Schlüsselwörter
Pflegebedürftigkeit - geriatrische Pflege - Pflegegrade - Pflegestärkungsgesetz - pflegende Angehörige
Key words
Need for care - geriatric care - levels of care - care levels - informal caregivers
ADL Aktivitäten des täglichen Lebens
IADL Instrumentelle Aktivitäten des täglichen Lebens
MD Medizinischer Dienst
OR Odds Ratio
pA pflegende*r Angehörige*r (Singular und Plural)
PB pflegebedürftige Person/en (Singular und Plural)
RUD Resource Utilization in Dementia-Instrument
Einleitung
Aufgrund des demographischen Wandels wurde zur Absicherung bei
Pflegebedürftigkeit und zur Stärkung häuslicher und
ambulanter Pflege 1995 die Pflegeversicherung als „fünfte
Säule“ der Sozialversicherung in Deutschland eingeführt. Die
Pflegeversicherung gilt als „Teilleistungsversicherung“ und soll
Pflegebedürftigkeit durch Geld- und Sachleistungen in Teilen kompensieren
[1]. Anspruchsberechtigung und Leistungen
der Pflegeversicherung sind im elften Buch des Sozialgesetzbuches (SGB XI)
gesetzlich festgelegt. Seit ihrer Einführung wurden die Rahmenbedingungen
der Pflegeversicherung fortlaufend diskutiert [2]. Insbesondere die Definition des Pflegebedürftigkeitsbegriffs
stand unter Kritik. Vor Inkrafttreten der Reform 2017 galten Personen
sozialrechtlich als pflegebedürftig, die aus somatischen Gründen wie
Krankheit oder Behinderungen Unterstützung bei der Verrichtung von
Aktivitäten des täglichen Lebens (ADL; z. B.
Körperpflege, Nahrungsaufnahme) benötigten. Psychische
Veränderungen und deren Folgen durch chronische Erkrankungen hatten weniger
Einfluss auf die damalige Einteilung in Pflegestufen [1]
[3]
Somit führte diese Definition des Pflegebedürftigkeitsbegriffs dazu,
dass der Unterstützungsbedarf bestimmter Personengruppen nicht angemessen
abgebildet wurde, wodurch diese seltener eine Pflegestufe und damit Sach- und
Geldleistungen des SGB XI als Entlastungsmaßnahmen erhielten [1]. Dazu zählten unter anderem Menschen
mit Demenz, die durch die Erkrankung neben der Hilfe bei ADL auch zunehmend auf die
Unterstützung bei instrumentellen Aktivitäten des täglichen
Lebens (IADL) – z. B. Mahlzeitenzubereitung, Einhaltung eines
Medikamentenplanes – angewiesen sind und häufig Beaufsichtigung zur
Vermeidung von Gefahrensituationen benötigen [4]. Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft e.V.
kritisierte das eingeschränkte Verständnis von
Pflegebedürftigkeit sowie die gesetzlich definierten
Anspruchsvoraussetzungen für Leistungen der Pflegeversicherung und forderte
eine Reform mit der Begründung, dass „‘Beaufsichtigung und
Betreuung’ nach wie vor keine 'Verrichtung' im Sinne des SGB
XI sind“ [5].
Mit dem zweiten Pflegestärkungsgesetz wurden durch die Weitung des
Pflegebedürftigkeitsbegriffs zusätzlich zu körperlichen auch
psychische und geistige Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit und
Fähigkeiten und somit eine ganzheitliche Betrachtung von
pflegebedürftigen Personen (PB) in den Vordergrund gerückt [3]
[6].
Damit einhergehend erfolgte der Einsatz eines neuen Begutachtungsinstrumentes, in
dessen Rahmen verschiedene Aspekte aus sechs Lebensbereichen durch eine
Punktevergabe zwischen 0 (kein Hilfebedarf) und 3 (voller Hilfebedarf) bewertet
werden, um eine Pflegegradeinstufung in fünf Abstufungen zu
ermöglichen (für nähere Informationen s. [7]). Durch diese Neuerung sollte eine noch
stärker am Bedarf orientierte Ausrichtung der Leistungen für PB
ermöglicht werden [1].
In der vorliegenden Arbeit soll analysiert werden, inwieweit sich die Pflegegrade
– gemäß der aktuellen Einteilung – in Hinblick auf
Charakteristika der PB, der pflegenden An- und Zugehörigen (pA) und der
Pflege- sowie Versorgungssituation unterscheiden. Ziel der Arbeit ist die Abbildung
des Ist-Zustandes sowie die Ableitung praktischer Implikationen, um eine
bedarfsgerechte Ausrichtung der Versorgung zu fokussieren.
Methodik
Stichprobe
Im Rahmen der Querschnittsstudie „Benefits of Being a Caregiver“
wurden im Zeitraum von Oktober 2019 bis März 2020 von 50
Pflegegutachtenden des Medizinischen Dienstes (MD) Bayern Fragebögen an
5.000 pA ausgehändigt. Die 50 Gutachtenden wurden vom MD Bayern
repräsentativ für das Bundesland ausgewählt. Eine
Begutachtung durch den MD ist gemäß des
Pflegestärkungsgesetzes (SGB XI) notwendig, wenn Versicherte einen
Erstantrag auf Pflegegradeinstufung oder einen Antrag auf Erhöhung des
Pflegegrads stellen. Nach der Begutachtung händigten die Gutachtenden
den pA die Befragungsunterlagen inklusive kostenfreien Rückkuverts ohne
Vorselektion aus – so lange, bis je Gutachtenden 100 Unterlagen verteilt
waren. Die Rücksendung der Fragebögen durch die pA erfolgte
freiwillig und auf Wunsch anonym. Insgesamt gingen 1082 ausgefüllte
Fragebögen mit dem Einverständnis zur anonymisierten
Datenverwendung bei der Studienzentrale Erlangen ein (Rücklaufquote
21,6%). Fälle, bei denen keine geriatrische Pflege vorlag (Alter
der PB<65; n=121) und Fälle mit fehlenden Werten
zur Versorgungssituation (n=3) wurden von der Auswertung
ausgeschlossen. Somit beruhen die Analysen der vorliegenden Arbeit auf 958
Datensätzen. Die vorliegende Studie wurde durch die Ethikkommission der
Medizinischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität
Erlangen-Nürnberg geprüft und freigegeben (Nr.: 220_20 B).
Instrumente
Der Fragebogen umfasste soziodemographische Angaben, Aspekte der Pflegesituation
und psychosoziale Aspekte, die mit Hilfe von Summenwertskalen erfasst wurden.
