Psychiatr Prax 2024; 51(01): 5-8
DOI: 10.1055/a-2197-7384
Editorial

Die Prävention psychischer Störungen in der Arbeitswelt

Mental Health at Work
Margrit Löbner
1   Institut für Sozialmedizin, Arbeitsmedizin und Public Health (ISAP), Medizinische Fakultät, Universität Leipzig
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Steffi G. Riedel-Heller
1   Institut für Sozialmedizin, Arbeitsmedizin und Public Health (ISAP), Medizinische Fakultät, Universität Leipzig
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Margrit Löbner
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Steffi G. Riedel-Heller

Die Situation spitzt sich zu

Die Zunahme von Arbeitsunfähigkeitstagen aufgrund psychischer Erkrankung ist seit Jahren die bei weitem auffälligste Entwicklung im Arbeitsunfähigkeitsgeschehen. So haben die beruflichen Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen von 2012 bis 2022 überproportional um 48 Prozent zugenommen, während bei allen anderen Erkrankungsgruppen ein Anstieg von 35 Prozent zu verzeichnen war. Psychische Erkrankungen gehen dabei häufig mit besonders langen Fehlzeiten einher. So führten psychische Erkrankungen 2022 im Schnitt zu AU-Zeiten von 29,6 Tagen je Fall während bei Atemwegserkrankungen nur 7,1 Tage pro Fall zu Buche schlugen. Der Durchschnitt über alle Erkrankungsgruppen lag 2022 bei 11,3 Tagen je Fall. Von den Ausfallzeiten aufgrund psychischer Erkrankungen waren im vergangenen Jahr vor allem Berufe im Gesundheits- und Sozialwesen betroffen, an zweiter Stelle standen die Branchen Öffentliche Verwaltung und Sozialversicherung [1] [2]. Im selben Zuge hat die frühzeitige Berentung aufgrund von Erwerbsunfähigkeit in den letzten Dekaden deutlich zugenommen. Haben im Jahr 2000 noch 51.500 Versicherte erstmals eine Erwerbsminderungsrente wegen einer psychischen Erkrankung erhalten, waren es 2020 bereits rund 73.000; das ist in diesem Zeitraum ein Anstieg von rund 42 % [3]. Diesen Entwicklungen steht ein eklatanter Fachkräftemangel entgegen. So ist eine sozialversicherungspflichtige Arbeitsstelle im Bereich der Altenpflege nach einem Abgang durchschnittlich 265 Tage unbesetzt [4]. Diese Zahlen sind alarmierend und das Ursachengefüge für diese Entwicklungen ist komplex und nicht in allen Aspekten verstanden. Diskutiert werden unter anderem nachhängende Belastungen durch die Pandemie, deutlich veränderte Arbeitswelten, eine weiter zunehmende Arbeitsverdichtung und Leistungsdruck, Zusammenhänge mit wachsender Individualisierung und Entsolidarisierung, generationsbedingte Einflüsse sowie komplexe Effekte und Belastungen durch kollektive Krisen-Ereignisse.


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Handlungsdruck in zwei wesentlichen Forschungs- und Praxisfeldern

Diese Entwicklungen erzeugen Handlungsdruck in zwei wesentlichen Forschungs- und Praxisfeldern. Mit Blick auf die gesamte Gruppe der Beschäftigten geht es in einem ersten Forschungs- und Praxisfeld um den Erhalt und die Stärkung der psychischen Gesundheit, also um die Prävention. Im zweiten großen Forschungs- und Praxisfeld wird der einzelne psychisch kranke Mensch in den Blick genommen – hier steht die Behandlung und die Sicherung der beruflichen Teilhabe im Mittelpunkt. Dabei können sich psychisch kranke Menschen in verschiedenen Konstellationen befinden: Menschen arbeiten trotz ihrer akuten Erkrankung – hier spricht die Arbeitsmedizin von Präsentismus – oder Beschäftigte können aufgrund ihrer psychischen Erkrankung arbeitsunfähig sein und deshalb ihrem Arbeitsplatz fernbleiben. Psychisch kranke arbeitslose Menschen, insbesondere diejenigen mit längerfristiger Arbeitslosigkeit (SGBIII), stellen wiederum eine Personengruppe dar, die besonderer Aufmerksamkeit bedarf. Die Sicherung der beruflichen Teilhabe psychisch kranker Menschen gehört traditionell zum Kerngebiet sozialpsychiatrischen Handelns und Forschens. Der Erhalt und die Stärkung der psychischen Gesundheit von Beschäftigten – also die Prävention in der Lebenswelt Arbeit – erhielt bisher weniger Aufmerksamkeit. Deshalb widmet sich dieses Editorial genau diesem Thema und diskutiert den Forschungsstand und Desiderate der Forschung zur Prävention psychischer Störungen im beruflichen Kontext.


