Schlüsselwörter
HNSCC - Plattenepithelkarzinom - anterolateral thigh flap - Rekonstruktionsmethoden - ALT - Radialistransplantat - Fibulatransplantat
Keywords
HNSCC - reconstruction - anterior lateral tight flap - radial forearm flap - vascularized fibula flap
Einleitung (Remmert, Sack)
Einleitung (Remmert, Sack)
Mit Hilfe der plastisch-rekonstruktiven Chirurgie werden Funktionen des menschlichen
Körpers wiederhergestellt, die infolge von Fehlbildungen, Traumata, Tumorresektionen
und anderen Krankheiten beeinträchtigt wurden oder vollständig verloren gingen.
Die häufigste Ursache für plastisch-rekonstruktive Maßnahmen im Kopf-Halsbereich,
speziell im oberen Aerodigestivtrakt, ist die Resektion von malignen Tumoren.
Die primär durch die Tumoren selbst hervorgerufenen Funktionsstörungen werden häufig
durch die Tumorresektion zusätzlich verstärkt.
Generell hinterlassen komplette Organresektionen wie beispielsweise die Glossektomie,
die komplette Gaumenresektion, die Laryngektomie oder die quere
Pharyngo-Laryngektomie die schwerwiegendsten funktionellen Defizite. Dazu zählen
Störungen der oralen und pharyngealen Schluckphase [1]
[2]
[3]
[4]
[5]
[6] mit mangelhafter Mundhygiene [5]
[6],
lebensbedrohlicher Aspiration [1]
[7]
[8]
[9]
[10]
[11]
und nasaler Regurgitation [12]
[13] sowie Artikulationsstörungen [1]
[6]
[8]
[14]
[15]
und Störungen der Stimmschallerzeugung [16]
[17]
[18]
[19]
[20]
[21].
Aber auch Teilresektionen können ab einer bestimmten Größe zu nachhaltigen Störungen
der oropharyngolaryngealen Funktionen führen. Mit schweren Schluckproblemen z. B.
muss man rechnen, wenn mehr als 50% einer am Schluckakt beteiligten Struktur
reseziert werden müssen [2]
[22]
[23]
[24].
In Abhängigkeit von der Tumorlokalisation können dabei unterschiedliche Funktionen
isoliert, aber auch kombiniert, beeinträchtigt werden. So führen Resektionen im
Bereich des oralen Anteils der Zunge und des vorderen Mundbodens vorrangig zu
Störungen der Artikulation und der Vorbereitungsphase des Schluckaktes [3]
[6]
[25]
[26]
[27]
[28]. Betroffen sind dabei die
Bolusvorbereitung, die Boluslateralisation sowie das Bolushaltevermögen [6]
[25].
Nach Teilverlusten des Zungengrundes dagegen kommt es zu einer Abnahme der
Zungenschubkraft und dadurch zu Veränderungen des pharyngealen Vortriebs [6]
[27].
Ähnlich negative funktionelle Auswirkungen auf die Boluspropulsion haben Resektionen
im Bereich des weichen Gaumens und der Tonsillenloge. Ein Substanzverlust in dieser
Region führt durch eine velopalatinale Insuffizienz zu einer Druckentweichung in den
Nasopharynx [12]
[13]
[27]
[29].
Resektionen der suprahyoidalen Mundbodenmuskulatur zerstören den vorderen
Aufhängungsapparat des Kehlkopfes und behindern eine normale Larynxelevation während
der pharyngealen Schluckphase [3]
[6]
[25]
[28]
[30]. Durch die mangelhafte oder fehlende
vorwärts und aufwärts gerichtete Kehlkopfbewegung wird der pharyngoösophageale
Sphinkter nur unzureichend geöffnet und durch den fehlenden „Saugdruck“ der normale
Schluckakt erschwert [6]
[31].
Substanzverluste des Kehlkopfes haben Störungen der Verschlussmechanismen des oberen
Luftweges zur Folge. Diese existieren in Form von „Verschlussventilen“ auf drei
Ebenen:
Bei Resektionen im Bereich dieser Strukturen besteht grundsätzlich die Gefahr
lebensbedrohlicher Aspirationen [3]
[23]
[25]
[32]
[33]. Darüber hinaus wird in den meisten Fällen
die Erzeugung des primären Stimmschalls beeinträchtigt oder geht vollständig
verloren.
Wegen der beschriebenen schwerwiegenden Funktionsstörungen besteht nach ausgedehnten
Tumorresektionen im oberen Aerodigestivtrakt die absolute Notwendigkeit der
Wiederherstellung der Anatomie bzw. der Rekonstruktion verlorengegangener Gewebe-
und Organteile. Dies hat in der Vergangenheit zur Entwicklung zahlreicher
Rekonstruktionsmethoden geführt, wobei in der Regel ein autologer Gewebeersatz
favorisiert wird.
Mitte der 60er Jahre waren es die regionalen Lappen, wie der Deltopektorallappen
[34], der Stirnlappen [35] oder der Temporalislappen [36], die zum Verschluss dieser Defekte
verwendet wurden. Dies erforderte mehrzeitige operative Sitzungen über viele
Wochen.
Fortschritte erzielte man Ende der 70er Jahre mit der Entwicklung der myokutanen
Insellappen. Durch den myokutanen Pectoralis-major-Lappen [5]
[37]
[38], den
Sternokleidomastoideuslappen [39] oder den
Latissimus-dorsi-Lappen [40] ließ sich
erstmals die Anatomie im Bereich ausgedehnter Defekte mit einzeitigen
Rekonstruktionen wiederherstellen.
Zur gleichen Zeit kam es zu einer sprunghaften Entwicklung der bereits 1959 von
Seidenberg und Mitarbeitern zum ersten Mal beim Menschen durchgeführten
mikrovaskulären Gewebetransplantation [41].
Durch die Verfeinerung des mikrochirurgischen Instrumentariums und der Verbesserung
der Gefäßnahttechnik stellten sich die ersten klinischen Erfolge ein, die eine
gezielte Erforschung neuer Spendergebiete auslösten.
In den Jahren von 1979–1984 wurden das Beckenkamm- [42], das Unterarm- [43], das
Oberarm- [44], das Skapula- [45] und das Paraskapulatransplantat [46] beschrieben.
Heute stehen eine große Anzahl von Transplantaten mit unterschiedlichen
Gewebekomponenten von verschiedenen Spenderregionen zur Verfügung. Darüber hinaus
haben aktuelle Entwicklungen des mikrochirurgischen Transfers von autologen
Gewebetransplantaten, die von einzelnen Gefäßarkaden bzw. Perforatorgefäßen versorgt
werden, Einzug in die klinische Praxis gefunden.
Durch diese Vielfalt rekonstruktiver Möglichkeiten können verloren gegangene
anatomische Strukturen besonders unter funktionellen Gesichtspunkten optimal ersetzt
werden. Der Einsatz unterschiedlicher Gewebe, die Kombination verschiedener
Transplantate und Lappen ggf. mit Präformierung von Spenderregionen ermöglichen
heute Rekonstruktionen weit über das Maß der alleinigen Wiederherstellung der
Oberflächenintegrität. Die Art der Rekonstruktion ist abhängig vom Resektionsausmaß,
der Lokalisation und dem angestrebten funktionellen Ergebnis, das für die
Lebensqualität der Patienten entscheidend ist [3]
[4]
[8]
[10]
[47]
[48].
Um die, sich in den letzten Jahrzehnten enorm entwickelten chirurgischen
Möglichkeiten für die Therapie maligner Tumoren im Kopf-Hals-Bereich optimal zu
nutzen, ist ein umfassendes, interdisziplinär erarbeitetes Therapiekonzept die
Voraussetzung für den onkologischen und funktionellen Erfolg. In Zusammenarbeit von
Chirurgen, Anästhesisten, Radiologen, Strahlentherapeuten, Logopäden u. a. muss der
therapeutische Weg individuell abgestimmt und entsprechend festgelegt werden.
Inwieweit die notwendigen operativen Maßnahmen fachübergreifend erfolgen müssen,
hängt zum einen von der Lokalisation der Defekte im Kopf-Hals-Bereich und zum
anderen von der Art des benötigten Ersatzgewebes ab. Darüber hinaus können die
eigenen fachspezifischen chirurgischen Möglichkeiten durch eine enge
interdisziplinäre Zusammenarbeit im Sinne der onkologischen und funktionellen
Ergebnisse sinnvoll erweitert werden. Die wichtigsten Kooperationspartner der
HNO-Chirurgen sind dafür:
-
Mund-Kiefer-Gesichtschirurgen (Rekonstruktionen des Kiefers)
-
Plastische Chirurgen (Transplantatentnahmen, Mikrogefäßanastomosen)
-
Gefäßchirurgen (Mikrogefäßanastomosen, Ersatz der A. carotis)
-
Abdominalchirurgen (Jejunumtransplantat)
-
Neurochirurgen
Grundsätzlich werden plastisch rekonstruktive Maßnahmen im Kopf-Halsbereich nach
ausgedehnten Resektionen von T3- und T4- Tumoren erforderlich. Sie verfolgen 2
Ziele:
-
die Wiederherstellung der Form (Anatomie),
-
die Erhaltung bzw. die Wiederherstellung der Funktion.
Um diesen Zielen vollumfänglich gerecht werden zu können müssen bei der Auswahl der
Rekonstruktionsmethode verschiedene allgemeinmedizinische, soziale und vor allem
operationstechnische Parameter Berücksichtigung finden. Denn je anspruchsvoller, je
komplexer und je zeitaufwendiger die Rekonstruktion ist, desto größer sind die
Anforderungen an den Patienten, das Therapieteam und die Nachsorge:
-
Allgemeinmedizinische Parameter: Der Allgemeinzustand und das Alter des
Patienten wirken sich vorrangig auf die postoperative Komplikationsrate aus.
Dabei stellt ein hohes Lebensalter keine grundsätzliche Kontraindikation für
diese Eingriffe dar. Dagegen begrenzen Alkoholfolgeerkrankungen mit
Einschränkung der Herz-, der Lungen- und der Leberfunktion die Indikation
erheblich.
-
Soziale Parameter: Eine entscheidende Rolle bei der Therapiewahl spielen die
Compliance des Patienten und sein soziales Umfeld. Dabei gilt der Grundsatz:
Je stärker die Motivation des Patienten, je größer das Krankheitsverständnis
und je besser sein soziales Umfeld sind, desto zumutbarer sind aufwendige
Rekonstruktionen mit oft langwierigen Rehabilitationsphasen.
-
Operationstechnische Parameter: Zu den wichtigsten operationstechnischen
Parametern zählen die Lokalisation, die Größe und die Form des Defekts.
Darüber hinaus wird die Rekonstruktionsmethode maßgeblich von der Art und
vom Volumen des zu ersetzenden Gewebes bestimmt. Mitentscheidend für das
operative Vorgehen ist auch, ob es sich um einen Primär- oder
Sekundäreingriff handelt und ob in bereits bestrahltem Gebiet operiert
werden muss.