Zur Erfassung der soziodemographischen Daten wurden Alter und Geschlecht der pA
und der PB erhoben. Außerdem wurden der Pflegegrad der PB und die
Ursache(n) der Pflegebedürftigkeit (z. B. Demenz, Schlaganfall,
Krebs) zum Zeitpunkt der Begutachtung erfasst. Zusätzlich wurde die
Berufstätigkeit und der Bildungsstand der pA sowie das
Verwandtschaftsverhältnis zwischen pA und PB (die PB ist
Schwieger-/Elternteil versus anderes Beziehungsverhältnis)
erfasst. Zur Messung der gegenwärtigen subjektiven Pflegebelastung der
pA wurde die Kurzversion der Häusliche-Pflege-Skala (HPS-k; [8]) verwendet. Die HPS-k besteht aus 10
Items, die anhand einer vierstufigen Skala (0=stimmt nicht bis
3=stimmt genau) beantwortet werden (Range 0–30).
Dabei steht ein höherer Summenwert für eine stärkere
Belastung der pA [9]. Anhand der
„Benefits of Being a Caregiver“-Skala (BBCS; [10]) wurden Zugewinne durch die Pflege
(sogenannte Benefits) erfasst. Mittels 15 Items bewerteten die pA ihre Zugewinne
durch die häusliche Pflege anhand einer 5-stufigen Likertskala (von
0=trifft gar nicht zu bis 4=trifft voll zu).
Der Summenwert der Skala reicht von 0 bis 60, wobei höhere Werte auf
mehr Zugewinne durch die Pflege schließen lassen.
Bewältigungsstrategien der pA in Bezug auf die Pflegeanforderungen wurden
mit insgesamt sechs Items erfasst. Dabei wurden je zwei Items
(fünfstufig, von 0=trifft gar nicht zu bis
4=trifft voll zu) aus dem Brief COPE-Fragebogen für
vermeidendes, problemorientiertes und emotionsorientiertes Coping verwendet
(Wertebereich je Subskala 0–8) [11]. Die aktuelle und die frühere (vor Beginn der
Pflegebedürftigkeit) Beziehungsqualität zwischen pA und PB wurde
anhand von Emoticons verschiedener Kategorien (positives, neutrales oder
negatives Gesicht) eingeschätzt. Aufgrund der Annahme einer sozial
erwünschten Antworttendenz wurde davon ausgegangen, dass die neutralen
Einschätzungen eher als negativ zu werten sind. Daher erfolgte
für die Auswertung eine Dichotomisierung durch Zusammenfassen der
neutralen und der negativen Kategorie. Ferner wurde das vordergründige
Pflegemotiv der pA erfasst, indem diese aus sieben vorgegebenen Motiven
(z. B. Pflege aus Zuneigung, kein Pflegeplatz gefunden) das für
sie primäre auswählte.
Zur Abbildung der Pflegesituation erfolgte die Einschätzung der aktuellen
Pflegesituation und der aktuellen Bewältigung der Pflegesituation auf
einer 10-stufigen Skala (1=positiv bis 10=negativ
beziehungsweise 1=gelingt mir vollständig bis
10=gelingt mir gar nicht). Außerdem wurde das
Zusammenwohnen von pA und PB erfasst. Neben der Dauer der häuslichen
Pflege (in Monaten) wurde in Anlehnung an den Resource Utilization in Dementia
(RUD, [12]) die Zeit (in Stunden pro Tag)
erfasst, die die pA zur Unterstützung bei ADL (z. B.
Körperpflege) und IADL (z. B. Arzneimitteleinnahme) und zur
Beaufsichtigung der PB aufwendete. Ferner wurde aktuell vorhandene informelle
Hilfe (z. B. von Freunden, Angehörigen) sowie der Wunsch nach
mehr informeller Hilfe erfragt.
Zur Erfassung der Versorgungssituation gaben die pA gemäß des
Needs-Konzepts nach Stirling et al. [13]
zu 15 Unterstützungsangeboten (s. [Tab.
2]) an, ob sie das Angebot gegenwärtig nutzen (ja oder nein;
„expressed need“), ob sie den Wunsch nach einer
gegenwärtig intensiveren Nutzung haben (ja oder nein; „felt need
I“) oder – für den Fall, dass gegenwärtig keine
Nutzung erfolgte – ob der Wunsch nach zukünftiger Nutzung
besteht (ja oder nein; „felt need II“).
Tab. 2 Versorgungssituation in Hinblick auf die
tatsächlich erfolgte gegenwärtige Nutzung
(„expressed need“), auf den Wunsch nach
gegenwärtig intensiverer Nutzung („felt need
I“) und auf den Wunsch nach einer zukünftigen
Nutzung („felt need II“).
|
Pflegegrad
|
Variablen
|
Kohorte
|
kein
|
1
|
2
|
3
|
4
|
p
a,b
|
ES
c,d,e
|
|
M(SD) oder n (%)
(N=958)
|
M(SD) oder n (%)
(n=190)
|
M(SD)oder n (%)
(n=136)
|
M(SD)oder n (%)
(n=315)
|
M(SD) oder n (%)
(n=211)
|
M(SD) oder n (%)
(n=106)
|
|
|
Versorgungssituation
|
Expressed need
|
Ambulanter Pflegedienst (ja)b
|
368 (38,4)
|
32 (16,8)
|
50 (36,8)
|
119 (37,8)
|
101 (47,9)
|
66 (62,3)
|
0,006
|
2,84c
|
Betreuungsdienst (ja)b
|
48 (5,0)
|
6 (3,2)
|
3 (2,2)
|
12 (3,8)
|
16 (7,6)
|
11 (10,4)
|
0,040
|
5,13c
|
24-h Betreuung (ja)b
|
60 (6,3)
|
4 (2,1)
|
1 (0,7)
|
7 (2,2)
|
24 (11,4)
|
24 (22,6)
|
0,006
|
39,51c
|
Verhinderungspflege (ja)b
|
103 (10,8)
|
5 (2,6)
|
2 (1,5)
|
34 (10,8)
|
29 (13,7)
|
33 (31,1)
|
0,006
|
30,29c
|
Haushaltshilfe (ja)b
|
241 (25,2)
|
4 (2,1)
|
34 (25,0)
|
79 (25,1)
|
67 (31,8)
|
30 (28,3)
|
0,555
|
1,18c
|
Essen auf Rädern (ja)b
