Homo homini lupus – der Mensch ist dem Menschen ein Wolf:
diese die menschliche Natur beklagende Feststellung aus einer antiken
Tragödie nimmt Thomas Hobbes zum Anknüpfungspunkt seiner
staatstheoretischen Überlegungen, welche in einem hypothetischen
Gesellschaftsvertrag ein staatliches Gewaltmonopol rechtfertigen, um die Menschen
voreinander zu schützen. Allerdings lohnt auch hier ein genauerer Blick
– im Originalzitat des Plautus heißt es bereits
einschränkend: „Denn der Mensch ist dem Menschen ein Wolf, kein
Mensch. Das gilt zum mindesten solange, als man sich nicht
kennt.“
[1]. Und auch das Hobbesche
Zitat ist dem Kontext eines Briefes an einen Förderer entlehnt und
unterscheidet zwischen dem sozial hochstehenden menschlichen Verhalten der
Bürger innerhalb einer Gesellschaft und dem verdorbenen Verhalten zwischen
Staaten bzw. Potentaten: „Nun sind sicher beide Sätze wahr: Der
Mensch ist ein Gott für den Menschen, und: Der Mensch ist ein
Wolf für den Menschen; jener, wenn man die Bürger
untereinander, dieser, wenn man die Staaten untereinander vergleicht. Dort
nähert man sich durch Gerechtigkeit, Liebe und alle Tugenden des Friedens
der Ähnlichkeit mit Gott; hier müssen selbst die Guten bei der
Verdorbenheit der Schlechten ihres Schutzes wegen die kriegerischen Tugenden, die
Gewalt und die List, d. h. die Raubsucht der wilden Tiere, zu Hilfe
nehmen.“ [2]. In einem modernen Staats-,
Menschen- und Geschichtsverständnis lässt sich diese allgemein
formulierte Klage mühelos fortschreiben, dezidiert bis in die Gegenwart und
ihre mörderischen Kriege, dem Himmel sei diese offenkundige „Schimpf
und Schande“ unserer Spezies Mensch geklagt.
Ein Thema auch für das Gesundheitswesen? Wohl schon. Durch die Jahrhunderte
umfassen die „Tugenden des Friedens“ insbesondere auch die
gesundheitlichen Belange: Als Familienhilfe, Almosen und Samaritertugend wohl zu
allen Zeiten und in allen Kulturen, nördlich der Alpen dann auch organisiert
in den Werken religiöser Gemeinschaften (u. a.
Heilig-Geist-Spitäler) und berufsständischer Verbindungen
(z. B. „Bergbrüderschaft“ Goslar, 1260). Dabei
stehen spätestens seit der Aufklärung zunehmend nicht nur die
medizinische Behandlung und ihre Organisation im Fokus, sondern auch die zu Grunde
liegenden, „distalen“ Determinanten von Gesundheit und Krankheit.
Johann Peter Frank, der Verfasser des mehrbändigen Werkes „System
einer vollständigen Medizinischen Polizey“, hielt 1790 seine
bekannte Rede in Pavia über das „Volkselend als der Mutter der
Krankheiten“, wohl auch wesentlich inspiriert von den aufgeklärten
Gedanken Rousseaus über gesellschaftliche Ungleichheiten. Frank
geißelt darin u. a. eine allzu hohe Arbeitsbelastung,
Mangelernährung und eine fehlende Hygiene als ursächlich, mithin
menschengemachte Einflüsse, nicht göttliches Schicksal [3].
