Long Covid/Post Covid (LC/PC) ist seit Beginn der Covid-19-Pandemie
eine Krankheit, die anhaltend zu zahlreichen Diskussionen Anlass gibt [1]. Obwohl mehr oder weniger identische Symptome
auch schon bei früheren Epidemien in einem ähnlichen Umfang
aufgetreten sind [2], bezweifelten viele klinisch
Tätige und politisch Verantwortliche anfänglich die Existenz von
LC/PC. Zeitgleich wurden jedoch auch die Gegenpositionen durch
Betroffeneninitiativen und durch sie angeregte Forschungsprojekte kommuniziert [3]. Heute, mehr als drei Jahre nach dem
Bekanntwerden der SARS-Cov-2-Problematik, leiden zahlreiche Menschen an den Folgen
der Infektion. Fehlende Biomarker stellen jedoch weiterhin eine Herausforderung
für das Erkennen und den Umgang mit dem potentiellen Multisystembefall dar.
Aktuelle Übersichtsarbeiten liefern Evidenzen für die Problematik,
die mit LC/PC einhergeht und den daraus ableitbaren Handlungsbedarf [4]. Das zentrale Nervensystem betreffend werden
häufig Gedächtnis- und Exekutivfunktionsstörungen,
Depressionen, Angstzustände und Unwohlsein nach Anstrengung geschildert.
Dominierende Merkmale sind häufig postexertionelle Malaise
(Belastungsintoleranz), Fatigue, ‚Brain Fog‘ (neurokognitive
Beeinträchtigungen), Schwindel sowie gastrointestinale Symptome [5]. Gemäß neueren epidemiologischen
Daten aus der Schweiz leiden 17 Prozent der im Jahr 2020 infizierten Personen noch
zwei Jahre später unter LC/PC-Symptomen [6]. Damit einher geht eine hohe Rate von Arbeitsunfähigkeiten und
eine teils erheblich verminderte Arbeitsfähigkeit [7].
In jüngerer Zeit hingegen dreht sich die Diskussion um die Frage, ob und
inwieweit psychologische Mechanismen und vorgängige psychische Probleme
für das Leiden der Betroffenen (mit)verantwortlich sind [8]. Von Betroffeneninitiativen und vereinzelt von
Forschenden werden ausschließlich die biologischen Ursachen für die
LC/PC-Symptome angenommen. Aktuell werden interessanterweise sowohl rein
biologische Mechanismen für kognitive und affektive Probleme verantwortlich
gemacht [9] wie auch die psychosomatische
Sichtweise erneut favorisiert [10].
Bis heute bleibt LC/PC daher aus wissenschaftlicher Sicht eine
‚moderne medizinische Herausforderung‘ wie es ein schon ein im Jahr
2021 erschienenes Editorial im Lancet formuliert hat [11]. Die Herausforderung besteht aus mehreren miteinander verbundenen
Themen, insbesondere der Heterogenität der Phänotypen, der Vielzahl
potentieller pathophysiologischer Mechanismen und der anhaltenden Suche nach
spezifischen Behandlungs- und Rehabilitationsprogrammen.
Eine zentrale Schwierigkeit ist das Fehlen eines Modells, das in der Lage ist, sowohl
die Vielfalt der pathophysiologischen Mechanismen als auch die Leidenserfahrung von
Betroffenen zu integrieren, ohne dass die physiologischen und psychologischen
Mechanismen im Einzelnen geklärt sind. Ein solches Modell könnte als
Grundlage für ein besseres Verständnis der Erkrankung sowie
für die Entwicklung von Behandlungs- und Unterstützungsstrategien.
Im Folgenden schlagen wir ein Modell vor, das auf neurowissenschaftlichen und
wissenschaftsphilosophischen Prinzipien basiert und versucht, die
‘Realität’ umstrittener Krankheiten zu erfassen. Wir
empfehlen, LC/PC als eine Hybriderkrankung zu betrachten, bei der
Pathophysiologie und Krankheitserfahrung nicht vollständig kausal
miteinander verbunden sind und daher auf teilweise unterschiedliche Entstehungswege
zurückzuführen sein können.
Umstrittene Erkrankungen: Philosophische und neurowissenschaftliche
Perspektiven
Umstrittene Erkrankungen: Philosophische und neurowissenschaftliche
Perspektiven
Die aktuelle Forschung zu LC/PC und die seit frühem Beginn
begleitenden Dispute über die Art der Erkrankung legen nahe, LC/PC
ähnlich einer in der Literatur als „umstrittenen Krankheit“
bezeichneten Entität zu analysieren [12].