|
112 (11,7)
|
21 (11,1)
|
16 (11,8)
|
41 (13,0)
|
25 (11,8)
|
9 (8,5)
|
0,773
|
0,67c
|
Heilmittel/nicht-medikamentös
(ja)b
|
201 (21,0)
|
28 (14,7)
|
27 (19,9)
|
63 (20,0)
|
50 (23,7)
|
33 (31,1)
|
0,245
|
1,83c
|
Tagespflege (ja)b
|
70 (7,3)
|
5 (2,6)
|
2 (1,5)
|
20 (6,3)
|
22 (10,4)
|
21 (19,8)
|
0,006
|
16,55c
|
Betreuungsgruppe (ja)b
|
16 (1,7)
|
2 (1,1)
|
1 (0,7)
|
5 (1,6)
|
6 (2,8)
|
2 (1,9)
|
0,709
|
2,56c
|
Kurzzeitpflege (ja)b
|
59 (6,2)
|
2 (1,1)
|
3 (2,2)
|
14 (4,4)
|
18 (8,5)
|
22 (20,8)
|
0,006
|
11,61c
|
Angehörigenberatung (ja)b
|
66 (6,9)
|
6 (3,2)
|
6 (4,4)
|
27 (8,6)
|
19 (9,0)
|
8 (7,5)
|
0,615
|
1,77c
|
Angehörigengruppe (ja)b
|
23 (2,4)
|
1 (0,5)
|
2 (1,5)
|
7 (2,2)
|
8 (3,8)
|
5 (4,7)
|
0,550
|
3,32c
|
Pflegekurs (ja)b
|
25 (2,6)
|
3 (1,6)
|
2 (1,5)
|
7 (2,2)
|
5 (2,4)
|
8 (7,5)
|
0,661
|
5,47c
|
Fahrdienst (ja)b
|
99 (10,3)
|
14 (7,4)
|
11 (8,1)
|
25 (7,9)
|
28 (13,3)
|
21 (19,8)
|
0,015
|
2,81c
|
Ärztliche Versorgung (ja)b
|
409 (42,7)
|
59 (31,1)
|
41 (30,1)
|
134 (42,5)
|
104 (49,3)
|
71 (67,0)
|
0,006
|
4,70c
|
Anzahl genutzter
Unterstützungsangebotea
|
2,0 (1,9)
|
1,2 (1,5)
|
1,5 (1,5)
|
1,9 (1,8)
|
2,5 (1,9)
|
3,4 (1,9)
|
0,006
|
1,13d
|
Felt need I
|
Ambulanter Pflegedienst (ja)b
|
50 (5,2)
|
3 (1,6)
|
11 (8,1)
|
18 (5,7)
|
10 (4,7)
|
8 (7,5)
|
0,709
|
0,93c
|
Betreuungsdienst (ja)b
|
8 (0,8)
|
6 (3,2)
|
1 (0,7)
|
2 (0,6)
|
4 (1,9)
|
0 (0,0)
|
0,550
|
–f
|
24-h Betreuung (ja)b
|
4 (0,4)
|
0 (0,0)
|
0 (0,0)
|
1 (0,3)
|
2 (0,9
|
1 (0,9)
|
0,709
|
–f
|
Verhinderungspflege(ja)b
|
13 (1,4)
|
0 (0,0)
|
0 (0,0)
|
5 (1,6)
|
4 (1,9)
|
4 (3,8)
|
0,356
|
–f
|
Haushaltshilfe (ja)b
|
42 (4,4)
|
4 (2,1)
|
7 (5,1)
|
15 (4,8)
|
10 (4,7)
|
6 (5,7)
|
0,984
|
1,12c
|
Essen auf Rädern (ja)b
|
5 (0,5)
|
1 (0,5)
|
0 (0,0)
|
0 (0,0)
|
4 (1,9)
|
0 (0,0)
|
0,053
|
–f
|
Heilmittel/nicht-medikamentös(ja)b
|
23 (2,4)
|
5 (2,6)
|
3 (2,2)
|
8 (2,5)
|
5 (2,4)
|
2 (1,0)
|
0,984
|
0,85c
|
Tagespflege (ja)b
|
11 (1,1)
|
0 (0,0)
|
0 (0,0)
|
5 (1,6)
|
2 (0,9)
|
4 (3,8)
|
0,240
|
0,43c
|
Betreuungsgruppe (ja)b
|
1 (0,1)
|
0 (0,0)
|
0 (0,0)
|
1 (0,3)
|
0 (0,0)
|
0 (0,0)
|
0,773
|
–f
|
Kurzzeitpflege (ja)b
|
6 (0,6)
|
0 (0,0)
|
0 (0,0)
|
1 (0,3)
|
3 (1,4)
|
2 (1,0)
|
0,394
|
–f
|
Angehörigenberatung (ja)b
|
4 (0,4)
|
0 (0,0)
|
0 (0,0)
|
2 (0,6)
|
0 (0,0)
|
2 (1,9)
|
0,296
|
–f
|
Angehörigengruppe (ja)b
|
1 (0,1)
|
0 (0,0)
|
0 (0,0)
|
1 (0,3)
|
0 (0,0)
|
0 (0,0)
|
0,773
|
–f
|
Pflegekurs (ja)b
|
3 (0,3)
|
0 (0,0)
|
0 (0,0)
|
2 (0,6)
|
0 (0,0)
|
1 (0,9)
|
0,646
|
–f
|
Fahrdienst (ja)b
|
9 (0,9)
|
1 (0,5)
|
2 (1,5)
|
3 (1,0)
|
1 (0,5)
|
2 (1,9)
|
0,773
|
1,29c
|
Ärztliche Versorgung (ja)b
|
17 (1,8)
|
0 (0,0)
|
2 (1,5)
|
7 (2,2)
|
4 (1,9)
|
4 (3,8)
|
0,773
|
2,63c
|
Felt need II
|
Ambulanter Pflegedienst (ja)b
|
242 (25,3)
|
79 (41,6)
|
43 (31,6)
|
72 (22,9)
|
35 (16,6)
|
13 (12,3)
|
0,006
|
0,30c
|
Betreuungsdienst (ja)b
|
256 (26,7)
|
56 (29,5)
|
46 (33,8)
|
72 (22,9)
|
56 (26,5)
|
26 (24,5)
|
0,267
|
0,64c
|
24-h Betreuung (ja)b
|
151 (15,8)
|
21 (11,1)
|
26 (19,1)
|
47 (14,9)
|
38 (18,0)
|
19 (17,9)
|
0,773
|
0,92c
|
Verhinderungspflege (ja)b
|
304 (31,7)
|
67 (35,3)
|
49 (36,0)
|
98 (31,1)
|
70 (33,2)
|
20 (18,9)
|
0,083
|
0,41c
|
Haushaltshilfe (ja)b
|
336 (35,1)
|
85 (44,7)
|
58 (42,6)
|
113 (35,9)
|
50 (28,0)
|
21 (19,8)
|
0,006
|
0,33c
|
Essen auf Rädern (ja)b
|
202 (21,1)
|
49 (25,8)
|
34 (25,0)
|
68 (21,6)
|
36 (17,1)
|
15 (14,2)
|
0,267
|
0,50c
|
Heilmittel/nicht-medikamentös
(ja)b
|
200 (20,9)
|
48 (25,3)
|
41 (30,1)
|
62 (19,7)
|
34 (16,1)
|
15 (14,2)
|
0,018
|
0,38c
|
Tagespflege (ja)b
|
223 (23,3)
|
39 (20,5)
|
36 (26,5)
|
79 (25,1)
|
51 (24,2)
|
18 (17,0)
|
0,550
|
0,57c
|
Betreuungsgruppe (ja)b
|
162 (16,9)
|
31 (16,3)
|
25 (18,4)
|
53 (16,8)
|
41 (19,4)
|
12 (11,3)
|
0,550
|
0,57c
|
Kurzzeitpflege (ja)b
|
250 (26,1)
|
47 (24,7)
|
39 (28,7)
|
84 (26,7)
|
60 (28,4)
|
20 (18,9)
|
0,516
|
0,58c
|
Angehörigenberatung (ja)b
|
231 (24,1)
|
56 (29,5)
|
37 (27,2)
|
72 (22,9)
|
47 (22,3)
|
19 (17,9)
|
0,611
|
0,58c
|
Angehörigengruppe(ja)b
|
109 (11,4)
|
28 (14,7)
|
15 (11,0)
|
33 (10,5)
|
23 (10,9)
|
10 (9,4)
|
0,984
|
0,84c
|
Pflegekurs (ja)b
|
147 (15,3)
|
31 (16,3)
|
20 (14,7)
|
45 (14,3)
|
35 (16,6)
|
16 (15,1)
|
0,957
|
1,03c
|
Fahrdienst (ja)b
|
235 (24,5)
|
48 (25,3)
|
41 (30,1)
|
81 (25,7)
|
50 (23,7)
|
15 (14,2)
|
0,102
|
0,38c
|
Ärztliche Versorgung (ja)b
|
125(13,09)
|
35 (18,4)
|
17 (12,5)
|
41 (13,0)
|
24 (11,4)
|
8 (7,5)
|
0,706
|
0,57c
|
Anmerkungen. Pflegegrad 5 wurde aufgrund der
Befragungsumstände als nicht plausible Angabe nicht
berücksichtigt. ES=Effektstärke.