Diese soziale Verantwortung gerade auch in der Medizin und der Organisation des
Gesundheitswesens findet sich dann auch ausgeprägt bei den führenden
Köpfen der Sozialmedizin des 19. Jahrhunderts, Salomon Neumann und Rudolf
Virchow, expliziert in dem Diktum: „Die Medicin ist eine sociale
Wissenschaft und die Politik ist weiter nichts als die Medicin im
Großen“ [4]
[5]. Die von Bismarck 1881 im Reichstag verlesene
„Kaiserliche Botschaft“ mit der Ankündigung einer
Sozialgesetzgebung, die dann unter seiner Aufsicht bis 1883 ausgearbeitet wurde,
öffnete erstmals den neuen Horizont eines Wohlfahrtsstaates: „Wir
Wilhelm, von Gottes Gnaden Deutscher Kaiser, König von Preußen
etc., thun kund und fügen hiermit zu wissen [...] daß die
Heilung der sozialen Schäden nicht ausschließlich im Wege der
Repression sozialdemokratischer Ausschreitungen, sondern
gleichmäßig auf dem der positiven Förderung des Wohles
der Arbeiter zu suchen sein werde […]“ [6]. Dieser große innerstaatliche
Fortschritt ist in Deutschland bis heute wirksam und wurde in der Sozialgesetzgebung
der Bundesrepublik beständig weiterentwickelt, einschließlich einer
Pflegeversicherung (1995) und einer allgemeinen Krankenversicherungspflicht (2009).
In anderen Ländern wurde teilweise dieses Modell des
Sozialversicherungssystems übernommen, teilweise wurden auch andere
Organisationsformen gewählt (z. B. staatliche Systeme der
Gesundheitsversorgung).
Die Klage Thomas Hobbes‘ zur wölfischen Natur – siehe oben
– galt allerdings auch und vor allem dem Verhältnis der Potentaten
und Staaten untereinander. Es war der Geschäftsmann Jean-Henri Dunant, der
mit der aufrüttelnden Schilderung des Schlachtfeldes von Solferino (1859)
und seiner spontanen Organisation von Hilfeleistungen für die Verwundeten
ohne Rücksicht auf deren Nationalität („Tutti
Fratelli“ – alle sind Brüder) humanitär
wegweisend wurde. Die in seinem Buch „Erinnerungen an
Solferino“ 1862 gemachten und von ihm aktiv verbreiteten
Vorschläge waren Grundlage für die Gründung des
Internationalen Komitees der Hilfsgesellschaften für die
Verwundetenpflege bzw. vom Roten Kreuz (1863/ 1876) sowie der
ersten Genfer Konvention (1864), mit wesentlicher Beteiligung des Juristen
Gustave Moynier. Artikel 7 dieser Konvention definierte als Schutzzeichen
für Institutionen und Personen das rote Kreuz auf weißem Grund. Mit
der Haager Konvention III wurden 1899 die Prinzipien der Genfer Konvention
auch für die Seekriegsführung übernommen. Fortlaufende
Erweiterungen dieser Abkommen erfolgten im Rahmen eines sich entwickelnden
humanitären Völkerrechts, u. a. unter Beteiligung der neuen
internationalen Organisationen von Völkerbund (1919–1946) und
Vereinten Nationen (seit 1945). Die Idee einer Staatengemeinschaft und
eines Völkerrechts war erstmals vom niederländischen Rechtsgelehrten
Hugo Grotius in Buchform formuliert worden („Über das Recht des
Kriegs und des Friedens“, Paris, 1625). Immanuel Kant griff diese
Gedanken auf und beschrieb in seinem Buch „Zum ewigen
Frieden“ (1795) eine „durchgängig friedliche
Gemeinschaft der Völker“ unter Nutzung eines Völkerrechts
und mit der Forderung nach einer freiheitlichen,
bürgerlich-repräsentativen republikanischen Staatsform mit
Gewaltenteilung. Dessen Einfluss reichte bis zu dem für eine
europäische bzw. internationale Friedensordnung impulsgebenden
„14-Punkte-Programm“ (1918) des amerikanischen
Präsidenten Woodrow Wilson. Der französische Kaufmann und
Regierungsberater Jean Monnet, wesentlicher Impulsgeber für das sich
später in einer Union einigende Europa, war bereits damals beteiligt und
fungierte als erster stellvertretender Generalsekretär des
Völkerbundes [7]. Von den Vereinten
Nationen (UN) wurde, auch unter dem Einfluss der Schrecken des Zweiten Weltkrieges,
die Idee von „Allgemeinen Menschenrechten“ aufgegriffen. Diese waren
maßgeblich im Zusammenhang mit der amerikanischen Unabhängigkeit
(Virginia Declaration of Rights, 1776) und den Idealen der Französischen
Revolution (1789) entwickelt worden. Eine „Allgemeine Erklärung
der Menschenrechte“ wurde von den Vereinten Nationen 1947
schließlich in einer international besetzten Kommission unter Leitung von
Eleanor Roosevelt vorbereitet und am 10. Dezember 1948 von der UN-Vollversammlung
als nicht rechtlich bindendes Instrument verabschiedet: Zur
„Förderung von Freiheit, Gerechtigkeit und
Frieden“ und im „Glauben an die Würde und den Wert
der menschlichen Person und an die Gleichberechtigung von Mann und
Frau“ und mit der Absicht, „den sozialen Fortschritt und
bessere Lebensbedingungen in größerer Freiheit zu
fördern“ [8].
