstützt.


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Fördermittel

Fritz und Hildegard Berg-Stiftung, Deutsches Stiftungszentrum (Essen). – We acknowledge support for the publication costs by the Open Access Publication Fund of Bielefeld University and the Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG).


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Interessenkonflikt

Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Danksagung

Die Autor:innen danken K. Marquart, S. Gatting und S. Ritzinger (Bielefeld) für umfangreiche Literaturrecherchen sowie U. Dapp (Hamburg), M. Reyer (Stuttgart) und W. Schlicht (Stuttgart) für die erhaltenen Anregungen zu einer Vorfassung des Papieres.


Korrespondenzadresse

Prof. Sonja Kahlmeier
Fernfachhochschule Schweiz, Departement Gesundheit, Campus Zürich
8004 Zürich
Switzerland   

Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
16. November 2023

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