aANOVA für metrische Variablen.
bχ²-Test für dichotome Variablen
(df=3; α=0,05). c Odds
Ratio für nicht-metrische Variablen. dCohen’s
d für metrische Variablen. eAlle ES sind
bezogen auf den Vergleich von Pflegegrad 1 und 4. fES nicht
berechenbar aufgrund von n=0 bei Pflegegrad 1
und/oder 4. Alle p-Werte sind bezogen auf den
Gruppenvergleich der Pflegegrade 1–4 unter Anwendung der
Benjamini-Hochberg Methode.
Statistische Analysen
Die statistischen Analysen erfolgten mit IBM SPSS Version 28.0. Zur deskriptiven
Beschreibung wurden absolute und relative Häufigkeiten, Mittelwerte und
Standardabweichungen für die gesamte Stichprobe sowie separat
für PB mit (noch) keinem Pflegegrad und für PB mit Pflegegrad 1
bis 4 berechnet. Da die Daten im Rahmen der Begutachtung von
Erstanträgen oder Anträgen auf Höherstufung des
Pflegegrades erhoben wurden, war ein Pflegegrad 5 zum Zeitpunkt der Befragung
nicht plausibel. Daher wurden Datensätze mit Pflegegrad 5 aus den
Analysen ausgeschlossen. Zur Untersuchung von deskriptiven Gruppenunterschieden
zwischen den Pflegegraden wurden χ2-Tests für
nicht-metrische Variablen und einfaktorielle Varianzanalysen (ANOVA) für
metrische Variablen berechnet. Das Signifikanzniveau wurde auf
α=0,05 festgelegt. Die Kategorie „kein
Pflegegrad“ wurde aufgrund der ausstehenden Pflegegradeinstufung sowie
der anzunehmenden heterogenen Ausprägung der Pflegebedürftigkeit
nicht in die Berechnung von Gruppenunterschieden einbezogen. Zur Korrektur der
Alpha-Fehler-Kumulierung bei multiplem Testen wurde die Benjamini-Hochberg
Methode [14] verwendet. Für
Variablen mit signifikanten Gruppenunterschieden wurden Effektstärken
für den Unterschied zwischen Pflegegrad 1 und Pflegegrad 4 berechnet.
Für nicht-metrische Variablen wurde Odds Ratio (OR) und für
metrische Variablen Cohen’s d berechnet. Ein OR=1,5
(beziehungsweise d=0,20) wird als kleiner, ein OR=2,5
(beziehungsweise d=0,50) als mittlerer und ein OR=4
(beziehungsweise d=0,80) als starker Effekt bezeichnet [15]
[16]
[17].
Ergebnisse
Variablen der häuslichen Pflege
Die Ergebnisse zu den Variablen der häuslichen Pflege werden unterteilt
in die Bereiche „Pflegebedürftige Person“ (PB),
„pflegende Angehörige“ (pA) und
„Pflegesituation“ ([Tab.
1]). In jedem der Bereiche werden zuerst die Variablen mit
signifikanten Unterschieden zwischen den Pflegegraden (1 bis 4) berichtet und
dann die Merkmale der Gesamtstichprobe, bei denen keine Abhängigkeit zu
den Pflegegraden festgestellt werden konnte.
Tab. 1 Charakteristika der Stichprobe im Hinblick auf die
pflegebedürftigen Personen, die pflegenden
Angehörigen und die Pflegesituation.