Auch wenn für diesen globalen Fortschritt im Sinne einer friedlichen
Gemeinschaft ganz offensichtlich Vertreter verschiedenster beruflicher und
gesellschaftlicher Hintergründe aktiv waren, bleiben doch auch die
Gesundheitsthemen von hoher Bedeutung. Standen punktuell immer wieder Krieg und
Frieden und deren Auswirkungen auf die Menschen im Mittelpunkt, ergaben sich,
teilweise begleitend dazu, auch Notwendigkeiten aus anderen Menschheitskatastrophen,
insbesondere im Seuchenschutz. Die 1851 in Venedig diesbezüglich begonnenen
Internationalen Sanitätskonferenzen trugen wesentlich zur Gründung
der Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Jahr 1948 als Sonderorganisation der UN
bei. In ihrer Fortsetzung wurden unter Vermittlung der WHO 1969 die nun rechtlich
bindenden Internationalen Gesundheitsvorschriften verabschiedet, mit
Aktualisierungen 2005 und 2016 [9]. Ein weiteres
rechtlich bindendes Abkommen der WHO ist das Rahmenübereinkommen zur
Eindämmung des Tabakgebrauchs, welches 2005 in Kraft getreten ist:
Volksseuchen können in Gestalt übertragbarer oder auch
nicht-übertragbarer Krankheiten auftreten. In ihrer Verfassung benennt die
WHO die Gesundheit aller Völker als eine Grundbedingung für den
Weltfrieden, in ihrer Ottawa Charta zur Gesundheitsförderung den Frieden als
grundlegende Bedingung für Gesundheit – der Kausalzusammenhang ist
wechselseitig. Ebenfalls von dieser internationalen humanitären Bewegung
inspiriert und insbesondere auch motiviert von der Aufarbeitung einer
„Medizin ohne Menschlichkeit“ (Alexander Mitscherlich) der
nationalsozialistischen Unrechtsherrschaft in den Nürnberger Prozessen ist
die Genfer Deklaration des Weltärztebundes von 1948 und ihre
Aktualisierungen: “Als Mitglied der ärztlichen Profession gelobe
ich feierlich, mein Leben in den Dienst der Menschlichkeit zu stellen
[…]“.
Die sich daraus ergebenden Themenstellungen im Bereich der Öffentlichen
Gesundheit sind dabei nicht auf die ärztliche Expertise beschränkt
und ausgesprochen vielfältig: Sie betreffen den Gesundheitsschutz und die
Krankheitsprävention ebenso wie die Gesundheitsförderung mit ihren
vielfältigen Facetten, diverse Steuerungs-, Kontroll- und Berichtsfunktionen
und nicht zuletzt sozialmedizinische und sozialkompensatorische Funktionen, welche
das Ideal der gleichen Gesundheitschancen im Interesse einer bestmöglichen
Gesundheit für alle verfolgen [10]
[11]. Deutlich wird im 21. Jahrhundert auch, dass im
Dienst an der Öffentlichen Gesundheit neben die altbekannten
menschengemachten Herausforderungen des Volkselends neue getreten sind –
neben, nicht an deren Stelle: Die Herausforderungen von Global Health im
Sinne einer zunehmende vernetzten Menschheit und einer anzustrebenden auch
internationalen gesundheitlichen Chancengleichheit, die Herausforderungen von One
Health im Sinne einer eng vernetzten Gesundheit von Menschen, Tieren und
ihren Ökosystemen und das Thema der Planetaren Gesundheit,
exemplifiziert durch die zunehmend spürbaren Folgen des Klimawandels.