Die zuletzt genannten operationstechnischen Parameter erfordern nicht selten eine
enge interdisziplinären Zusammenarbeit mit den o.g. chirurgischen Fachdisziplinen.
So muss die Wiederherstellung der Okklusion nach Resektionen im knöchernen Kiefer
einschließlich der Transplantatentnahme (Fibula, Beckenkamm) durch Kollegen der
Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie erfolgen. Die Hebung von Schleimhauttransplantaten,
wie beispielsweise Jejunum oder Colon kann nur durch die Abdominal-Chirurgen
durchgeführt werden. Bei sehr komplexen mehrschichtigen Defekten hilft die breite
Expertise der Plastischen Chirurgie bei der Transplantatentnahme zur Umsetzung des
Grundsatzes „Gleiches Gewebe durch gleiches Gewebe“ zu ersetzen.
Plattenepithelkarzinome des Kopf- Hals-Bereichs (Head and Neck Squamous-Cell
Carcinoma) (Lehnhardt, Puscz)
Plattenepithelkarzinome des Kopf- Hals-Bereichs (Head and Neck Squamous-Cell
Carcinoma) (Lehnhardt, Puscz)
Plattenepithelkarzinome des Kopf-Hals-Bereichs (engl. Head and Neck Squamous-Cell
Carcinoma; HNSCC) gehen aus der Mukosa der Mundhöhle, des Pharynx und des Larynx
hervor und stellen das häufigste Malignom in dieser Lokalisation dar [49]. In Deutschland stehen sie an Platz 15
(Frauen) sowie Platz 7 (Männer) der häufigsten Tumorentitäten [50]. Hinsichtlich ihrer Mortalität waren sie im
Jahr 2019 für 1479 (Frauen), respektive 3888 Todesfälle (Männer) verantwortlich
[50]. Als Hauptrisikofaktoren sind
Nikotin- sowie starker Alkoholkonsum, aber auch mangelnde Mundhygiene anzusehen.
Darüber hinaus bestehen starke Assoziationen mit Infektionen durch humane
Papillomviren (HPV), insbesondere dem Subtyp HPV-16. HNSCCs werden daher
mittlerweile in HPV-assoziiert und nicht-HPV-assoziiert eingeteilt [51], wobei die HPV-assoziierten Karzinome
tendenziell mit einer besseren Prognose für die Patienten einhergehen [52]. Dies liegt an den zumeist jüngeren und
gesünderen Patienten, die, anders als nicht-HPV-assoziierte HNSCCs, in der Regel
keine Komorbiditäten durch jahrelangen Nikotin- und/oder Alkoholkonsum
aufweisen.
Es existieren keine allgemeinen Frühsymptome, die auf das Vorliegen eines HNSCCs
hinweisen können. Vielmehr orientieren sich eventuelle Beschwerden an den
anatomischen Lokalisationen ihres Auftretens. So können bspw. chronische Ulzera,
Dysphagie, Dysphonie, Atemwegsbehinderungen bis hin zu Hirnnervenausfällen ein
Hinweis auf das Vorliegen eines HNSCCs sein. Des Weiteren können die für alle
Malignome unspezifischen Symptome wie unklarer Gewichtsverlust, Schmerzen und
Abgeschlagenheit auftreten.
Beim Verdacht eines HNSCC sollte neben der obligatorischen, ausführlichen Anamnese
auf unspezifische Lymphknotenschwellungen geachtet werden. Außerdem gehört die
Spiegeluntersuchung oder flexible Laryngoskopie zum diagnostischen Standard. Das
initiale Staging beinhaltet eine Panendoskopie mitsamt Feinnadel- bzw.
Inzisionsbiopsie zur histopathologischen Diagnosesicherung sowie
kontrastmittelgestützte Computertomographien von Kopf, Hals, Thorax und Abdomen.
Dazu ergänzend können Sonographien und PET-CTs durchgeführt werden.
Die Klassifikation dieser Tumoren erfolgt nach den gängigen TNM- bzw.
UICC-Systematiken und kann im Einzelnen in den jeweiligen Leitlinien konsultiert
werden. Anhand der TNM- bzw. UICC-Klassifikation wird auch das Therapieregime
festgelegt. Dieses Vorgehen sollte immer in einem multidisziplinären Team, z. B. im
Rahmen einer interdisziplinären Tumorkonferenz besprochen und eruiert werden.
Hinsichtlich der Therapie stehen neben der operativen Resektion, mit welcher sich
dieses Referat im vorliegenden dezidiert beschäftigt, die Strahlen- sowie
Systemtherapie zur Verfügung. Frühe Tumorstadien können dabei in der Regel durch
alleinige operative oder strahlentherapeutische Maßnahmen kurativ behandelt werden.
Bei fortgeschrittenen Tumoren oder nicht-kurativen Behandlungsansätzen stehen die
Radio- sowie Systemtherapie im Vordergrund.
Mikrochirurgie (Lehnhardt, Puscz)
Mikrochirurgie (Lehnhardt, Puscz)
Mikrochirurgie stellt im weitesten Sinne eine Bezeichnung für diffizile chirurgische
Eingriffe an sehr feinen Gewebsstrukturen dar, die in zahlreichen chirurgischen
Disziplinen verwendet werden. Sie zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass sie
mithilfe von sehr stark vergrößernden optischen Sehhilfen an kleinsten anatomischen
Strukturen unterschiedliche operative Eingriffe ermöglicht. Neben diversen
Lupenbrillensystemen, welche üblicherweise eine bis zu 6-fache Vergrößerung
ermöglichen, werden hierfür meistens als Vergrößerungsinstrumente spezielle mit
effektiven Lichtquellen ausgestattete Operationsmikroskope eingesetzt. Diese
erreichen im Durchschnitt zwischen 6- und 40-fache Vergrößerungen. In Verbindung mit
speziellen Operationsinstrumenten und sehr feinen Nahtmaterialien können daher
kleinste Strukturen behandelt werden, z. B. die Vereinigung von arteriellen, venösen
oder lymphatischen Systemen durch Mikrogefäßanastomosen bei der Transplantation von
Geweben in der rekonstruktiven Chirurgie.
Die Geschichte der Mikrochirurgie, war und ist immer eng verknüpft mit der Geschichte
der Mikroskopie. Die Erfindung von ersten Mikroskopen wird Janssen in Holland 1590
zugeschrieben, und die Beschreibung eines Blutkreislaufs von Harvey 1628 und von
Hooke ließen das wissenschaftliche Interesse an der Mikroskopie entstehen. Antonie
van Leeuwenhoek, der über 500 Mikroskope baute, veröffentlichte 1678 erstmals eine
Schrift über seine Beobachtungen von Mikroorganismen unter dem Mikroskop [53]. Seit Paré, der neben der von ihm
propagierten Methode der Leitungsblockade durch kurzzeitiges Abdrücken von Nerven
zur Wundversorgung auch die Ligatur von verletzten Gefäßen 1552 einführte, bestand
die Versorgung von Gefäßverletzungen in der Unterbindung. Lambert beschrieb bereits
1761 in seiner Monografie „A new technique of treating an aneurysm“, dass Hallowell
1759 eine verletzte Brachialarterie nicht ligiert, sondern durch eine Naht
rekonstruiert habe. Zwischen 1800 und 1900 wurden dank der Bemühungen von Eck,
Carrel, Czerny und Guthrie, Varianten der gefäßchirurgischen Verbindungen
beschrieben. Die erste End-zu-End-Gefäßanastomose geht auf Jassinowski 1899 zurück.
Neben End-zu-End- oder End-zu-Seit-Anastomosen wurde in der Folge auch die
Interposition von autologen Venentransplantaten etabliert. Die Geschichte der
modernen Mikrochirurgie, wie sie heute verstanden wird, wird allgemein mit dem
ersten Einsatz eines statischen monokularen Mikroskops für die Inspektion des Ohres
durch den schwedischen HNO-Arzt Carl-Olof Siggesson Nylén (1892–1978) verknüpft.
Nylén benutzte im Jahr 1921 erstmals ein von ihm eigens für chirurgische Zwecke
umgebautes Stativmikroskop zur intraoperativen Inspektion des freigelegten
Endolymphschlauchs im Bogengang des Ohres bei einem Kaninchen. Sein Lehrer Holmgren
setzte dann das Mikroskop noch im gleichen Jahr im klinischen Einsatz bei einem
Patienten bei der chirurgischen Behandlung einer Otosklerose ein. Nylén hatte
hierfür ein modifiziertes monokulares Brinell-Leitz-Mikroskop eingesetzt. Sein
Kollege Gunnar Holmgren (1875–1954) entwickelte 1923 ein binokulares Mikroskop und
schuf die Voraussetzungen für ein räumliches Sehen während der chirurgischen
Dissektion. Die Verwendung solcher Operationsmikroskope und die klinische Nutzung
der optischen Vergrößerung blieben aber zunächst einem kleinen Kreis von Otologen
vorbehalten und auf wenige Indikationen beschränkt.
Letztlich wurde erst Anfang der 1950er Jahre durch die Firma Carl Zeiss eine
konstruktive Entwicklung des Operationsmikroskops eingeleitet, die eine grundlegende
Verbreitung in verschiedenen chirurgischen Gebieten nach sich zog. Voraussetzung war
ein Mikroskopkörper, der praktisch in allen Ebenen des Raums beweglich war und eine
unterschiedliche Vergrößerung bei gleichem Arbeitsabstand erlaubte. Während zunächst
ein sehr sperriger Mikroskopkörper mit eingeschränkter Mobilität und einem kleinen
Operationsfeld sowie einer limitierten Schärfentiefe die Möglichkeiten begrenzte,
sind moderne Mikroskope mittlerweile vom Bau her wesentlich leichter. Durch
entsprechende solide und bewegliche fahrbare Stative ergab sich eine praktische
Anwendbarkeit in unterschiedlichen Operationssälen, die entscheidend zum Siegeszug
der mikrochirurgischen Technik in vielen chirurgischen Disziplinen beigetragen hat.