Variablen
|
|
Pflegegrad
|
|
Kohorte
|
kein
|
1
|
2
|
3
|
4
|
p
a,b
|
ESc,d,e
|
M(SD) oder n (%)
(N=958)
|
M(SD) oder n (%)
(n=190)
|
M(SD) oder n (%)
(n=136)
|
M(SD) oder n (%)
(n=315)
|
M(SD) oder n (%)
(n=211)
|
M(SD) oder n (%)
(n=106)
|
|
|
Pflegebedürftige Personen
|
Alter (Jahre)a
|
82,1 (7,0)
|
81,8 (7,0)
|
81,5 (6,0)
|
81,8 (7,1)
|
83,1 (7,3)
|
82,7 (7,5)
|
0,229
|
0,18d
|
Geschlecht (Frauen)b
|
642 (67,0)
|
131 (68,9)
|
98 (72,1)
|
214 (67,9)
|
126 (59,7)
|
73 (68,9)
|
0,229
|
1,17c
|
Erkrankungen
|
Demenz (ja)b
|
364 (38,0)
|
48 (25,3)
|
44 (32,4)
|
114 (36,2)
|
94 (44,5)
|
64 (60,4)
|
0,006
|
3,19c
|
Schlaganfall (ja)b
|
145 (15,1)
|
18 (9,5)
|
18 (13,2)
|
51 (16,2)
|
37 (17,5)
|
21 (19,8)
|
0,709
|
1,62c
|
Krebs (ja)b
|
121 (12,6)
|
21 (11,1)
|
17 (12,5)
|
40 (12,7)
|
28 (13,3)
|
15 (14,2)
|
0,984
|
1,15c
|
Altersschwäche (ja)b
|
538 (56,2)
|
107 (56,3)
|
88 (64,7)
|
169 (53,7)
|
116 (55,0)
|
58 (54,7)
|
0,363
|
0,66c
|
sonstige (ja)b
|
337 (35,3)
|
75 (39,5)
|
46 (33,8)
|
117 (37,3)
|
70 (33,3)
|
29 (27,4)
|
0,550
|
0,74c
|
Pflegende Angehörige
|
Alter (Jahre)a
|
62,1 (12,6)
|
62,5 (12,6)
|
60,6 (13,5)
|
62,2 (12,2)
|
62,5 (12,5)
|
62,1 (13,2)
|
0,728
|
0,11d
|
Geschlecht (Frauen)b
|
724 (75,6)
|
144 (75,8)
|
97 (71,3)
|
241 (76,5)
|
166 (78,7)
|
76 (71,7)
|
0,550
|
0,98c
|
Berufstätig (ja)b
|
459 (47,9)
|
92 (48,4)
|
69 (50,7)
|
152 (48,3)
|
97 (46,0)
|
49 (46,2)
|
0,908
|
0,84c
|
Bildung (Jahre)a
|
10,7 (2,7)
|
10,8 (2,8)
|
10,6 (2,5)
|
10,7 (2,7)
|
10,4 (2,3)
|
11,1 (3,1)
|
0,240
|
0,18d
|
Verwandschaftsverhältnis
(Schwieger-/Elternteil, ja)b
|
586 (61,2)
|
106 (55,8)
|
89 (65,4)
|
198 (62,9)
|
125 (59,2)
|
68 (64,2)
|
0,773
|
0,95c
|
Subjektive Pflegebelastunga,f
|
16,7 (7,5)
|
15,8 (7,6)
|
15,7 (7,6)
|
16,4 (7,3)
|
17,9 (12,3)
|
18,6 (7,1)
|
0,015
|
0,39d
|
Benefitsa,g
|
26,1 (12,3)
|
25,9 (12,4)
|
25,2 (12,1)
|
25,8 (12,3)
|
26,9 (12,3)
|
26,8 (12,8)
|
0,709
|
0,13d
|
Vermeidendes Copinga
|
6,2 (1,6)
|
6,0 (1,7)
|
6,1 (1,5)
|
6,3 (1,5)
|
6,1 (1,5)
|
6,3 (1,6)
|
0,468
|
0,13d
|
Problemorientiertes Copinga
|
4,0 (2,0)
|
3,9 (2,0)
|
4,0 (2,1)
|
3,8 (2,0)
|
4,3 (1,8)
|
4,5 (2,1)
|
0,025
|
0,29d
|
Emotionsorientiertes Copinga
|
3,7 (2,2)
|
3,6 (2,2)
|
3,6 (2,2)
|
3,6 (2,2)
|
3,8 (2,3)
|
4,3 (2,3)
|
0,132
|
0,31d
|
Aktuelle Beziehungsqualität (positiv)b
|
551 (57,5)
|
117 (61,6)
|
85 (62,5)
|
178 (56,5)
|
116 (55,0)
|
55 (51,9)
|
0,588
|
0,65c
|
Frühere Beziehungsqualität
(positiv)b
|
568 (59,3)
|
119 (62,6)
|
86 (63,2)
|
191 (60,6)
|
116 (55,0)
|
56 (52,8)
|
0,456
|
0,65c
|
Pflegemotiv
|
Zuneigung (ja)b
|
458 (47,8)
|
95 (50,0)
|
62 (45,6)
|
154 (48,9)
|
103 (48,8)
|
44 (41,5)
|
0,709
|
0,86c
|
Kein Pflegeplatz vorhanden (ja)b
|
19 (2,0)
|
2 (1,1)
|
4 (2,9)
|
6 (1,9)
|
5 (2,4)
|
2 (1,9)
|
0,957
|
0,64c
|
Gefühl der Verpflichtung (ja)b
|
321 (33,5)
|
73 (38,4)
|
43 (31,6)
|
101 (32,1)
|
75 (35,5)
|
29 (27,4)
|
0,709
|
0,82c
|
Pflegeplatz zu teuer (ja)b
|
41 (4,3)
|
6 (3,2)
|
7 (5,1)
|
12 (3,8)
|
11 (5,2)
|
5 (4,7)
|
0,936
|
0,91c
|
Wunsch der gepflegten Person (ja)b
|
198 (20,7)
|
30 (15,8)
|
25 (18,4)
|
69 (21,9)
|
48 (22,7)
|
26 (24,5)
|
0,773
|
1,44c
|
Wunsch, die PB nicht in ein Heim zu geben
(ja)b
|
235 (24,5)
|
31 (16,3)
|
31 (22,8)
|
66 (21,0)
|
64 (30,3)
|
43 (40,6)
|
0,006
|
2,31c
|
Pflegesituation
|
Zusammenwohnen (ja)b
|
505 (52,7)
|
89 (46,8)
|
59 (43,4)
|
155 (49,2)
|
132 (62,6)
|
70 (66,0)
|
0,006
|
2,54c
|
Pflegedauer (Monate)a
|
48,3 (78,6)
|
50,9 (69,3)
|
39,0 (40,5)
|
44,1 (78,5)
|
54,5 (108,3)
|
56,1 (57,6)
|
0,379
|
0,35d
|
ADL (Stunden/Tag)a
|
2,7 (2,2)
|
1,9 (1,8)
|
2,4 (2,4)
|
2,3 (1,8)
|
3,4 (2,3)
|
4,3 (2,9)
|
0,006
|
0,72d
|
IADL (Stunden/Tag)a
|
3,5 (2,3)
|
3,3 (2,5)
|
3,4 (2,3)
|
3,4 (2,3)
|
3,7 (2,0)
|
3,7 (2,0)
|
0,550
|
0,14d
|
Beaufsichtigung (Stunden/Tag)a
|
2,7 (3,3)
|
1,8 (2,6)
|
2,0 (2,7)
|
2,3 (2,8)
|
3,8 (3,7)
|
4,4 (4,0)
|
0,006
|
0,72d
|
Informelle Hilfe erhalten (ja)b
|
576 (60,1)
|
101 (53,2)
|
76 (55,9)
|
183 (58,1)
|
140 (66,4)
|
76 (71,7)
|
0,065
|
2,00c
|
Mehr informelle Hilfe erwünscht (ja)b
|
582 (60,8)
|
110 (57,9)
|
78 (57,4)
|
191 (60,6)
|
139 (65,9)
|
64 (60,4)
|
0,615
|
1,13c
|
Bewertung der Pflegesituationa
|
4,8 (2,1)
|
4,5 (2,0)
|
4,9 (2,2)
|
4,7 (2,0)
|
4,8 (2,1)
|
5,2 (2,4)
|
0,306
|
0,13d
|
Bewältigung der Pflegesituationa
|
3,1 (2,0)
|
3,1 (2,2)
|
3,6 (2,3)
|
2,9 (1,8)
|
3,0 (1,8)
|
3,2 (2,0)
|
0,018
|
-0,18d
|
Anmerkungen. Pflegegrad 5 wurde aufgrund der
Befragungsumstände als nicht plausible Angabe nicht
berücksichtigt. Vermeidende, emotionsfokussierte und
problemfokussierte Copingstrategien wurden mit je 2 Items des Brief COPE
Fragebogens erhoben. ES=Effektstärke;
PB=pflegebedürftige Person;
ADL=Aktivitäten des täglichen Lebens;
IADL=Instrumentelle Aktivitäten des täglichen
Lebens. aANOVA für metrische Variablen.