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Forschungsfeld: Prävention psychischer Störungen in der Arbeitswelt

Beschäftigte sind beruflich in der Regel in komplexe Organisations- und Führungsstrukturen eingebunden. Sie arbeiten in Teams, die wiederum ggf. zu größeren Organisationseinheiten gehören und einen ganzen Betrieb ausmachen. Auch übergeordnete gesellschaftliche Einflüsse und Rahmenbedingungen spielen eine Rolle. Dazu gehören auch gesetzliche arbeitsmedizinische Vorgaben, wie z. B. die Notwendigkeit einer sogenannten psychischen Gefährdungsbeurteilung (§ 5 Absatz 5 Satz 6 ArbSchG). Der Forschungsgegenstand ist damit komplex und hat mehrere ineinander wirkende Ebenen. Das Forschungsfeld zur Prävention psychischer Störungen in der Arbeitswelt fällt in zwei große Bereiche. Zum einen werden Risiko- und Schutzfaktoren oder Belastungen und Ressourcen für die psychische Gesundheit der Beschäftigten untersucht. Zum anderen geht es um die Umsetzung dieser Erkenntnisse im Rahmen von präventiven Interventionen.


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Risiko und Schutzfaktoren – Forschungsstand und Desiderate

Hinsichtlich von Risiko- und Schutzfaktoren liegt ein breites theoretisches Wissensfundament vor. Wird die Arbeitslast durch die Beschäftigen als bewältigbar eingeschätzt, hat der Einzelne Wahlmöglichkeiten und Kontrolle, Anerkennung und Belohnung, ein unterstützendes Team, erlebt er Fairness, Respekt und soziale Gerechtigkeit und seine Arbeit als sinnvoll und wertegeleitet, kann daraus Engagement entstehen, das die psychische Gesundheit fördert [5]. Die genannten Bereiche verbinden dabei die wichtigsten arbeitspsychologischen Theorien (Effort-Reward-Imbalance-Modell, das Modell der beruflichen Gratifikationskrisen von Siegrist oder auch das Job-Demand-Control(-Support)-Modell von Karasek und Theorell). Zudem spielen in der Diskussion Modelle zur Gerechtigkeit in Organisationen und zu Werten und Unternehmenskultur eine Rolle. Gleichsam gibt es eine große Zahl von empirischen Arbeiten zu psychosozialen Belastungsfaktoren der Arbeitsumwelt und psychischen Störungen. Ein aktueller systematischer Review belegt einen deutlichen Zusammenhang zwischen psychosozialer Arbeitsbelastung und psychischen Erkrankungen. Ein besonders hohes Risiko für Depression findet sich für Tätigkeiten mit einem hohen sogenannten job strain, d. h. mit hohen Anforderungen bei gleichzeitig geringem Tätigkeitsspielraum [6].

Gegenwärtig sehen wir bedeutsame Veränderungen in der Gesellschaft wie z. B. die Digitalisierung, Individualisierung oder den demographischen Wandel, die ihrerseits mit substanziellen Veränderungen in der Arbeitswelt verbunden sind [7] [8]. Die COVID19-Pandemie hat die digitale Transformation beschleunigt und neue Arbeitsformen und neue Arbeitszeitmodelle hervorgebracht. In diesem Zusammenhang wird oft von einer Zeitenwende gesprochen. Daraus ergeben sich für die Beschäftigten und die Unternehmen eine Reihe von Chancen, wie zum Beispiel eine bessere Arbeitsorganisation. Gleichzeitig stellen Veränderungen wie agile und virtuelle Teams, Home Office, hybrides oder remotes Arbeiten, das sogenannte Work-Life-Blending oder die Plattformökonomie neue Herausforderungen dar. Diese Entwicklungen sind mit neuen Formen des subjektiven Arbeitserlebens, wie Technostress und sich ändernden Ansprüchen der Menschen an die Arbeit verbunden [9]. Freiheit, Gestaltungsmöglichkeiten und ein gutes Betriebsklima rangieren vor einem möglichst hohen Verdienst [10].