Eine wesentliche Verbesserung war dabei die Konstruktion eines stereoskopischen
Mikroskops mit eigener koaxialer Lichtquelle, welches auf einem ausreichend stabilen
Stativ und mit frei beweglicher Optik, sowie stufenlos einstellbaren verschiedenen
Vergrößerungen bei gleichbleibendem Arbeitsabstand eine Verfügbarkeit in
unterschiedlichen Operationssälen und bei diversen Arbeitsabständen und anatomischen
Lokalisationen erlaubt. Dazu kamen ferner fest installierte Deckenmikroskope sowie
motorbetriebene verstellbare Objektive. Moderne OP-Mikroskope sind gut beweglich
oder aufgrund von Deckeninstallationen leichter positionierbar. Durch
Kaltlichtquellen wurde die Ausleuchtung des mikrochirurgischen Operationsfeldes
signifikant verbessert. Die Position des Mikroskops kann entweder mit sterilen
Handgriffen oder über Fußschalter beliebig verändert werden. Der Kopf des
Mikroskops kann in beliebige Ebenen gekippt werden, sodass die jeweilige Stellung
dem Operationsfeld angepasst werden kann. Der Fokus für die Schärfentiefe erlaubt
ein größeres Arbeitsfeld und die wechselweise bei den verschiedenen Operationsphasen
benötigten Vergrößerungsfaktoren lassen sich mit z. B. Fußschaltern zwischen
6-facher und 40-facher Vergrößerung stufenlos während der Operation verändern. Auch
erlauben die Einrichtungen heutzutage ein Mitbeobachten des Operationsvorgangs durch
den Assistenten in gleicher Qualität wie durch den Operateur. Darüber hinaus können
selbstverständlich Bildsignale abgegriffen werden und projiziert, übertragen oder
aufgezeichnet werden.
Für die rasante Entwicklung der Mikrochirurgie waren neben allgemeinen Entwicklungen
der chirurgischen Heilkunst und dem zunehmenden klinischen Einsatz von
Operationsmikroskopen in der Folge die Entwicklung und die Perfektion von
Mikroinstrumenten, Mikronähten und Mikronadeln maßgebend. Die Herstellung von feinen
Mikroinstrumenten, die ursprünglich von Uhrmacher- und Feinmechanikerwerkzeugen
abgeleitet waren, ebenso wie die hochpräzise Fertigung dünnster Nahtmaterialien mit
speziellen atraumatischen Mikronadeln, führten zu einer Ausweitung und stetigen
Weiterentwicklung der Mikrochirurgie.
Durch den permanenten technischen Fortschritt sowie das Ziel, immer feinere
Strukturen zu handhaben und zu behandeln haben sich die Grenzen des
operativ-möglichen also konsequent zum kleineren hin verschoben. Dabei sind vor
allem die klinische Etablierung von Perforator-Lappenplastiken, auf die im Folgenden
auch eingegangen wird, sowie die Entwicklung der Lymphchirurgie als Triebfeder zu
nennen [54]
[55]. Hinsichtlich der weiteren technischen Innovationen ist mit der
Roboter-assistieren Mikrochirurgie in den letzten Jahren ein neues Feld aufgekommen,
das die Mikrochirurgie in den kommenden Jahrzehnten weiter beeinflussen und
optimieren wird. So stehen bis dato zwar erst zwei kommerziell-erhältliche
Operationsroboter für die Mikrochirurgie zur Verfügung, jedoch zeigen erste
klinische Studien an Perforator-Lappenplastiken [56] sowie Lymphgefäßen [57]
vielversprechende Ergebnisse. Insbesondere die Herunterskalierung des natürlichen
Tremors erlaubt es die Grenzen des operativ-möglichen zu erweitern.
Häufig genutzte Lappenplastiken in der Hals-Nasen-Ohrenheilkunde (Lehnhardt,
Puscz)
Häufig genutzte Lappenplastiken in der Hals-Nasen-Ohrenheilkunde (Lehnhardt,
Puscz)
Durch die Erforschung von Spendergebieten mit axialer Gefäßversorgung stehen heute
zahlreiche Transplantate mit unterschiedlichen Gewebekomponenten zur Verfügung. In
der Kopf-Hals-Region werden dabei bevorzugt das Unterarmtransplantat, das anteriore
Oberschenkeltransplantat (ALT) und das freie Fibulatransplantat eingesetzt.
Im Folgenden soll nun auf diese Lappenplastiken eingegangen werden.
Radialis-Lappenplastik
Der Radialis-Lappen ist ein fasziokutaner Lappen, der sich insbesondere für die
Rekonstruktion bzw. den Verschluss kleinerer Defekte (bis ca. 8 x 16 cm) eignet.
Da der Lappen sogar gefaltet werden kann, sind auch dreidimensionale Designs
möglich. Namensgebend für die Lappenplastik ist ihr hauptversorgendes Gefäß, die
A. radialis. Präoperativ ist daher unbedingt die Blutversorgung des Spenderarmes
mit dem Allen-Test zu überprüfen. Jedoch stellt auch ein positives Testergebnis
keine absolute Kontraindikation zur Entnahme dar, da die A. radialis mit einem
retrograden V. cephalica- oder V. saphena-Transplantat rekonstruiert werden
kann. Auch osteokutane Varianten dieser Lappenplastik sind vorbeschrieben und
eignen sich somit auch zur Rekonstruktion knöcherner Defekte [58]. Der Spenderarm wird in der Regel auf
einem Armtisch ausgelagert. Eine Oberarmblutsperre kann vorgelegt werden, sollte
jedoch zur intraoperativen Perfusionskontrolle nicht regelhaft genutzt werden.
Die radiale Lappengrenze bildet in der Regel die A. radialis, nach ulnar kann
der Lappen bis zu zwei Drittel des volaren Unterarmes einnehmen. Dies hat zudem
den Vorteil, dass die Haut am volaren, ulnaren Unterarm häufig weniger stark
behaart ist. Falls eine Sehne in den Lappen integriert werden soll, kann die
Sehne des M. palmaris longus integriert werden. Die Präparation beginnt in der
Regel von distal und geht bis auf die Fascia antebrachii, welche mitgehoben
wird. Peritendinöses Gewebe sollte jedoch belassen werden, um postoperative
Verklebungen zu vermeiden. Die A. radialis und ihre Begleitvene werden
dargestellt und ligiert. Anschließend wird der Lappen nach proximal frei
präpariert, wobei unbedingt auf den dorsalen Ast des N. radialis zu achten ist,
der an dieser Stelle durch den M. brachioradialis zum distalen Unterarm zieht.
Falls die V. radialis kaliberschwach sein sollte, kann auch die V. cephalica in
den Lappen integriert werden. So kann der Lappen bis ins proximale
Unterarmdrittel gehoben werden. Der Hebedefekt muss in der Regel mit Spalthaut
verschlossen werden, ein Primärverschluss ist selten möglich. Postoperativ ist
zu beachten, dass der Haarwuchs an der Lappenplastik erhalten bleibt, sodass
hier im Verlauf unter Umständen eine Laserepilation notwendig ist ([Abb. 1]).
Anterolateral thigh (ALT)-Lappenplastik
Die ALT-Lappenplastik ist eine der am meisten genutzten Lappenplastiken der
rekonstruktiven Chirurgie. Durch seine Vielseitigkeit hat er sich in vielen
verschiedenen anatomischen Regionen sowie in unterschiedlichen Fachrichtungen
als sog. „Workhose-flap“ etabliert [59].
Die Erstbeschreibung dieses Lappens erfolgte im Jahr 1984 durch Song und
Kollegen [60]. Mittlerweile existieren
zahlreiche anatomische Studien [61]
[62] und umschriebene Operationsvarianten
[63]
[64] des ALT, so dass die Operationsmethode bestens etabliert ist.
Beim ALT handelt es sich um eine fasziokutane Perforatorlappenplastik, die aus
dem anterolateralen Oberschenkel entnommen wird. Die arterielle Versorgung
erfolgt dabei über Perforatoren aus dem R. descendens der A. circumflexa femoris
lateralis. Diese Perforatoren können präoperativ mittels farbkodierter
Duplexsonographie markiert werden und befinden sich häufig im mittleren Drittel
auf einer gedachten Linie von der Spina iliaca anterior superior zum lateralen
Patellarand ([Abb. 2]).
Abb. 1 Operationsskizze einer Radialis-Lappenplastik am rechten
Unterarm. (a) Die Lappenplastik kann entlang der eingezeichneten
Lappen-Achse gehoben werden (blau markiert) und befindet sich medial der
A. radialis (RA). (b) Der Lappen (blau markiert) wird unterhalb
der Faszie am lateralen Rand der Sehne des M. flexor carpi radialis
(FCR) gehoben. PL, M. palmaris longus; FDS, M. flexor digitorum
superficialis; FCU, M. flexor carpi ulnaris. (c) Querschnitt des
rechten Unterarmes mit eingezeichneter Ebene (blau markiert) der
Lappenhebung. FPL, M. flexor pollicis longus; FDP, M. flexor digitorum
profundus; BR, M. brachioradialis; UA, A. ulnaris. Quelle: Beredjiklian
PK et al. 2020. Hand Surgery, page 400. DOI: 10.1055/b-0040-177493.
Abb. 2 Präoperative Einzeichnung der geplanten ALT-Entnahmestelle
mitsamt markierter Perforatoren und Lappendesign.
Abhängig vom Spender sowie der Empfängerregion sind Lappengrößen von bis zu 8 x
25 cm möglich. Die Perforatoren verlaufen entweder als septokutane Perforatoren
im intermuskulären Septum zwischen den Mm. rectus femoris und vastus lateralis
oder als muskulokutane Perforatoren durch den M. vastus lateralis. Begleitet
wird der deszendierende Ast der A. circumflexa femoris lateralis von einem oder
mehreren nervalen Muskelästen zum Vastus lateralis, die aus dem N. femoralis
stammen. Eine sensible Innervation des ALT-Lappens ist durch Äste des N.
cutaneus femoris lateralis gegeben, der im Bedarfsfall in die Lappenplastik
eingeschlossen und im Bereich der Empfängerregion koaptiert werden kann. Die
Hebung der ALT-Lappenplastik erfolgt in der Regel in Rückenlage. Die
Lappenplastik wird zunächst zentriert über den zuvor dopplersonographisch
dargestellten Bereich geplant. Anschließend erfolgt eine weitestgehend gerade
Inzision am medialen Rand der Lappenplastik. Nach Präparation auf die
Oberschenkelfaszie erfolgt entweder eine epifasziale oder subfasziale
Präparation nach lateral. Inwiefern die Faszie in die Lappenplastik inkludiert
wird, hängt v. a. von den Notwendigkeiten an der Empfängerstelle ab. Bei der
Präparation nach lateral werden dann die vorhandenen Perforatoren identifiziert
und dargestellt. Abhängig von deren Lokalisation, der notwendigen Länge des
Gefäßstiels und den individuellen anatomischen Gegebenheiten kann zu diesem
Zeitpunkt die Lappenplastik noch in kraniokaudaler Richtung verschoben werden.
Zusätzlich werden jetzt wie oben beschrieben, die für die Perfusion der
Lappenplastik notwendigen Perforatoren identifiziert ([Abb. 3]).
Abb. 3 Intraoperativer Befund einer ALT-Lappenplastik vor
Durchtrennung der versorgenden Perforatoren.