bχ²-Test für dichotome Variablen
(df=3, α=0,05). cOdds
Ratio für nicht-metrische Variablen. dCohen’s
d für metrische Variablen. eES bezogen auf
den Vergleich von Pflegegrad 1 und 4. fsubjektive
Pflegebelastung=HPS-k (Kurzfassung der
Häusliche-Pflege-Skala; Range: 0–30);
gBenefits=Benefits of Being a Caregiver-Skala (Range:
0–60). Alle p-Werte sind bezogen auf den Gruppenvergleich
der Pflegegrade 1–4 unter Anwendung der Benjamini-Hochberg
Methode.
Bei den Variablen der PB gab es nur für den Anteil von Demenzerkrankungen
einen signifikanten Unterschied zwischen den Pflegegraden: Der Anteil der PB mit
Demenz stieg von 32% bei Pflegegrad 1 auf 60% bei Pflegegrad 4
([Tab. 1]). Die PB in der gesamten
Stichprobe waren durchschnittlich 82 Jahre alt und zu zwei Drittel Frauen.
Hinsichtlich der Variablen der pA zeigte sich zwischen den Pflegegraden ein
signifikanter Unterschied in der subjektiven Pflegebelastung. Von Pflegegrad 1
zu Pflegegrad 4 stieg der HPS-k-Summenwert um 10% der Spannweite an.
Weiterhin wiesen die pA bei Pflegegrad 4 häufiger funktionale
Copingstrategien auf als bei Pflegegrad 1: Die Mittelwerte für emotions-
und problemorientiertes Coping stiegen jeweils um etwa ein Zehntel der
Spannweite an. Ferner gab es zwischen den Pflegegraden einen signifikanten
Unterschied im Pflegemotiv. Bei Pflegegrad 4 gaben die pA mit 41% fast
doppelt so häufig wie bei Pflegegrad 1 als primäres Pflegemotiv
den Wunsch an, die PB nicht in ein Heim zu geben. Die pA der Gesamtstichprobe
waren durchschnittlich 62 Jahre alt und zu drei Viertel Frauen. Etwa die
Hälfte war zum Zeitpunkt der Befragung berufstätig. Das
durchschnittliche Bildungsniveau lag bei 11 Jahren Schulbesuchszeit. Eine
Mehrheit von fast zwei Drittel der pA pflegten ein (Schwieger-) Elternteil.
Etwas mehr als die Hälfte der pA schätzte die aktuelle sowie die
frühere Beziehungsqualität zwischen pA und PB positiv ein.
Zuneigung war bei knapp der Hälfte der pA das primäre
Pflegemotiv. Bei einem Drittel war es das Gefühl der Verpflichtung und
bei einem Fünftel der Wunsch der PB nach einer Pflege im eigenen
Zuhause. Ein zu teurer (4%) oder nicht vorhandener (2%)
Pflegeplatz waren eher seltene Pflegemotive.
Im Hinblick auf die Pflegesituation gab es einen signifikanten Unterschied in der
Häufigkeit des Zusammenwohnens von pA und PB. Während bei
Pflegegrad 1 etwas weniger als die Hälfte der pA mit der PB in einem
Haushalt wohnte, war dies bei Pflegegrad 4 in zwei Drittel der Fälle zu
beobachten. Weiterhin unterschied sich der Zeitaufwand für
ADL-Unterstützung und für Beaufsichtigung zwischen den
Pflegegraden, indem er von Pflegegrad 1 zu Pflegegrad 4 für beide
Bereiche im Durchschnitt um zwei Stunden anstieg und sich somit verdoppelte. In
der subjektiven Einschätzung zeigten die pA bei Pflegegrad 4 eine
bessere Bewältigung der Pflegesituation, die sich im Vergleich zum
Pflegegrad 1 um 4% der Spannweite der zehnstufigen Skala unterschied. In
der Gesamtstichprobe erhielten etwa 60% der pA informelle Hilfe durch
Freunde und Verwandte. Die Pflegedauer lag in der Gesamtstichprobe
durchschnittlich bei vier Jahren. Für die Unterstützung bei IADL
wurden im Durchschnitt vier Stunden täglich aufgewandt. Die Mehrheit
aller pA (61%) wünschte sich mehr informelle Hilfe. Die
Pflegesituation wurde auf der 10-stufigen Skala von der gesamten Stichprobe mit
5 bewertet und lag damit genau in der Mitte zwischen negativem und positivem
Pol.
Versorgungssituation
Expressed need: Gegenwärtige Nutzung von
Unterstützungsangeboten
Die durchschnittliche Anzahl genutzter Unterstützungsangebote
unterschied sich signifikant zwischen den Pflegegraden und war mit
durchschnittlich drei genutzten Unterstützungsangeboten bei
Pflegegrad 4 mehr als doppelt so hoch wie bei Pflegegrad 1 ([Tab. 2]). Für die folgenden
Unterstützungsangebote gab es signifikante Unterschiede zwischen den
Pflegegraden (mit abnehmender Effektstärke): 24-Stunden-Betreuung,
Verhinderungspflege, Tagespflege, Kurzzeitpflege, Betreuungsdienst,
ärztliche Versorgung, ambulanter Pflegedienst und Fahrdienst. Dabei
wurde die 24-Stunden-Betreuung bei Pflegegrad 4 von einem Viertel der pA und
damit vierzigmal häufiger als bei Pflegegrad 1 genutzt. Die
Nutzungsrate der Verhinderungspflege stieg von 2% bei Pflegegrad 1
auf ein Drittel bei Pflegegrad 4. Tages- und Kurzzeitpflege wurden bei
Pflegegrad 4 jeweils von einem Fünftel der pA und somit zehnmal
häufiger genutzt als bei Pflegegrad 1. Die
Nutzungshäufigkeit des Betreuungsdienstes verfünffachte sich
von Pflegegrad 1 auf Pflegegrad 4 von 2% auf 10%. Auch die
Inanspruchnahme der ärztlichen Versorgung und des ambulanten
Pflegedienstes war bei Pflegegrad 4 mit jeweils zwei Dritteln etwa doppelt
so häufig wie bei Pflegegrad 1. Die Nutzungsrate des Fahrdienstes
stieg von 8% bei Pflegegrad 1 auf 20% bei Pflegegrad 4 an.