Lösungen werden sich absehbar nur in einem transdisziplinären Ansatz
verwirklichen und umsetzen lassen, welcher die Fähigkeiten und
Ansätze verschiedene Berufsgruppen und wissenschaftlicher Disziplinen
integriert und gemeinsam in gegenseitiger Wertschätzung zur Geltung
bringt.
In diesen großen Rahmen von Gesundheit mit einem humanitären Anspruch
des Helfens und Heilens sind auch die Beiträge dieser Ausgabe einzuordnen,
wenn auch „nur“ im kleineren Kontext der konkreten Fragestellungen
unseres Gesundheitswesens: Zu Einbindung und Umgang von Notfallsanitätern
bei ungeplanten außerklinischen Geburten, zur Praxis der Überwachung
der SARS-CoV-2-Teststellen im Stadtgebiet Köln, zur Genealogie von
Long-Covid als einer neuen Krankheit aus einer kultursoziologischen Perspektive, zu
Aufgabenprofilen für Pflegefachpersonen mit Bachelorabschluss in
Deutschland, zur Einschätzung der digitalen Gesundheitsversorgung aus Sicht
der Generation Y, zur navigationalen Gesundheitskompetenz der Bevölkerung in
Deutschland und zum Beitrag von Gesundheitskonferenzen und Gesundheitsregionen zur
regionalen Planung und Steuerung im Gesundheitswesen als Überblick auf Ebene
der Bundesländer.
Um am Ende noch einmal den Anfang aufzugreifen: Der Weg zum sozialen Frieden in einer
Gesellschaft wie auch zum Frieden zwischen den Völkern ist ganz
offensichtlich weit – Hippokrates‘ Aphorismus „die Kunst
ist lang, das Leben kurz“ scheint auch hier zu gelten. Er wird zudem
beharrlich immer wieder neu und wohl auch immer weitreichender begangen werden
müssen. In wieweit hier die „wölfische Natur“ des
Menschen maßgebend ist oder bleiben darf, ist eine Menschheitsfrage und
zunehmend auch eine planetare Überlebensfrage. Man sollte allerdings
hinsichtlich menschlicher Zivilisationsbrüche und Abgründe den
Wölfen, die bei allem naturgegebenem Raubtierwesen eine ausgeprägte
soziale Kompetenz haben und auch bei Streitigkeiten zwischen Rudeln über
Deeskalationsmechanismen verfügen, nicht Unrecht tun. Menschen sind in ihrer
Natur dem gegenüber durch die Freiheit der Wahl charakterisiert und einer
„wahllosen“ Verhaustierung (Konrad Lorenz) von Mensch und Natur soll
hier nicht das Wort geredet sein. Der Titel der Komödie des Plautus, dem die
Wolfsmetapher entstammt („Asinaria“), lässt sich auch gut
mit „Eseleien“ übersetzen. Gibt es auch wölfische
Metaphern mit guten Seiten? In einer den Cherokee-Indianern zugeschriebenen
Wolfsgeschichte wird mit Blick auf die menschliche Ambivalenz von einem Kampf
erzählt, der in jedem Menschen stattfindet. Dieser Kampf wird von zwei
gleichstarken Wölfen ausgetragen: Der eine steht für Zorn, Neid,
Arroganz, auch für Sorgen, Traurigkeit, Minderwertigkeitsgefühl
– kurz für das Kreisen um das eigene Ich. Der andere Wolf steht
für Freude, Liebe, Hoffnung, Heiterkeit, Demut, das Mitgefühl mit
den anderen Menschen und den Frieden für sich und die anderen. Welcher davon
gewinnt? Die Antworte des Cherokee-Großvaters an seinen Enkel ist einfach:
„Der, den Du fütterst“.