Nach Durchtrennung der überflüssigen Perforatoren wird dann der Gefäßstiel von
peripher nach zentral verfolgt. Die Präparationsschicht ist dabei stets direkt
auf dem Gefäß und keinesfalls mit einem »Sicherheitsabstand«, weil ein solcher
das Risiko einer Verletzung des Stiels eher erhöht. Die Präparation durch das
intermuskuläre Septum ist in der Regel einfach, im Falle muskulokutaner
Perforatoren kann die Präparation bis zum R. descendens allerdings schwierig und
aufwendig werden. Hilfreich kann in diesem Fall die vorherige Darstellung des R.
descendens im intermuskulären Septum unter dem M. rectus femoris sein, um die
anatomischen Verhältnisse und das Konfluenz des Perforators mit der Gefäßachse
einfacher zu identifizieren. Bei der Präparation des Gefäßstiels nach
zentral/proximal sollte auf eine Schonung der begleitenden Nerven geachtet
werden. Nach vollständiger Isolierung der ALT-Lappenplastik am R. descendens
wird dieser zunächst kaudal ligiert und abgesetzt. Zeigt sich nach einer
„Einlaufphase“ von einigen Minuten eine ausreichende kapilläre Blutung aus dem
Lappenrand und eine zeitgerechte Rekapillarisierung, kann die Lappenplastik
zunächst arteriell und dann venös abgesetzt und zur Empfängerstelle transferiert
werden.
Freies Fibulatransplantat
Bei der freien Fibula handelt es sich um eine osteofasziokutane Lappenplastik,
die sich insbesondere durch ihre Modularität auszeichnet, da sie sowohl als
reiner Knochentransfer, aber auch wie oben beschrieben mit Hautinsel und Muskel
genutzt werden kann. Erstbeschrieben wurde sie im Jahr 1975 durch Taylor und
Kollegen [65], die jedoch noch einen
posterioren Zugang zur Hebung des Transplantates vorsahen. In der klinischen
Realität durchgesetzt hat sich jedoch der einige Jahre später beschriebene
laterale Zugang von Gilbert [66]. Durch
ihre längliche Form sowie hohen Kortikalisanteil stellt die Fibula einen guten
Spenderknochen, z. B. zur Unterkieferrekonstruktion dar. Die Blutversorgung des
Knochens erfolgt über die gleichnamige Arterie und Vene (A./V. fibularis auch:
A./V. peronea). Präoperativ sollte jedoch eine CT-gestützte Angiografie des
Spenderbeines erfolgen, um etwaige Gefäßanomalien bzw. Versorgungsmuster
darzustellen. Zunächst werden das proximale und distale Fibula-Ende sowie die
Knochenachse markiert. Falls eine Hautinsel benötigt wird, kann diese entlang
der Knochenachse eingezeichnet werden. Sie sollte jedoch mindestens 5 cm Abstand
zum distalen Fibularand aufweisen. Soll nur die Fibula gehoben werden, erfolgt
die Inzision entlang des hinteren Fibularandes. Die Dissektion verläuft bis zur
Fibula und der Knochen wird herauspräpariert. Eine kleine Muskelmanschette von
wenigen Millimetern Breite bleibt am Knochen haften. Wenn die proximalen und
distalen Osteotomiestellen markiert sind, wird ein Retraktor verwendet, um den
Knochen eng zu umschließen. Bei der Osteotomie sollten die distalen 6 cm
unbedingt erhalten werden, um Instabilitäten im oberen Sprunggelenk zu
vermeiden. Zudem wird der proximale Verlauf des Nervus peronaeus am Fibulahals
markiert, um diesen zu schonen. Wenn die Osteotomie mit einer oszillierenden
Säge oder einer Giggly-Säge durchgeführt wird, sollten zum Schutz der Weichteile
Homan-Haken verwendet werden. Am oberen und unteren Ende des Lappens können
Knochenklammern angebracht werden, um einen anterioren und posterioren Zug auf
die Membrana interossea zu ermöglichen. Die Membrana interossea wird
durchtrennt, die Arteria fibularis und die zugehörigen Venen werden dargestellt.
Der distale Teil der Arterie und der Venen wird ligiert und durchtrennt und der
Lappen kann dann auf dem Gefäßstiel nach oben angehoben und entnommen
werden.
Abb. 4 Minimaler Hebedefekt nach Entnahme einer ALT-Lappenplastik am
linken Oberschenkel.
Rekonstruktionstechniken (Remmert, Sack)
Rekonstruktionstechniken (Remmert, Sack)
Nachfolgend werden für ausgedehnte Defekte im HNO-Bereich Operationsmethoden zur
Wiederherstellung der Anatomie und der Funktionen dargestellt, die zu einem großen Teil
in interdisziplinärer Zusammenarbeit durchgeführt werden.
Dabei werden unterschiedliche Rekonstruktionsverfahren im Bereich von folgenden
Funktionseinheiten
-
Mundboden
-
Zunge
-
Weicher Gaumen
-
Kehlkopf und Schlund
unter Berücksichtigung der organspezifischen Anatomie und Funktion besprochen.
Defekte von Mundboden und Nachbarstrukturen
Organüberschreitende Tumoren des Mundbodens (T4) wachsen vorrangig in die äußere
Zungenmuskulatur oder brechen in den Unterkieferknochen ein ([Abb. 5]).
Abb. 5 Resektionsausmaß bei T 4-Mundbodentumor. In Rot ist das
Resektionsausmaß eingezeichnet. 1=bei Infiltration des Unterkiefers; 2 = bei
Infiltration der inneren Zungenmuskulatur. Quelle: Remmert S. Expertise
Funktionelle Wiederherstellung der oberen Luft- und Speisewege. Stuttgart :
Thieme; 2015. DOI:10.1055/b-005-143303.
Mundbodentumoren mit Infiltration der Zungenmuskulatur
Bei Beteiligung des Zungenkörpers wird das Zungenvolumen mit einem infrahyoidalen
Muskelfaszienlappen ersetzt ([Abb. 6] und
[Abb. 7a]). Die Rekonstruktion des
Mundbodens und der Zungenschleimhaut erfolgt mit einem Unterarmtransplantat ([Abb. 7b]). Durch die Ausbildung einer
Umschlagsfalte zwischen der Zungenunterseite und dem neuen Mundboden bleibt die
Beweglichkeit der Zungenspitze erhalten ([Abb.
7c]).
Abb. 6 Anatomie der infrahyoidalen Muskelgruppe und des infrahyoidalen
Muskelfaszienlappens. a Infrahyoidale Muskelgruppe; b
Neurovaskulärer infrahyoidaler Muskelfaszienlappen. 1 = M. sternohyoideus; 2
= M. sternothyroideus; 3 = M. omohyoideus; 4 = A. und V. thyroidea superior;
5 = Ansa cervicalis profunda; 6 = dorsaler Ast der A. thyroidea superior; 7
= ventraler Ast der A. thyroidea superior. Quelle: Remmert S. Expertise
Funktionelle Wiederherstellung der oberen Luft- und Speisewege. Stuttgart :
Thieme; 2015. DOI:10.1055/b-005-143303.
Abb. 7 Rekonstruktion bei einem Defekt nach Resektion eines T
4-Mundbodentumors mit einem neuromuskulären Muskelfaszienlappen und einem
Unterarmtransplantat. a Neurovaskulärer infrahyoidaler
Muskelfaszienlappen zur Rekonstruktion des Zungenvolumens. b
Unterarmtransplantat zur Rekonstruktion der Zungenschleimhaut. c
Ausformung der Umschlagsfalte und des Mundbodens. Quelle: Remmert S.
Expertise Funktionelle Wiederherstellung der oberen Luft- und Speisewege.
Stuttgart : Thieme; 2015. DOI:10.1055/b-005-143303.
Mundbodentumoren mit Infiltration des Unterkiefers
Nicht selten infiltrieren T4-Mundbodentumore den Unterkiefer. In diesen Fällen müssen
die Planung und die Durchführung der Operation interdisziplinär zusammen mit den
Mund-Kiefer-Gesichtschirurgen durchgeführt werden. In der Regel erfolgt die
Rekonstruktion des Unterkiefers in einem Schritt mit der Tumorresektion und der
Weichteilrekonstruktion. Alternativ ist für die Rekonstruktion des Unterkiefers aber
auch ein zweizeitiges Vorgehen möglich. Dann überbrückt man den Knochendefekt mit
einer Rekonstruktionsplatte und versorgt im ersten Schritt nur den Weichteildefekt.
Wegen der besseren funktionellen und kosmetischen Ergebnisse sowie der geringeren
Komplikationsraten ist ein einzeitiges Vorgehen zu favorisieren.
Insbesondere, wenn die Kinnregion der Mandibula im Rahmen der Tumorresektion verloren
geht, ist die primäre knöcherne Rekonstruktion das Mittel der Wahl, da in Folge der
„Weichteil-Last“ bzw. durch Muskelzug allogenes Material regelmäßig die Weichteile
perforiert. In der Folge resultiert eine narbige Retraktion der Weichteile, die eine
spätere Rekonstruktion erheblich erschwert.
Beim einzeitigen Vorgehen, wird zunächst die Mundbodenmuskulatur kaudal vom
Zungenbein abgesetzt und der Unterkieferknochen bilateral mit Sicherheitsabstand vom
Tumor dissektiert ([Abb. 8a]). Danach kann
das jetzt mobile Tumorkonglomerat übersichtlich im Bereich der Mundhöhle mit
Sicherheitsabstand zur Zunge abgesetzt werden ([Abb. 8b]).
Abb. 8 Tumorresektion eines T 4-Mundbodentumors mit Infiltration des
Unterkiefers. a T 4-Mundbodentumor nach Dissektion des Unterkiefers.
b Situation nach vollständiger Tumorresektion. Quelle: Remmert S.
Expertise Funktionelle Wiederherstellung der oberen Luft- und Speisewege.
Stuttgart : Thieme; 2015. DOI:10.1055/b-005-143303.
Die Mund-Kiefer-Gesichtschirurgen formen das Fibulatransplantat mit der Hautinsel dem
Tumorresektat entsprechend um ([Abb. 9a, 9b])
und führen die osteosynthetische Rekonstruktion durch. Das mit der Fibula gehobene
Hautareal vom Unterschenkel ersetzt ideal die Mundbodenweichteile und die Gingiva
([Abb. 9c]).
Abb. 9 Rekonstruktion des Unterkiefers und des Mundbodens (gleicher
Fall wie Abb. 7) mit einem Fibulatransplantat. a Fibulatransplantat
mit Hautinsel und Tumorresektionspräparat. b Fibulatransplantat nach
Knochenumformung. c Rekonstruktion des Unterkiefers, des Mundbodens
und der Gingiva. Quelle: Remmert S. Expertise Funktionelle Wiederherstellung
der oberen Luft- und Speisewege. Stuttgart : Thieme; 2015.
DOI:10.1055/b-005-143303.