Ein Viertel der Gesamtstichprobe nahm die Haushaltshilfe in Anspruch, ein
Fünftel nutzte nicht-medikamentöse Heilmittel. Essen auf
Rädern wurde von 12% und die Angehörigenberatung von
7% genutzt. Betreuungs- und Angehörigengruppe sowie der
Pflegekurs wurden jeweils von etwa 2% in Anspruch genommen.
Felt need I: Wunsch nach gegenwärtig intensiverer Nutzung
Die pA, die das jeweilige Angebot gegenwärtig nutzten, wurden
gefragt, ob Sie sich gegenwärtig eine intensivere Nutzung
wünschen (ja oder nein). Derartige Wünsche (s. [Tab. 2]) lagen in der Stichprobe
für die 15 untersuchten Unterstützungsangebote im Bereich
zwischen 0,1% (Angehörigengruppe und Betreuungsgruppe) und
5,2% (ambulanter Pflegedienst). Da für neun der 15
Versorgungsangebote bei Pflegegrad 1 und/oder Pflegegrad 4 keine pA
einen Wunsch nach intensiverer Nutzung angab, konnten in diesen
Fällen keine Effektstärken berechnet werden. Insgesamt
ergaben sich aufgrund der niedrigen Werte für kein
Versorgungsangebot relevante Unterschiede zwischen den Pflegegraden.
Felt need II: Wunsch nach zukünftiger Nutzung
Die pA, die das jeweilige Angebot gegenwärtig nicht nutzten, wurden
gefragt, ob Sie sich für die Zukunft eine Nutzung wünschen
(ja oder nein). Für die folgenden Unterstützungsangebote gab
es signifikante Unterschiede zwischen den Pflegegraden (mit abnehmender
Effektstärke): Nicht-medikamentöse Heilmittel,
Haushaltshilfe und ambulanter Pflegedienst. Dabei lag der Wunsch nach
zukünftiger Nutzung des ambulanten Pflegedienstes bei Pflegegrad 1
bei einem Drittel und war damit etwa dreimal so hoch wie bei Pflegegrad 4.
Der Wunsch nach zukünftiger Nutzung nicht-medikamentöser
Heilmittel halbierte sich von etwa einem Drittel bei Pflegegrad 1 auf
14% bei Pflegegrad 4. Der Wunsch nach einer Haushaltshilfe halbierte
sich ebenfalls von Pflegegrad 1 auf Pflegegrad 4 (von 43% auf
20%). In der Gesamtstichprobe wünschte sich etwa ein Drittel
der pA, in Zukunft die Verhinderungspflege zu nutzen. Jeweils etwa ein
Viertel der pA wünschte sich, zukünftig Betreuungsdienst,
Tagespflege, Kurzzeitpflege und Angehörigenberatung zu nutzen. Ein
Fünftel wünschte sich die Nutzung von Essen auf
Rädern. Der Wunsch, an einer Betreuungsgruppe teilzunehmen bestand
bei 17% der pA, während 16% sich die
zukünftige Nutzung der 24-Stunden-Betreuung und 15% die
zukünftige Teilnahme an einem Pflegekurs wünschten. Bei
einem Zehntel der pA bestand jeweils der Wunsch nach zukünftiger
Inanspruchnahme ärztlicher Versorgung und nach zukünftiger
Teilnahme an einer Angehörigengruppe.
Diskussion
Die Ergebnisse der Querschnittsstudie bestätigen, dass ein wesentliches Ziel,
das mit der Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs
verbunden war – nämlich psychische Beeinträchtigungen und
deren Auswirkungen auf die Selbstständigkeit im Alltag deutlich zu
berücksichtigen – erreicht wurde. Der hohe Anteil von PB mit Demenz
in Pflegegrad 4 impliziert, dass eine Demenzerkrankung durch das neue
Begutachtungsinstrument häufig zu einer Einstufung der PB als
„schwer in Selbstständigkeit und Fähigkeiten
beeinträchtigt“ führt. Die Lebensbereiche „kognitive
und kommunikative Fähigkeiten“ (z. B. Verstehen,
Entscheiden) und „Verhaltensweisen und psychische Problemlagen“
(z. B. nächtliche Unruhe, Ängste, Aggressionen) [7] des neuen Begutachtungsinstruments zielen
besonders auf die Berücksichtigung von PB mit Demenz ab, da
Einschränkungen in diesen Bereichen zum Krankheitsbild zählen [3]
[18]
[19]. Mit zunehmender
Krankheitsschwere wirken sich die Krankheitssymptome bei Demenz auch auf die
Lebensbereiche „selbstständiger Umgang mit krankheits- oder
therapiebedingten Anforderungen“ (z. B. eigenständige
Medikamenteneinnahme) und „Gestaltung des Alltagslebens und sozialer
Kontakte“ (z. B. eigenständige Tagesgestaltung) [7] aus, sodass sich das Demenzsyndrom auch auf
diese Bereiche des seit 2017 gültigen Begutachtungsinstruments auswirkt. Das
Demenzsyndrom wird also mehrdimensional in den Pflegegraden abbildet.
Aber auch die „klassischen“ Einschränkungen einer
chronischen, die körperlichen Funktionen beeinträchtigenden
Erkrankung (z. B. bei Halbseitenlähmung nach Schlaganfall) finden
entsprechenden Eingang in die Pflegegrade. Dies zeigt die mit dem Pflegegrad
signifikant ansteigende Pflegezeit in Stunden pro Tag für
„reine“ ADL-Tätigkeiten, also Unterstützung bei
Körperpflege, Nahrungsaufnahme, Mobilität und Toilettenbenutzung.
Hier besteht eine Parallele zum ehemaligen Pflegebedürftigkeitsbegriff vor
Einführung des zweiten Pflegestärkungsgesetzes, der die Zuweisung
der Pflegestufen hauptsächlich am zeitlichen Unterstützungsbedarf
bei der Verrichtung von ADL festmachte [2]. In
der mit steigendem Pflegegrad deutlich zunehmenden Beaufsichtigungszeit scheint sich
ferner die Reform des Pflegebedürftigkeitsbegriffes im Sinne der mit
fortschreitender chronischer Erkrankung notwendigen Beaufsichtigung widerzuspiegeln.
Dieser Bedarf wird insbesondere – aber nicht nur – bei PB mit Demenz
[4]
[20] relevant, da hier etwa selbstgefährdende Verhaltensweisen mit
Zunahme der Krankheitsschwere häufiger werden. Dies spiegelt sich dann in
einer Zunahme der Beaufsichtigungszeit mit Zunahme des Pflegegrades wider.