Hauptmerkmale einer „umstrittenen Krankheit“ sind (1) eine
uneindeutige Ätiologie, (2) symptomatische Verbindungen zu anderen Diagnosen
und Begleiterkrankungen, (3) unklare Behandlungsschemata, (4) rechtliche,
medizinische und kulturelle Streitigkeiten über die Einstufung. Beispiele
für weitere umstrittene Krankheiten sind die myalgische
Enzephalomyelitis/das chronische Müdigkeitssyndrom (ME/CFS)
und die Fibromyalgie. Alle vier Merkmale korrelieren jedoch auch mit
LC/PC.
Nachfolgend werden wir uns auf das ätiologische Problem konzentrieren, da
dies für viele andere Probleme im Zusammenhang mit der Erkrankung von
entscheidender Bedeutung ist. Ein großes ätiologisches
Missverständnis über die Ursache körperlicher oder
psychischer Symptome besteht darin, dass diese unidirektional erzeugt werden.
Inzwischen liegen neurowissenschaftliche Befunde über die Interaktion
physiologischer Mechanismen, psychologischer Erfahrung und soziokultureller
Einflüsse vor [13]. Aus diesen Befunden
kann man schließen, dass die Interaktionen zwischen Gehirn und
soziokultureller Umgebung nicht nur das psychologische Symptomerlebnis beeinflussen,
sondern auch das Erleben körperlicher Erkrankungen. Interozeption wird
derzeit als bidirektionaler Mechanismus angesehen, der das Gehirn und andere
Körperorgane verbindet und zu Signalen und Interpretationen führt,
die von sozialen Faktoren geprägt sind [14]. Müdigkeit/Erschöpfung, das häufigste
Syndrom von LC/PC [15], ist ein
multifaktorielles Syndrom, das mit interozeptiven Auffälligkeiten
einhergeht, beispielsweise im Zusammenhang mit Multipler Sklerose [16]. Während Erschöpfung ein
Problem war, über das sich Menschen in verschiedenen Gesellschaften im Laufe
der Geschichte beschwert haben [17], ist Burnout
beispielsweise eine neue Art, mit Erschöpfung umzugehen. Erschöpfung
ist — im Prinzip — eine sozial angemessene Form des Leidens,
insbesondere im Zusammenhang mit dem Arbeitsleben.
Angesichts dieser Wechselwirkung zwischen Biologie und soziokulturellem Umfeld wurde
vom Wissenschaftsphilosophen Ian Hacking vorgeschlagen, ‘interaktive
Dinge’ (engl. interactive kinds) von ‘indifferenten
Dingen’ (engl. indifferent kinds) zu trennen. Gemäß
dieser Unterscheidung sollten Krankheiten, die von Wechselwirkungen betroffen sind,
als ‘interaktive Dinge’ und nicht als ‘natürliche
Dinge’ (engl. natural kinds) bezeichnet werden, wie es in der Medizin
häufig geschieht [18]. Die
zugrundeliegende Biologie selbst, in unserem Fall die Virusinfektion, ist jedoch
nicht interaktiv. Die Biologie wird nicht von soziokulturellen Merkmalen beeinflusst
und ist daher ‘indifferent’. Gleich, wie wir die biologischen
Grundlagen beschreiben oder wie wir versuchen, sie durch soziokulturelle
Entwicklungen zu gestalten, die biologischen Grundlagen bleiben dieselben.
Long Covid als Hybriderkrankung
Long Covid als Hybriderkrankung
Wir schlagen vor, LC/PC als Hybriderkrankung zu betrachten, indem nicht nur
versucht wird, Pathophysiologie mit Symptomen in Verbindung zu bringen, sondern auch
anzuerkennen, dass Symptome durch soziokulturelle Faktoren mitgeprägt werden
können. Indifferente Mechanismen können auf diese Weise mit
interaktiven Mechanismen in Verbindung gebracht werden. In Anlehnung an die oben
skizzierten neurowissenschaftlichen und philosophischen Perspektiven betrachten wir
die Infektion und ihre Folgen als indifferent im Sinne von
‘natürlichen Dingen’. Im Gegensatz dazu sollten das
Leidenserlebnis und ein Teil der klinischen Symptome als interaktive Dinge
betrachtet werden.