Mundbodentumoren mit Infiltration des Unterkiefers und Durchbruch durch die
Haut
Noch umfangreicher gestalten sich die rekonstruktiven Maßnahmen, wenn das Karzinom
nach Außen durch die Haut durchbricht ([Abb.
10a]). Die Rekonstruktion des Mundbodens, der Gingiva und des Unterkiefers
erfolgen wie im vorherigen Fall durch ein Fibulatransplantat mit Hautinsel ([Abb. 10b]).
Abb. 10 Rekonstruktion nach Resektion eines T 4-Mundbodentumors, der
durch die Haut nach außen durchbricht. a T 4-Mundbodenkarzinom mit
Durchbruch durch die Haut. b Rekonstruktion des Mundbodens, der
Gingiva und des Unterkiefers mit einem Fibulatransplantat mit Hautinsel.
c Laterales Oberarmtransplantat am noch intakten Gefäßstiel.
d Ein Jahr nach Rekonstruktion mit Fibula- und
Oberarmtransplantat. e Im Bereich der Gingiva eingeheilte Hautinsel
vom Unterschenkel ein Jahr nach Rekonstruktion. Quelle: Remmert S. Expertise
Funktionelle Wiederherstellung der oberen Luft- und Speisewege. Stuttgart :
Thieme; 2015. DOI:10.1055/b-005-143303.
Für die Konturierung der äußeren Kinnweichteile benötigt man ein großflächiges,
voluminöses Transplantat. Diese Eigenschaften bietet sehr gut das laterale
Oberarmtransplantat ([Abb. 10c]). Wegen der
Verwendung von zwei Transplantaten – einem- Fibula- und einem Oberarmtransplantat –
ist zwangsläufig die doppelte Anzahl an Gefäßanastomosen nötig. Zusätzlich muss der
Kehlkopf in eine schluckphysiologisch günstige Position gebracht werden. Dazu wird
er mittels Drahtnähten an dem rekonstruierten Unterkiefer fixiert. So erzielt man
eine der Larynxelevation entsprechende Vorwärts- und Aufwärtsbewegung. Mit diesem
hohen rekonstruktiven Aufwand sind auch bei ausgedehnten Tumoren ansprechende
funktionelle und kosmetische Ergebnisse zu erzielen ([Abb. 10d] u. [Abb. 10e]).
Defekte der Zunge und Nachbarstrukturen
Die Wahl der Rekonstruktionsmethode muss den anatomischen Aufbau der Zunge und die
spezifischen Funktionen des Organs berücksichtigen. Von entscheidender Bedeutung
sind folgende Rekonstruktionsparameter:
-
Erhaltung bzw. Wiederherstellung eines Buccoalveolar- bzw.
Glossoalveolarsulkus.
Diese Umschlagsfalten sind eine wichtige
Voraussetzung für die Mobilität der Neozunge und für eine zahnprothetische
Versorgung.
-
Kontakt der Neozunge mit dem Gaumen.
Nur durch den Kontakt
zwischen der Zunge und dem Gaumen werden ein Bolustransport und ein
Bolushaltevermögen ermöglicht.
-
Reduktion des Mundhöhlentotraums.
Die Verkleinerung des Totraums wird durch die Wiederherstellung des
Zungenvolumens erreicht.
-
Vermeidung von Atrophie und Vernarbung.
Die Wiederherstellung eines angemessenen Zungenvolumens zur Reduktion des
Mundhöhlentotraums sollte auf Grund des hauptsächlich muskulären Defekts mit
möglichst innervierter Muskulatur erfolgen. In Form des infrahyoidalen Muskellappens
(IHL) steht ein myofaszialer Lappen mit konstantem Gefäß- Nervenstiel zur Verfügung,
der in unmittelbarer Defektnachbarschaft über den üblichen Zugang zur Neck
dissection entnommen werden kann [67]
[68].
Für den Schleimhautersatz, für die Ausformung eines Glossoalveolarsulkus und zur
Rekonstruktion der Nachbarregionen (laterale Oropharynxwand, weicher Gaumen,
Mundboden) eignen sich, wenn durch lokale Lappenplastiken kein funktionell adäquater
Defektverschluss möglich ist, besonders Unterarmtransplantate. Gegenüber
Jejunumtransplantaten bieten sie die Vorteile der höheren Resistenz gegenüber
mechanischer Belastung, der morbiditätsärmeren Transplantatentnahme und der
möglichen Resensibilisierung durch Mikronervennaht zwischen dem N. cutaneus
antebrachii und dem N. lingualis.
Defekte des Unterkiefers in Kombination mit Zungendefekten werden in
interdisziplinärer Zusammenarbeit mit den Kieferchirurgen bevorzugt primär ossär
(Spenderregion: Fibula, Beckenkamm oder Scapula) rekonstruiert.
Tumoren der oralen Zunge ohne Infiltration der Nachbarstrukturen
Bei Verlust der kompletten oralen Zunge erfolgt die Rekonstruktion durch
Transposition eines infrahyoidalen Muskellappens (IHL) von beiden Seiten in
Kombination mit einem Unterarmtransplantat. Dabei werden die Muskellappen am
Hinterrand des M. mylohyoideus in die Mundhöhle verlagert, an der Muskulatur des
Zungengrunds und miteinander in der Mittellinie durch Naht fixiert. Zur Deckung der
transponierten Muskellappen wird ein Unterarmtransplantat aufgelegt und mit der
Schleimhaut der Restzunge sowie der Schleimhaut des Alveolarkamms vernäht ([Abb. 11a–f]). Obwohl es regelhaft zu einem
Einsprossen sensibler Nervenfasern aus der Peripherie in das Transplantat kommt,
kann eine Nervenanastomose zwischen dem N. lingualis und einem sensiblen
Transplantatnerven die Qualität des taktilen Empfindungsvermögens verbessern.
Abb. 11 Rekonstruktion der kompletten oralen Zunge. a
Präparation der infrahyoidalen Muskelfaszienlappen. b Verlagerung der
Muskellappen am Hinterrand des M. mylohyoideus in die Mundhöhle. c
Fixierung der Muskellappen miteinander in der Mittellinie und am Zungengrund
durch Nähte. d Auflegen und Vernähen des Unterarmtransplantats mit
der Schleimhaut der Restzunge sowie der Schleimhaut des Alveolarkamms
(schematische Zeichnung). e Auflegen und Vernähen des
Unterarmtransplantats mit der Schleimhaut der Restzunge sowie der
Schleimhaut des Alveolarkamms. f 12 Monate postoperativ; 1 =
Zungenrest; 2 = neurovaskulärer infrahyoidaler Muskelfaszienlappen; 3 =
Unterarmtransplantat. Quelle: Remmert S. Expertise Funktionelle
Wiederherstellung der oberen Luft- und Speisewege. Stuttgart : Thieme; 2015.
DOI:10.1055/b-005-143303.
Tumoren des Zungengrunds ohne Infiltration der Nachbarstrukturen
Bei der kompletten Resektion des Zungengrunds ist durch den Verlust beider
Zungenarterien der orale Zungenanteil nicht mehr durchblutet. Dieser tumorfreie,
funktionell wichtige Zungenrest kann durch Interposition eines Venensegments
zwischen die Arterienstümpfe einer Seite reperfundiert und erhalten werden. Durch
Protektion einzelner Fasern des N. hypoglossus ist eine Restmotorik zu erwarten. Der
Zungengrund wird durch die Transposition eines IHL von beiden Seiten in Kombination
mit einem Unterarmtransplantat rekonstruiert. Dabei werden die Muskellappen an der
Muskulatur des oralen Zungenrests und miteinander in der Mittellinie durch Naht
fixiert. Für eine stabile Zuggurtung des neuen Zungengrunds über dem Kehlkopfeingang
wird der obere Bauch des M. omohyoideus um 90° in die Tonsillenloge rotiert und
eingenäht. So erhält man eine sichere Protektion des Larynxeingangs zur Vermeidung
von Aspirationen. Zur Deckung der transponierten Muskellappen wird ein
Unterarmtransplantat aufgelegt und mit der Schleimhaut der Restzunge sowie der
lateralen Oropharynxwände vernäht ([Abb.
12a–g]).
Abb. 12 Rekonstruktion des kompletten Zungengrunds. a
Rekonstruktion der A. lingualis mit Veneninterponat. b Rekonstruktion
der A. lingualis mit Veneninterponat (schematische Zeichnung). c
Verlagerung der Muskellappen. d 90 °-Rotation des oberen Bauches des
M. omohyoideus in die Tonsillenloge beidseits. e Rekonstruktion der
Schleimhaut mit einem Unterarmtransplantat. f Rekonstruktion der
Schleimhaut mit einem Unterarmtransplantat (schematische Zeichnung).
g 12 Monate postoperativ. Die orale Restzunge zeigt einen
diskreten Volumenverlust. 1 = Veneninterponat zur Rekonstruktion der A.
lingualis; 2 = tumorfreie Restzunge; 3 = neurovaskulärer infrahyoidaler
Muskellappen; 4 = oberer Bauch des M. omohyoideus; 5 = Unterarmtransplantat.
Quelle: Remmert S. Expertise Funktionelle Wiederherstellung der oberen Luft-
und Speisewege. Stuttgart : Thieme; 2015. DOI:10.1055/b-005-143303.
Tumoren des Zungengrunds mit Infiltration der Nachbarstrukturen
Zungengrunddefekte können mit Gewebeverlusten im Bereich des weichen Gaumens, der
lateralen Oropharynxwand, der Supraglottis oder des Unterkiefers kombiniert sein.
Bei Beteiligung der laterale Oropharynxwand muss das Unterarmtransplantat für den
Schleimhautersatz des Zungengrunds entsprechend größer geplant und geformt werden
([Abb. 13]). Diese zusätzlichen
Transplantatanteile werden in die Oropharynxwand oder den Gaumenbereich eingenäht.
Bei Mitbeteiligung des Unterkiefers entnimmt und modelliert der MKG-Chirurg
zusätzlich ein gefäßgestieltes Knochentransplantat und interponiert es in den
Defekt. Die Rekonstruktionen werden grundsätzlich von innen nach außen durchgeführt.
Dabei wird nach der Resektion des Tumors das Zungengrundvolumen zunächst mit einem
IHL aufgefüllt und die Schleimhaut des Zungengrunds sowie der weiche Gaumen mit
einem Unterarmtransplantat rekonstruiert. Den Abschluss der rekonstruktiven
Maßnahmen bildet die Interposition des Knochentransplantats mittels Osteosynthese.
Selbst 18 Monate nach der Operation und postoperativer Strahlentherapie treten keine
nennenswerten Transplantatschrumpfungen auf. Der rekonstruierte weiche Gaumen behält
seine funktionell wichtige Flexibilität und sein Volumen ([Abb. 14a–f]).