Für den Zeitaufwand zur Unterstützung bei IADL zeigte sich kein
Unterschied zwischen den Pflegegraden. So lagen in der vorliegenden Arbeit bereits
bei relativ geringer Pflegebedürftigkeit deutliche Defizite im IADL-Bereich
vor, also z. B. bei der Benutzung von Telefon oder bei der
Arzneimitteleinnahme. Der durchschnittliche zeitliche Pflegeaufwand in diesem
Bereich war nicht mit dem Pflegegrad assoziiert. Bereits in früheren
Untersuchungen bei PB mit Demenz zeigte sich mit zunehmendem Demenzschweregrad kein
Anstieg im Zeitaufwand für IADL-Unterstützung, wohl aber für
ADL-Unterstützung und Beaufsichtigung [20]. Weiterhin kommen Einschränkungen im Bereich IADL bei
Menschen über 65 Jahren – und zwar unabhängig von der
Pflegeursache – insgesamt etwa doppelt so häufig vor wie
ADL-Einschränkungen [21]
[22]. Somit scheinen Schwierigkeiten bei der
Verrichtung von IADL aufgrund deren Komplexität [23] deutlich früher zu entstehen als
bei der Verrichtung von ADL, wobei das Ausmaß der notwendigen Kompensation
durch die pA bei höherem Pflegegrad nicht weiter zuzunehmen scheint. Dies
zeigt sich zumindest in unseren Querschnittsdaten im interindividuellen Vergleich.
Dieses Ergebnis sollte allerdings im intraindividuellen Verlauf im Rahmen von
Längsschnittdaten überprüft werden.
In der vorliegenden Arbeit zeigte sich eine mit dem Pflegegrad ansteigende Nutzung
von Entlastungsangeboten, die der pA eine zeitlich begrenzte
„Auszeit“ von der Pflege ermöglichen (z. B.
für eigene Erledigungen; bei Urlaub oder Krankheit). Dazu zählen
Betreuungsdienst, Tagespflege, 24-Stunden-Betreuung sowie Verhinderungs- und
Kurzzeitpflege. Dies steht in Einklang mit dem bei höherem Pflegegrad
festgestellten höheren Zeitaufwand für die Pflege. Außerdem
steigt der Anspruch auf Sachleistungen und damit die Finanzierbarkeit von
Entlastungsangeboten mit steigenden Pflegegrad deutlich an. Dadurch wird in
höheren Pflegegraden die Nutzung der genannten Angebote ohne
zusätzlichen finanziellen Eigenaufwand von PB und/oder pA
ermöglicht. Allerdings ist in Anbetracht der bereits bei niedrigen
Pflegegraden beobachtbaren hohen subjektiven Belastung der pA [9] die insgesamt überwiegend niedrige
Rate der Inanspruchnahme der Entlastungsangebote auffällig. Entsprechend der
geringen Nutzungsrate von Entlastungsangeboten bei pA [24]
[25]
[26] wird der Großteil
der Pflege- und Beaufsichtigungsleistung allein durch die pA verrichtet. Die
Ursachen für die geringe Nutzung der Entlastungsangebote sind
vielfältig, wie zum Beispiel Ablehnung durch die PB, begrenzte
Verfügbarkeit, aber auch fehlendes Wissen über die Angebote [24]
[27]
[28]
[29]
[30]
[31]. Gerade dem letztgenannten
Aspekt könnte professionelle Angehörigenberatung entgegenwirken, in
deren Rahmen unter anderem Informationen zu Entlastungsmöglichkeiten
vermittelt werden und die zusätzlich selbst entlastend wirken kann [32]. Doch auch die Angehörigenberatung
wies eine durchweg geringe Nutzungsrate von unter zehn Prozent in jedem Pflegegrad
auf. Auffällig ist, dass hier kein Zusammenhang der Nutzungsrate mit den
Pflegegraden zu beobachten ist, obwohl die mit dem Pflegegrad steigende objektive
Belastung eine Zunahme von Beratungsanlässen vermuten lässt. Studien
zu den Gründen für Nicht-Nutzung von Angehörigenberatung
identifizierten die Unkenntnis über dieses Angebot, den subjektiv
empfundenen fehlenden Bedarf und Zugangsbarrieren als Einflussfaktoren [33]
[34]
[35]
[36]. Proaktive Gegenmaßnahmen, wie
beispielsweise die Kontaktierung der pA durch die Beratungsstellen –
Stichwort „zugehende Beratung“ – könnten zu einer
höheren Nutzungsrate führen [36]. Diese Entwicklung wäre sehr zu wünschen, um etwa
schwierige Situationen für die pA frühzeitig einer Lösung
zuzuführen oder zumindest eine Abschwächung ihrer negativen
Auswirkungen auf pA und PB zu bewirken.
Insgesamt ist weiterführende Forschung zur Identifikation von Gründen
für die geringe Nutzung von Entlastungs- und Beratungsangeboten notwendig.
Um diese Versorgungslücke zu schließen, sollten neue Strategien
entwickelt werden, um Angebote bedarfsgerecht zu gestalten und pA zur
Inanspruchnahme zu motivieren.
Limitationen und Stärken
Als Einschränkungen der Studie sind zu nennen, dass nur wenige
Informationen über die PB, insbesondere keine
ärztlich-medizinischen Daten, vorliegen. Dies ist darauf
zurückzuführen, dass es sich um eine Befragung der pA handelte.
Weiterhin sind in der Stichprobe Personen, die bisher keinen Pflegegrad
beantragt hatten oder Personen mit Pflegegrad 5 – keine
Möglichkeit auf Höherstufung des Pflegegrads – nicht
enthalten, da die Verteilung der Befragungsunterlagen durch den MD Bayern
erfolgte. Außerdem handelt es sich um Querschnittsdaten, die keine
Rückschlüsse auf zeitliche Veränderungen zulassen.
Weiterhin sind die Stichprobenergebnisse regional auf Bayern
einzuschränken. Für die Pflegebedürftigkeit
älterer gesetzlich versicherter Menschen in Bayern scheint die
Stichprobe jedoch repräsentativ zu sein. Ein breites Feld von Ursachen
der Pflegebedürftigkeit wird abgebildet.
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Der deutlich ansteigende relative Anteil von PB mit Demenz bei
zunehmendem Pflegegrad spricht dafür, dass durch den
reformierten Pflegebedürftigkeitsbegriff der
Unterstützungsbedarf von PB mit Demenz in den Pflegegraden
merklich berücksichtigt wird.
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Bei höherem Grad der Pflegebedürftigkeit besteht ein
größerer Zeitbedarf für ADL-Pflege und
Beaufsichtigung, jedoch nicht für IADL-Pflege.
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Obwohl die Nutzung der meisten untersuchten Entlastungsangebote mit
steigendem Pflegegrad zunimmt, besteht insgesamt nur eine
minderheitliche Nutzung.
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Strategien zur Stärkung der Inanspruchnahme von
Angehörigenberatung sowie konkreter Entlastungsangebote
sollten zur Entlastung der pflegenden Angehörigen
entwickelt, erprobt und umgesetzt werden.