PSYCH up2date 2023; 17(06): 461-462
DOI: 10.1055/a-2166-5400
Editorial

„Fixiert und ruhiggestellt?“ – das Bild der Psychiatrie in der Presse

Andreas J. Fallgatter

In den Tageszeitungen der Südwestpresse erschien am 30.08.2023 ein ganzseitiger Artikel mit der Überschrift „Fixiert und ruhiggestellt“ und einer Großaufnahme einer fixierten Hand, der mich sehr beschäftigt hat. Aus Anlass der Diskussion um die UN-Behindertenrechtskonvention wird in diesem Artikel „Die Psychiatrie“ als ein Ort dargestellt, in dem man als Patient ungerechtfertigten Zwangsmaßnahmen ausgesetzt, mit Medikamenten „ruhiggestellt“ und nicht als Mensch, sondern nur als „Verrückter“ behandelt wird. Dies mag einem Bild der Verwahrpsychiatrie aus dem vorletzten Jahrhundert entsprechen, hat aber wenig bis gar nichts mit einer modernen Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie zu tun. Die vielfältigen, von einem multiprofessionellen Team angebotenen psychotherapeutischen, pharmakologischen, biologischen, sozialpsychiatrischen und Ko-therapeutischen Behandlungsangebote werden gar nicht erwähnt. Die Tatsache, dass sich ca. 95% der Patienten in Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie ohne Zwangsmaßnahmen freiwillig behandeln lassen, und die mindestens auf dem Niveau anderer nicht-operativer Fachgebiete der Medizin liegenden Behandlungserfolge werden verschwiegen. Der ganze Artikel wird lediglich durch einen Fallbericht einer Patientin belegt, ist aber sonst völlig faktenfrei und durchsetzt mit Vorurteilen.

Eine solche Darstellung „der Psychiatrie“ ist meiner Meinung nach gefährlich für viele Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen, die im ambulanten Setting nicht ausreichend behandelt werden können, aber von einer stationär-psychiatrischen Therapie profitieren würden. Viele solcher schwer kranken Menschen werden nach dem Lesen derartiger Berichterstattungen nicht den Weg in eine dringend benötigte Klinik finden. Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen (insbesondere Depressionen, Schizophrenien, Suchterkrankungen, Persönlichkeitsstörungen, Essstörungen, Zwangsstörungen, Demenzen) haben eine hohe Suizidrate von bis zu 15% und auch auf somatischem Gebiet gegenüber der Allgemeinbevölkerung eine stark erhöhte Mortalität, so dass eine nicht stattfindende stationär-psychiatrische Behandlung viel vermeidbares Leid verursacht und auch Menschenleben kostet.

Eine derart negative Sichtweise „der Psychiatrie“ ist darüber hinaus eine Missachtung der Arbeit unserer multiprofessionellen Mitarbeitenden in allen Berufsgruppen (Ärzte, Psychologen, Pflegende, Ergo-, Bewegungs-, Kunst- und Musiktherapeuten sowie Sozialarbeiter), die sich unter oft sehr schwierigen Bedingungen äußerst engagiert um einen Beziehungsaufbau zu unseren Patienten auf Augenhöhe unter bestmöglicher Achtung der Autonomie der Betroffenen, um partizipative Entscheidungsfindung in allen diagnostischen und therapeutischen Fragen und um die Reduktion von Zwangsmaßnahmen auf das absolute Mindestmaß bemühen. Eine solche Berichterstattung trifft leider in immer noch weitverbreiteten Vorurteilen in breiten Schichten der Bevölkerung auf einen fruchtbaren Nährboden und macht jahrzehntelange Arbeit zur Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen zunichte.

Am Beispiel der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Tübingen lässt sich belegen, dass nur ca. 2–5% der stationär behandelten Patienten von Zwangsmaßnahmen betroffen sind. Dabei handelt es sich meist um richterliche Unterbringungen nach dem Psychisch-Kranken-Hilfegesetz oder nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch, sehr viel seltener um (möglichst kurzzeitige) Fixierungen bei Patienten mit schweren, anders nicht beherrschbaren Erregungszuständen im Rahmen von schweren Intoxikationen bei Suchterkrankungen oder wahnhaft-halluzinatorischem Erleben mit Fremdgefährdung bei schizophrenen Psychosen oder schwerem fremdaggressivem Verhalten bei Demenzerkrankungen. Jede Zwangsmaßnahme wird nach festgelegten Vorgehensweisen entsprechend dem Baden-Württembergischen Psychisch-Kranken-Hilfegesetz ärztlich angeordnet, ausführlich dokumentiert und zeitnah bzw. schon im Vorfeld von einem Richter überprüft und nach Besserung des Akutzustandes mit den Patienten nachbesprochen. Aufgrund dieser Dokumentation der von uns angewendeten Zwangsmaßnahmen konnten wir zeigen, dass alle Zwangsmaßnahmen im Zeitraum von 2011–2015 um bis zu 80% gegenüber den fünf Jahren zuvor reduziert werden konnten [1]. Alle Mitarbeitenden werden regelmäßig in deeskalativem Verhalten geschult, um möglichst wenig Zwangsmaßnahmen anwenden zu müssen. Das Vorgehen ist auch in allen anderen psychiatrischen Kliniken bundesweit vergleichbar, ein Fallregister über die Zwangsmaßnahmen nach dem Baden-Württembergischen Psychisch-Kranken-Hilfegesetz wird jährlich aktualisiert.

Die oben genannten Behandlungsbeispiele verdeutlichen, dass eine vollkommen zwangsmaßnahmen-freie Psychiatrie leider nur eine sozialromantische Illusion, aber in der Praxis einer Klinik mit regionalem Versorgungsauftrag nicht möglich ist. Eine zwangsmaßnahmenfreie Psychiatrie würde sich nur auf die Menschen beschränken, die freiwillig eine Behandlung suchen, aber gerade diejenigen schwer Erkrankten, die krankheitsbedingt keine Einsichtsfähigkeit in eine Behandlungsnotwendigkeit haben, sich selbst überlassen mit allen negativen Folgen (z.B. schwere Selbstverletzungen, Zunahme der Suizide, mehr Gewalt gegen andere, Gefängnisaufenthalte statt Behandlung). Dadurch würde das Arbeiten für unsere Mitarbeitenden zwar viel angenehmer und stressfreier, aber das wäre bei Bilanzierung aller Folgen keine menschenwürdige Psychiatrie, sondern durch Missachtung aller negativen Konsequenzen für die betroffenen Menschen, deren Angehörigen und andere Personen vielmehr eine menschenverachtende Vorgehensweise.

Ebenso wie andere Chefärzte von Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie in Baden-Württemberg habe auch ich im konkreten Fall einen Protestbrief an die Redaktion der Südwestpresse geschrieben und eine Gegendarstellung gefordert. Dieses Beispiel eines, bei allem Respekt für die Pressefreiheit, gefährlichen Journalismus möchte ich zum Anlass nehmen, auch andere Kolleg*innen zu Gegendarstellungen und Protestbriefen aufzufordern, wenn unser Fach in der Presse in unzutreffender Weise und zum Schaden unserer Patienten so negativ dargestellt wird.



Publication History

Article published online:
03 November 2023

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