Abb. 13 Unterarmtransplantat zur Rekonstruktion des Zungengrunds und
des weichen Gaumens. Die gestrichelten Linien zeigen die Achsen, um die das
Transplantat gedreht werden muss (Pfeile). 1=Zungengrund 2=weicher Gaumen.
Quelle: Remmert S. Expertise Funktionelle Wiederherstellung der oberen Luft-
und Speisewege. Stuttgart : Thieme; 2015. DOI:10.1055/b-005-143303.
Abb. 14 Rekonstruktion des kompletten Zungengrunds, des weichen
Gaumens und des Unterkiefers. a Resektionsdefekt. b Weichteil-
und Knochenresektat. c Form des Unterarmtransplantats. d In
den Gaumen- und Zungengrunddefekt eingenähtes Unterarmtransplantat. e
Osteosynthese eines Fibulatransplantats. f 18 Monate postoperativ.
Quelle: Remmert S. Expertise Funktionelle Wiederherstellung der oberen Luft-
und Speisewege. Stuttgart : Thieme; 2015. DOI:10.1055/b-005-143303.
Tumoren der oralen Zunge und des Zungengrunds ohne Infiltration der
Nachbarstrukturen
Bei einer kompletten Glossektomie wird die Zunge mittels Transposition eines IHL von
beiden Seiten, in Kombination mit einem Unterarmtransplantat rekonstruiert. Dabei
werden die Muskellappen miteinander in der Mittellinie und am präepiglottischen
Gewebe mit Nähten fixiert. Für eine stabile Zuggurtung des neuen Zungengrunds über
dem Kehlkopfeingang wird der obere Bauch des M. omohyoideus um 90° in die
Tonsillenloge rotiert und eingenäht. Zur Deckung der transponierten Muskellappen
legt man ein Unterarmtransplantat auf und vernäht dieses mit der Schleimhaut der
Gingiva sowie der lateralen Oropharynxwände. Der Gefäßstiel wird am Hinterrand des
M. mylohyoideus in die Gefäßscheide geführt ([Abb.
15a–g]).
Abb. 15 Rekonstruktion nach kompletter Glossektomie ohne Beteiligung
von Nachbarstrukturen. a Transposition des infrahyoidalen
Muskelfaszienlappens (schematische Darstellung). b Fixierung der
Muskellappen miteinander in der Mittellinie und am präepiglottischen Gewebe.
c Aufbau des muskulären Zungenkörpers. d Zuggurtung des
neuen Zungengrunds. e Rekonstruktion der Zungenschleimhaut. f
Rekonstruktion der Zungenschleimhaut und der Umschlagsfalten. g 18
Monate postoperativ. 1 = Epiglottis; 2 = neurovaskulärer infrahyoidaler
Muskelfaszienlappen; 3 = Ansa cervicalis; 4 = oberer Bauch des M.
omohyoideus; 5 = Unterarmtransplantat; 6 = Gefäßstiel; 7 = M. mylohyoideus.
Quelle: Remmert S. Expertise Funktionelle Wiederherstellung der oberen Luft-
und Speisewege. Stuttgart : Thieme; 2015. DOI:10.1055/b-005-143303.
Ziel der Wiederherstellung eines normalen Zungengrund- und oralen Zungenvolumens mit
Ausformung einer Zungenspitze sowie eines Glossoalveolarsulkus ist die
Gewährleistung der Larynxprotektion und der Verschlussmöglichkeit des Isthmus
faucium. Darüber hinaus muss die Rekonstruktion eine passive Mobilität der Neozunge
zum Kontakt mit dem Gaumen und mit der vorderen Zahnreihe ermöglichen. Diese passive
Mobilität erfolgt über Kontraktion funktioneller Restmuskulatur im Bereich des
Mundbodens und des Pharynx. Die motorische Innervation der transponierten Muskulatur
soll langfristig eine Atrophie verhindern.
Tumoren der oralen Zunge und des Zungengrunds mit Infiltration der
Nachbarstrukturen
Komplette Glossektomien können mit Gewebeverlusten im Bereich des Mundbodens und der
Gingiva mit oder ohne Beteiligung des Unterkiefers, mit Defekten im Bereich der
Supraglottis und mit Defekten der lateralen Oropharynxwand kombiniert sein.
Die Rekonstruktion eines funktionsfähigen Glossoalveolarsulkus wird in Fällen
größerer Verluste des Mundbodens und der Gingiva mit freiliegendem Unterkiefer mit
dem, für den Schleimhautersatz der resezierten Zunge notwendigem,
Unterarmtransplantat durchgeführt. Bei Mitbeteiligung der lateralen Oropharynxwand
kann das Unterarmtransplantat, ähnlich wie in ([Abb. 16]) dargestellt, geplant, entnommen und eingenäht werden.
Abb. 16 Unterarmtransplantatplanung für Rekonstruktionen des
Zungengrunds, der oralen Zunge und des weichen Gaumens. 1=weicher Gaumen
2=Zungengrund 3=orale Zunge. Quelle: Remmert S. Expertise Funktionelle
Wiederherstellung der oberen Luft- und Speisewege. Stuttgart : Thieme; 2015.
DOI:10.1055/b-005-143303.
In Fällen einer Mitbeteiligung des Unterkiefers wird ein Knochentransplantat
entnommen, modelliert und in den Defekt interponiert. Dabei sollte zusätzlich eine
Hautinsel zur Rekonstruktion der Gingiva mit in die Transplantatentnahme einbezogen
werden. Durch den getrennten Ersatz der Zungenschleimhaut (Unterarmtransplantat) und
der Gingiva (Hautinsel des Knochentransplantats) lässt sich ein Glossoalveolarsulkus
ausformen ([Abb. 17a–c]).
Abb. 17 Rekonstruktion nach kompletter Glossektomie und
Unterkieferteilresektion. a Defekt nach Tumorresektion. b
Osteosynthese des Fibulatransplantats und Ausformung des
Glossoalveolarsulkus nach Rekonstruktion der Zunge durch neurovaskulären
infrahyoidalen Muskelfaszienlappen beidseits und durch Unterarmtransplantat.
c 24 Monate postoperativ. Quelle: Remmert S. Expertise
Funktionelle Wiederherstellung der oberen Luft- und Speisewege. Stuttgart :
Thieme; 2015. DOI:10.1055/b-005-143303.
Ist die Transposition des IHL nach Voroperation und/oder nach Bestrahlung nicht
möglich, kann zur Rekonstruktion der kompletten Zunge und der lateralen
Oropharynxwand ein kombiniertes Transplantat (Latissimus dorsi- und
Skapulatransplantat) an einem Gefäßstiel eingesetzt werden.
Die Hautinsel des Latissimus dorsi Transplantats sollte hierbei 1–2cm größer als der
darunterliegende Muskel umschnitten werden. Dieser muskelfreie Hautbezirk wird durch
Diffusion ernährt und ist Voraussetzung zur Ausformung des Zungenkörpers und eines
Glossoalveolarsulkus. Durch Resektion von Burow-Dreiecken im Hautniveau lassen sich
die Zungenspitze und der Mundboden modellieren.
Aus dem kutanen Skapulatransplant erfolgt der Aufbau der Oropharynxwand ([Abb. 18a–d]).
Abb. 18 Rekonstruktion nach kompletter Glossektomie und
Gaumenteilresektion (Rezidiveingriff). a Kombination aus myokutanem
Latissimus-dorsi-Transplantat und kutanem Skapulatransplantat an einem
gemeinsamen Gefäßstiel. b Umformung eines
Latissimus-dorsi-Transplantats zur Zunge (schematische Darstellung).
c Aufbau des weichen Gaumens und der Zunge. d 12 Monate
postoperativ. 1 = Skapulatranplantat; 2 = Latissimus-dorsi-Transplantat; 3 =
Gefäßstiel; 4 = motorischer Nerv des M. latissimus-dorsi; 5 = weicher Gaumen
(Skapulatransplantat); 6 = Zunge mit Mundboden (M.
latissimus-dorsi-Transplantat). Quelle: Remmert S. Expertise Funktionelle
Wiederherstellung der oberen Luft- und Speisewege. Stuttgart : Thieme; 2015.
DOI:10.1055/b-005-143303.
Defekte des weichen Gaumens
Für die Wiederherstellung der Anatomie sowie der Funktion des weichen Gaumens müssen
folgende Rekonstruktionsparameter in die Planung der Rekonstruktionsmethode
eingehen:
-
Adäquater Volumenersatz für das Gaumensegel
-
Gewährleistung eines dorsalen Abschlusses der Mundhöhle als Voraussetzung für
das Bolushaltevermögen
-
Flexibilität und Mobilität des rekonstruierten Gaumens zum nasopharyngealen
Abschluss
Tumoren des Gaumens ohne Infiltration der Nachbarstrukturen
Für komplette Gaumendefekte ist das Unterarmtransplantat das Gewebe der Wahl [69]
[70]
[71]
[72]. Dieses Transplantat erfüllt in vollem
Umfang die eingangs erwähnten erforderlichen Rekonstruktionsparameter. Um auch bei
diesen Resektionen eine Vernarbung infolge sekundäre Epithelialisation zu vermeiden,
sollte das Transplantat gefaltet werden. So kann auch die Gaumenrückseite primär mit
einem Epithel rekonstruiert werden. Dabei muss die Planung der Form und der Größe
des Transplantats berücksichtigen, dass die Faltung in Längsrichtung um den
Gefäßstiel erfolgen muss. Eine Faltung quer zum Gefäßstiel knickt diesen ab und
gefährdet die Durchblutung hochgradig, speziell die venöse Drainage ([Abb. 19]).
Abb. 19 Transplantatplanung für die Rekonstruktion des kompletten
weichen Gaumens. Bei der Faltung des Transplantats (Pfeile) muss der Verlauf
des Gefäßstiels beachtet werden. Quelle: Remmert S. Expertise Funktionelle
Wiederherstellung der oberen Luft- und Speisewege. Stuttgart : Thieme; 2015.
DOI:10.1055/b-005-143303.
Die Einarbeitung des Transplantats in den Defekt erfolgt in der Regel transoral.
Dabei muss zunächst die Haut für die Gaumenrückfläche mit Einzelknopfnähten am
oberen Defektrand fixiert werden. Sukzessiv folgen weitere Hinterwandnähte entlang
der lateralen und medialen Defektränder. Nach Umschlagen des Transplantats lassen
sich leicht die Nähte der Gaumenvorderwand platzieren.
Als Alternative für die Naht der Gaumenrückfläche können auch Fäden vorgelegt werden.
Die ([Abb. 20a–d]) zeigen dieses Vorgehen
nach einer laserchirurgischen kompletten Gaumenresektion ohne Rekonstruktion auf
Grund eines Plattenepithelkarzinoms. Um die velopharyngeale Insuffizienz mit allen
resultierenden Funktionseinbußen zu beheben, wurde der weiche Gaumen sekundär
rekonstruiert. Die ([Abb. 20d]) demonstriert
das postoperative Ergebnis mit einem sehr guten Gaumenvolumen, bei dem eine hohe
Flexibilität und Funktionalität gegeben sind. Von der Zungenschubkraft werden hinter
dem rekonstruierten Velum ca. 60% des Normaldrucks aufgebaut mit einem nach unten
gerichteten Druckgefälle [72].