Mit einer kulturwissenschaftlichen Perspektive gehen wir davon aus, dass die
LC/PC-Symptome mit einem Symptompool zusammenhängen, der für
eine je bestimmte Gesellschaft existiert. Damit meinen wir, dass es eine historisch
und kulturell bedingte Vielfalt von Symptomen gibt, die als angemessen erachtet
werden, wenn entweder belastende Situationen oder aber schwere Krankheiten
bewältigt werden müssen [19].
Diese Perspektive könnte zu verstehen helfen, warum 20 bis 30 Prozent der
Menschen in den Placebo-Gruppen in den großen Wirksamkeits-Studien der
BioNTech/Pfizer- und Moderna-Vakzine über Fatigue-Symptome nach der
Impfung berichtet haben [20].
Weiterhin von Bedeutung ist, dass die Richtung zwischen Symptompool und leidendem
Individuum bidirektional ist. Je mehr die Menschen über LC/PC
erfahren und je mehr Medien über diese Krankheit berichten, desto
höher ist natürlich das Bewusstsein und die Wahrscheinlichkeit, dass
man als betroffene Person ähnliche Krankheitszeichen erlebt.
Betroffeneninitiativen prägen jedoch auch die Art und Weise, wie die Medien
über die Erkrankung berichten. Die Ablehnung jeglicher psychologischer
Verursachungsannahme von Long-Covid-Symptomen durch Betroffeneninitiativen ist in
dieser Hinsicht ein markantes Beispiel.
Zwischen dem indifferenten und dem interaktiven Teil von LC/PC werden eine
Vielzahl bekannter oder vermuteter physiologischer und psychologischer
Zusammenhänge angenommen. Kurz gesagt gehen wir davon aus, dass die
folgenden Mechanismen relevant sind: auf der biologischen Seite sind es Immun- und
Autoimmunreaktionen, verbleibende Viruspartikel, Reaktivierung von Viren und
Gewebeveränderungen, einschließlich vaskulärer
Veränderungen [21]. Hinzukommen
können das Post-ICU-Syndrom (physische und psychische Folgen einer
überstandenen Intensivbehandlung), die Covid-Erkrankung als ernstes
und/oder bedrohliches Lebensereignis, aber nicht zuletzt auch allgemeine
psychosoziale Stressoren [22], die im Rahmen der
COVID-19-Pandemie das Belastungserleben deutlich gesteigert haben.
Long Covid als hybride, aber sehr reale Erkrankung
Long Covid als hybride, aber sehr reale Erkrankung
Zusammengefasst ergibt sich folgendes Bild: COVID-Betroffene hatten als erstes eine
Virusinfektion, ein eindeutig indifferentes Ereignis. Darüber hinaus
korrelieren viele LC/PC-Symptome mit einem soziokulturellen Symptompool,
welcher das Belastungserleben mitbestimmt. Dies gilt sogar für scheinbar
körperliche Symptome wie Schmerzen [13].
Aus dieser Perspektive sind LC/PC-Symptome das Ergebnis des Zusammenspiels
einer indifferenten biologischen Ursache und einer interaktiven Konstruktion von
soziokulturellen Entwicklungen, Erfahrungen und Symptomen — wie bei vielen
anderen Erkrankungen.
LC/PC erfüllt damit die Kriterien für eine echte Erkrankung.
Unter Anerkennung aller bisher erarbeiteten Erkenntnisse sollte aus medizinethischer
Perspektive keine Information systematisch abgelehnt werden, um eine
‚epistemische Ungerechtigkeit‘ zu vermeiden [23]. Eine ‚epistemische
Ungerechtigkeit‘ bedeutet konkret, dass eine von mehreren Wahrheiten
systematisch negiert wird. LC/PC-Betroffene berichten oftmals, dass ihre
Perspektive abgewertet wird. Die Tatsache, dass die medizinische Forschung die
direkten Wege zwischen Infektion und Symptomen noch nicht vollständig
identifiziert hat, darf nicht dazu führen, leidende Menschen in ihrem
Hilfesuchverhalten abzuweisen. Patientenzentrierte, informierte und fokussierte
Interventionen werden benötigt, um dem gesellschaftlichen Auftrag in einem
modernen Gesundheitswesen gerecht zu werden. Eine faktenorientierte und
ideologiefreie Auseinandersetzung ist hierfür die Voraussetzung.