Da bei Sekundärrekonstruktionen meistens keine Nachbestrahlung erfolgt, kann es zu
mehr oder weniger störender Behaarung des Transplantats kommen ([Abb. 20e]).
Nach Bestrahlung sieht man dieses Phänomen nicht, da die Hautanhangsgebilde zerstört
werden. Das Volumen und die Flexibilität und damit die Funktionalität bleiben
dagegen nahezu unbeeinflusst ([Abb. 21]).
Abb. 20 Zustand nach laserchirurgischer Resektion des kompletten
weichen Gaumens. a Ohne Rekonstruktion mit velopalatinaler
Insuffizienz und permanenten Schluckstörungen. Die Pfeile zeigen die
funktionslose Narbenplatte. b Vorgelegte Fäden zur Fixierung der
Transplantathaut auf der Gaumenrückfläche. c Unterarmtransplantat zur
sekundären Gaumenrekonstruktion. Die Haut wird zur Ausformung der
Gaumenvorder und -rückfläche um die Längsachse des Gefäßstiels gefaltet.
d In den Defekt eingearbeitetes gefaltetes Unterarmtransplantat.
e 1 Jahr nach sekundärer Gaumenrekonstruktion mit einem
Unterarmtransplantat. Quelle: Remmert S. Expertise Funktionelle
Wiederherstellung der oberen Luft- und Speisewege. Stuttgart : Thieme; 2015.
DOI:10.1055/b-005-143303.
Abb. 21 Rekonstruktion des kompletten weichen Gaumens mit einem
Unterarmtransplantat. Zustand 2 Jahre nach der Operation und Bestrahlung.
Das Volumen ist unwesentlich reduziert, ohne funktionelle Einbußen. Quelle:
Remmert S. Expertise Funktionelle Wiederherstellung der oberen Luft- und
Speisewege. Stuttgart : Thieme; 2015. DOI:10.1055/b-005-143303.
Tumoren des Gaumens mit Infiltration der Nachbarstrukturen
Am häufigsten infiltrieren die Karzinome des weichen Gaumens die Tonsillenloge und
die Pharynxwände. In selteneren Fällen sind neben dem Weichgaumen auch alle
Oropharynxwände karzinominfiltriert. Dann entsteht in Folge der Resektion ein
sogenannter zirkulärer Oropharynxdefekt ([Abb.
22a]). Auch für diese Situation ist das Unterarmtransplantat auf Grund
seiner exzellenten Formbarkeit am besten geeignet. Es muss ein Transplantat von ca.
14cm Länge für die untere Oropharynxzirkumferenz und ca. 5–6cm Breite für die Höhe
des weichen Gaumens geplant werden. Da die Epipharynxzirkumferenz deutlich geringer
ist, kürzt man den oberen Transplantatrand entsprechend ein ([Abb. 22b]). Dann formt man zunächst ein Rohr
von 2–3cm Länge mit dem Epithel nach innen für den späterer Schleimhautersatz des
Oropharynx. Anschließend werden die freien, nicht vernähten Transplantatecken
zurückgeschlagen und in der Mitte miteinander vernäht. So resultiert eine
epithelisierte Gaumenvorderfläche. Die Modellierung erfolgt am noch intakten
Gefäßstiel am Unterarm ([Abb. 22c]). Nach
Dissektion der Gefäße wird das umgeformte Transplantat in den Defekt eingenäht
([Abb. 22d]). Es behält auch nach
postoperativer Bestrahlung seine Form und gewährleistet eine suffiziente
velopalatinale Verschlussfunktion ohne nasale Regurgitation und ohne Rhinophonia
aperta ([Abb. 22e]).
Abb. 22 Zirkulärer Oropharynxdefekt nach Resektion eines T
4-Gaumenkarzinoms. a Defekt. b Transplantatformung
(schematische Darstellung). c Transplantatformung am intakten
Gefäßstiel im Unterarmbereich. Die Injektionsspritze dient als Platzhalter
zur Ausformung der Epipharynxzirkumferenz. d Einarbeitung des
vorgeformten Transplantats in den Defekt. e Zustand 2 Jahre nach
Operation und Bestrahlung. Quelle: Remmert S. Expertise Funktionelle
Wiederherstellung der oberen Luft- und Speisewege. Stuttgart : Thieme; 2015.
DOI:10.1055/b-005-143303.
Bei einer knöchernen Beteiligung ist meistens der Unterkieferwinkel von
Karzinominfiltrationen betroffen. Mit ausreichendem Sicherheitsabstand muss der
Knochen en bloc mit dem Weichteiltumor reseziert werden. Das Zungengrundvolumen wird
mit einem IHL aufgebaut. Die Wiederherstellung der Zungengrundschleimhaut, der
lateralen Oropharynxwand, der Tonsillenloge sowie des weichen Gaumens erfolgt durch
ein Unterarmtransplantat. Den Abschluss der rekonstruktiven Maßnahmen bildet die
osteosynthetische Wiederherstellung der Unterkieferkontinuität mit einem
gefäßgestielten Knochentransplantat. Das kosmetische Ergebnis 15 Monate nach der
Operation zeigt eine symmetrische Unterkieferkontur ([Abb. 23a–e]).
Abb. 23 Rekonstruktion nach Gaumenkarzinom mit Infiltration der
Tonsillenloge, der lateralen Oropharynxwand, des Zungengrunds und des
Unterkieferwinkels (T 4). a Tumorresektat. b Resektionsdefekt.
c Weichteilrekonstruktion mit neurovaskulärem infrahyoidalem
Muskelfaszienlappen und Unterarmtransplantat. d
Unterkieferrekonstruktion mit Fibulatransplantat. e Postoperatives
kosmetisches Ergebnis nach 2 Jahren. 1 = Zungengrunddefekt; 2 = Defekt der
Tonsillenloge; 3 = Defekt der lateralen Oropharynxwand; 4 = Epiglottis; 5 =
Defekt des Unterkiefers. Quelle: Remmert S. Expertise Funktionelle
Wiederherstellung der oberen Luft- und Speisewege. Stuttgart : Thieme; 2015.
DOI:10.1055/b-005-143303.
Defekte des Kehlkopfs und des Schlunds
Nach ausgedehnten Teilresektionen im Rahmen von T3- und T4-Tumoren unterscheiden sich
die Ziele und die Art der rekonstruktiven Maßnahmen und die Dauer der postoperativen
Rehabilitation von denen nach komplettem Organverlust.
Rekonstruktionen nach Kehlkopfteilresektionen sind kompliziert und komplex. Sie
sollen die Phonation und die Trennfunktion des Kehlkopfes für einen
aspirationsfreien Schluckakt wiederherstellen und sind nötig, wenn mindestens ein
Arytenoidknorpel reseziert wurde oder Defekte im Schild- oder Ringknorpel die
Stabilität des Kehlkopfgerüsts gefährden. Die Funktionswiederkehr, vor allem ein
aspirationsfreies Schluckvermögen, erfordert meistens einen langwierigen
Trainingsprozess von Wochen bis Monaten und eine hohe Compliance des Patienten.
Rekonstruktionsmethoden nach Laryngektomie ohne Resektionen von Nachbarstrukturen
(Pharynx, Zungengrund) sind ausschließlich auf die Erzeugung des primären
Stimmschalls ausgerichtet. Alle Methoden der operativen Stimmrehabilitation sind
„Stimmshunts“. In dieser Eigenschaft heben sie die Separation des Luft- und
Speiseweges wieder auf, wodurch potentiell die Gefahr von Aspirationen entsteht. Die
Rehabilitationsphase von einigen Tagen bis Wochen bis zur Wiederkehr der Phonation
ist in der Regel kurz.
Tumoren des Larynx mit Infiltration von Nachbarstrukturen (Pharynx)
Bei fortgeschrittenen Tumoren des Larynx und des Pharynx ist die quere
Laryngopharyngektomie auch weiterhin Bestandteil der therapeutischen Optionen. Vor
allem bei jüngeren Patienten kann man mit Hilfe der modernen rekonstruktiven
Möglichkeiten in einer kurzen Rehabilitationszeit eine deutliche Verbesserung der
Lebensqualität erzielen.
Die rekonstruktiven Maßnahmen sind dabei auf die Schluck- und die Stimmrehabilitation
ausgerichtet. Beide Ziele lassen sich sehr gut mit einer Kombination aus einem
Unterarmtransplantat und einer Stimmprothese erreichen.
Nach erfolgter querer Laryngopharyngektomie wird in Höhe des Tracheostomas eine
Stimmprothese platziert. Die Prothese sollte unterhalb des zu rekonstruierenden
Pharynxdefekts in der tumorfreien Ösophagusvorderwand zu liegen kommen ([Abb. 24a]).
Abb. 24 Quere Laryngopharyngektomie, Rekonstruktion mit
Unterarmtransplantat und Stimmprothese. a Platzierung der
Stimmprothese (Pfeil). b Rekonstruktion des Pharynxschlauchs: vor
vertikaler Naht. c Rekonstruktion des Pharynxschlauchs: nach
vertikaler Naht. d Postoperative Kontrastmitteluntersuchung nach
Rekonstruktion mit einem Unterarmtransplantat. Die rot gepunkteten Linien
kennzeichnen den Neopharynx. 1 = Neopharynx; 2 = zirkulär-horizontal
verlaufender Gefäßstiel; 3 = Trachea. Quelle: Remmert S. Expertise
Funktionelle Wiederherstellung der oberen Luft- und Speisewege. Stuttgart :
Thieme; 2015. DOI:10.1055/b-005-143303.
Mit einem Unterarmtransplantat wird anschließend die Kontinuität des Speisewegs
wiederhergestellt. Für ein weites Pharynxrohr muss ein 8–10cm x 5–6cm großes
Transplantat gehoben und quer zwischen dem Oropharynx und dem Ösophaguseingang
eingenäht werden. Der Verschluss zu einem Rohr erfolgt durch Einzelknopfnähte in
vertikaler Richtung. Dabei zieht der Gefäßstiel in einem zirkulär- horizontalen
Verlauf um den Neopharynx. Mit den angegebenen Transplantatdimensionen lässt sich
ein ausreichend weiter Speiseweg rekonstruieren. Der Überschuss der Zirkumferenz für
die Anastomose mit dem Ösophagus sollte nicht oder nur sehr begrenzt reduziert
werden, um Stenosen vorzubeugen ([Abb.
24a–d]).
Ein weiteres geeignetes Transplantat für die Rekonstruktion des Speisewegs ist das
Jejunumtransplantat. Es bietet eine fast unbegrenzte Transplantatlänge, ist ein
Schleimhauttransplantat und rohrförmig ([Abb.
25a]). Diese Eigenschaften nutzend kann zur Rekonstruktion des zervikalen
Speiseweges mit gleichzeitigem Aufbau eines Stimmshunts ein überlanges
Jejunumsegment eingesetzt werden [73]. Nach
querer Laryngopharyngektomie ist der Speiseweg vom Zungengrund bis zum
Ösophaguseingang unterbrochen. Im Unterschied zur klassischen Laryngektomie werden
1–2 Knorpelspangen oberhalb des Tracheostomas als Trachealkamin erhalten. Zur
Anpassung an die Oropharynxzirkumferenz muss das aborale Ende des
Jejunumtransplantats gegenüber dem mesenterialen Fett in Längsrichtung inzidiert
werden. Dadurch bleibt die Gefäßversorgung gewährleistet und eine trichterförmige
Anastomose mit der Oropharynxschleimhaut ist möglich. Diese erfolgt mit
durchgreifenden Einzelknopfnähten durch alle Wandschichten des Transplantats. Eine
zweite fortlaufende Naht zwischen der Dünndarmserosa und der Oropharynxmuskulatur
komplettiert die orale Anastomose.
Abb. 25 Quere Laryngopharyngektomie, Rekonstruktion des
Pharynxschlauchs und Aufbau eines Stimm-Shunt mit Jejunumtransplantat.
a Überlanges Jejunumtransplantat mit Fadenmarkierung des aboralen
Endes. b Resektionsdefekt. c Längsinzision des aboralen
Darmendes und trichterförmige Anastomose mit der Oropharynxschleimhaut.
d End-zu-Seit-Anastomose mit dem Ösophaguseingang nach 180
°-Wendung und Inzision des Jejunumtransplantats. e Biventerzügel.
f Neopharynx und Stimm-Shunt (schematische Darstellung). g
Neopharynx und Stimm-Shunt. 1 = Ösophaguseingang; 2 = Trachealkamin; 3 =
Zungengrund; 4 = prävertebrale Faszie; 5 = Neopharynx; 6 = Stimmshunt.
Quelle: Remmert S. Expertise Funktionelle Wiederherstellung der oberen Luft-
und Speisewege. Stuttgart : Thieme; 2015. DOI:10.1055/b-005-143303.
Unter Vorspannung wird das Jejunumrohr anschließend abwärtsführend auf der
prävertebralen Faszie mit Nähten fixiert und auf Höhe des Ösophaguseingangs
(kaudaler Hypopharynxresektionsrand) um 180° gewendet. An der Knickstelle erfolgt
nach querer Inzision des Darmrohrs die zweischichtige Anastomose mit dem
Ösophaguseingang. Der jetzt aufwärtsgerichtete Darm wird unterhalb des Mundbodens
erneut um 180° gewendet und über einen Biventerzügel abwärts zum Trachealkamin
geführt. Dort bildet die Anastomose des oralen Darmendes mit dem Trachealkamin den
Abschluss der Rekonstruktion. Die Peristaltik und damit der Mukustransport sind von
der Trachea zum Neopharynx gerichtet ([Abb.
26a–g]).
Abb. 27 Sekundärrekonstruktion nach kompletter Glossektomie,
Unterkieferteilresektion und Rekonstruktion mit Pectoralis-major-Lappen.
a Präoperative Analyse: Funktionseinbußen (1, 2 und 3) und
mangelhafte Ästhetik. b Präoperative Analyse: atropher
Pectoralis-major-Lappen als Zungenersatz. c Rekonstruktion:
Beckenkammtransplantat mit M. obliquus internus abdominis. d
Rekonstruktion: Beckenkammtransplantat mit M. obliquus internus abdominis
nach Umformung. e Rekonstruktion: Wiederherstellung der
Unterkieferkontinuität und Aufbau eines neuen Mundbodens. f
Rekonstruktion: Präparation der neurovaskulären infrahyoidalen
Muskelfaszienlappen. g Ergebnis: Neozunge nach Augmentation mit
neurovaskulärem infrahyoidalem Muskelfaszienlappen. h Ergebnis:
suffizienter Mundschluss, physiologische Position des Kehlkopfs, keine
Nährsonde und normale Ästhetik. 1 = Mundschlussinsuffizienz infolge
fehlenden Unterkiefersupports; 2 = Kehlkopfverlagerung in den Schluckweg
infolge fehlender Larynxsuspension; 3 = Dauernährsonde. Quelle: Remmert S.
Expertise Funktionelle Wiederherstellung der oberen Luft- und Speisewege.
Stuttgart : Thieme; 2015. DOI:10.1055/b-005-143303.
Die Patienten beginnen in der Regel 10 Tage nach der Operation mit der oralen
Kostaufnahme und nach 14 Tagen mit dem Sprechtraining. Während der Exspiration wird
dabei durch Verschluss des Tracheostomas der Luftstrom über den Stimmshunt in den
Neohypopharynx geleitet. Durch Schwingungen des Systems kommt es zur Bildung eines
primären Stimmschalls. Die Patienten sind, wie nach Versorgung mit einer
Stimmprothese, vergleichbar schnell in der Lage zu sprechen.
In ca. 20% der Fälle von Larynx- und Pharynxkarzinomen treten Zweitkarzinome auf
[74]. Wird dieses Zweitkarzinom im
Ösophagus lokalisiert und simultan mit dem Larynx-Pharynxkarzinom diagnostiziert,
kann jungen Patienten mit nachhaltigem Operationswunsch in Einzelfällen ein
hochkomplexer interdisziplinärer Eingriff angeboten werden [75]
[76]
[77].
Dabei werden der Kehlkopf, der Schlund und die komplette Speiseröhre transzervikal
und transabdominal reseziert. Die Rekonstruktion des Speisewegs erfolgt mit dem an
der A. colica dextra gestielten Colon ascendens, der Aufbau des Stimmshunts mit dem
seitlich abgehenden terminalen Ileum. Da die Blutversorgung über die A. colica
dextra für die Versorgung des Dünndarmabschnitts nicht ausreicht, müssen
Mikrogefäßanastomosen der Aa. und Vv. ileales mit entsprechenden Halsgefäßen
erfolgen. Das Colon ascendens wird um 180° gedreht und kaudal End-zu-End mit dem
Magen anastomosiert. Nach Durchzug durch den Thorax in den Hals und einer Inzision
im Bereich des Zökums erfolgt eine End-zu-Seit-Anastomose mit den Oropharynxwänden.
Die Verbindung des Ileums mit der Trachea vollendet den Aufbau des Stimmshunts.
Dabei fungiert die Ileozökalklappe (Bauhini) als Neoglottis für die Phonation und
als Verschlussventil zur Aspirationsprophylaxe ([Abb. 26a-h]).
Abb. 26 Rekonstruktion bei Hypopharynx-Larynx-Karzinom mit simultanem
Zweitkarzinom im Ösophagus. a Tumorlokalisation (rote Punkte).
b Quere Laryngopharyngektomie mit Ösophagusresektion und
Rekonstruktionsplan. c Quere Laryngopharyngektomie mit
Ösophagusresektion (intraoperatives Bild). d Präparation des Colon
ascendens mit terminalem Ileum. e Nach Inzision des Zökums
End-zu-Seit-Anastomose mit dem Oropharynx. f Anastomose des Ileums
und der Trachea. g Rekonstruierter Speiseweg, Stimm-Shunt und
Neoglottis. h Ileozökalklappe als Neoglottis. 1 = Colon ascendens; 2
= Ileum; 3 = Rekonstruktion des Speisewegs mit Colon ascendens; 4 = Aufbau
des Stimmshunts mit terminalen Ileum; 5 = Ileozökalklappe als Neoglottis.
Quelle: Remmert S. Expertise Funktionelle Wiederherstellung der oberen Luft-
und Speisewege. Stuttgart : Thieme; 2015. DOI:10.1055/b-005-143303.
Gerade bei diesen komplexen Fällen und der Notwendigkeit der damit verbundenen
Funktionswiederherstellung wird das Potential der interdisziplinären Zusammenarbeit
besonders deutlich.
Welche Auswirkungen die fehlende interdisziplinäre Zusammenarbeit auf die
postoperative Funktion und die Lebensqualität hat, zeigt der nachfolgende Fall nach
Glossektomie und Unterkieferteilresektion.
Bei der Erstoperation erfolgten wegen eines T4- Karzinoms eine komplette Glossektomie
und die Resektion des knöchernen Kinns. Der intraorale Weichteildefekt wurde mit
einem Pektoralis-major-Lappen ohne Rekonstruktion des Unterkiefers verschlossen. Der
Patient war sechs Jahre schluckunfähig und konnte nicht verständlich sprechen.
Durch den fehlenden Unterkiefer hatten die Kinnweichteile keinen Support und fielen
nach unten. Das führte zu einer kompletten Mundschluss-Insuffizienz. Der Verlust der
vorderen Aufhängung am Unterkiefer (über die Mundbodenmuskulatur), hatte eine
Verlagerung des Larynx in den Schluckweg in Richtung Wirbelsäule zur Folge ([Abb. 27a]). Zusätzlich war eine
Larynxelevation während des Schluckakts unmöglich. In der Mundhöhle zeigte sich ein
atropher Pektoralis-major-Lappen ([Abb.
27b]). Ein Abschluss der Mundhöhle zum weichen Gaumen und damit ein
Bolushaltevermögen, wie auch der Bolustransport waren unmöglich.
Die Wiederherstellung der Unterkieferkontinuität erfolgte mit einem zusammengesetzten
osteomyokutanen Beckenkammtransplantat. Mit Hilfe von Keilexzisionen wurde der
Knochen der Form des Kinns angepasst. Der zum Transplantat zugehörige M. obliquus
internus abdominis ersetzte den Mundboden. Zwischen diesem neuen Diaphragma oris und
dem atrophen Pektoralis major Lappen wurden zwei IHL platziert und damit ein
ausreichendes Volumen der Neozunge als Stempel für den Bolustransport und als
Abschluss zum weichen Gaumen hergestellt.
Ein Larynxhochzug mit Fixation am rekonstruierten knöchernen Kinn stellte den
Kehlkopf in eine physiologische Schluckposition.
Die Rekonstruktion führte zu einer ästhetischen und funktionellen Rehabilitation mit
oraler Kostaufnahme und verständlicher Artikulation ([Abb. 27a–h]).
Mit den modernen Rekonstruktionsverfahren lassen sich nach Teil- und kompletten
Organverlusten die Anatomie wie auch die spezifischen Funktionen wiederherstellen.
Dabei spielt die entscheidende Rolle, vor allem für die Lebensqualität, dass
besonders bei komplexen Defekten die Therapieplanung, die operative Durchführung und
die Nachsorge interdisziplinär erfolgen.