Obgleich es substanzielles Wissen zu psychischen Belastungen im Arbeitskontext gibt, sind die Chancen und Risiken dieser neuen Entwicklungen in der Arbeitsumwelt für die psychische Gesundheit der Beschäftigten bisher unzureichend verstanden. Zukünftige Forschung sollte vor allem folgende Fragen beantworten: Welche arbeitsplatzbezogenen, psychosozialen Belastungen der modernen Arbeitswelt sind mit psychischen Störungen und Risikokonstellationen verbunden? Gibt es neue Risiken? Werden alte Risiken verstärkt? Werden neue Ressourcen deutlich? Interessant ist, dass bestimmte Faktoren in einem Kontext Ressource und in einem anderen Kontext Risiko sein können – dies verweist auf die Notwendigkeit einer integrierten Potenzial- und Risikobetrachtung [11] [12].


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Präventive Interventionen – Forschungsstand und Desiderate

Präventive Interventionen können zum einen individuell zugeschnitten sein und damit eine verhaltenspräventive Ausrichtung haben. Zum anderen können sie auf die Organisation wirken und damit verhältnispräventiv ausgerichtet sein. Das Portfolio evidenzbasierter individueller und organisationaler Interventionen zur Förderung der psychischen Gesundheit der Beschäftigten im Arbeitskontext ist groß. Es umfasst z. B. Stressmanagement-Programme für Beschäftigte mit Techniken wie Entspannungsübungen und Achtsamkeitstraining und psychoedukativen Anteilen auf Grundlage der kognitiven Verhaltenstherapie. Zudem zählen Maßnahmen einer guten Arbeitsplatzgestaltung, wie ergonomische Arbeitsplätze oder eine gute Pausengestaltung und angemessene Arbeitsbelastung dazu. Bei den organisationalen Interventionen spielen Führungskräftetrainings mit Inhalten zur Kommunikation, Konfliktlösung und Mitarbeitermotivation und die Förderung von sozialen Kontakten und Teamarbeit eine große Rolle. Damit soll das Gefühl der Zugehörigkeit und der Unterstützung am Arbeitsplatz gestärkt werden [13] [14]. Zunehmend werden dabei sogenannte Multilevel- oder Mehrebenen-Interventionen propagiert, die gleichzeitig am Individuum, den Teams, der unmittelbaren Führungskraft und der Organisation im Ganzen ansetzen [15] [16].

Obgleich es evidenzbasierte, kosteneffiziente Interventionen zur Förderung, zum Erhalt und zur Wiederherstellung der psychischen Gesundheit der Beschäftigten auf individueller und organisationaler Ebene gibt, sind viele Fragen offen [17]. Dies betrifft besonders die Implementierung dieser Interventionen in die betriebliche Praxis [18]. Waddel et al. 2023 konstatieren ein eklatantes „Knowledge-Practice-Gap“ [13]. Die Implementierungsforschung steht in diesem Bereich erst am Anfang [19] [20] [21]. Die digitale Transformation eröffnet ganz neue Möglichkeiten für die breite Implementierung organisationaler (z. B. Interventionen für Führungskräfte) und individueller Interventionen (z. B. internet- und mobilbasierte Interventionen (IMI)) zur Förderung von psychischer Gesundheit im Betrieb [22] [23]. Online-basierte Selbstmanagementtools haben positive Effekte auf die psychische Gesundheit [24] und auf arbeitsbezogene Zielgrößen wie Work Engagement und Produktivität [25]. Sie bergen zudem besondere Chancen für Beschäftigte in kleinen und mittelständischen Unternehmen [26]. In Deutschland stehen neben gut evaluierten, kostenfreien IMI auch digitale Gesundheitsanwendungen zur Verfügung (DiGA). Im Rahmen der Arbeitsmedizinischen Vorsorge kommen diese jedoch noch kaum zum Einsatz. Zukünftige Forschung wird sich unter anderem folgende Fragen stellen: Wie kann eine breite Implementierung organisationaler und individueller präventiver Interventionen zur Förderung der psychischen Gesundheit der Beschäftigten unter besonderer Nutzung digitaler Tools und vorhandener Angebote, wie der arbeitsmedizinischen Vorsorge, gelingen?


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Prävention psychischer Störungen in der Arbeitswelt – ein interdisziplinäres Forschungsfeld

Das Setting Arbeit ist ein zentrales Feld für die Förderung der psychischen Gesundheit. Gute Arbeit ist sinnstiftend und gesundheitsförderlich – das wissen Sozialpsychiater schon lange. Gleichwohl bestehen erhebliche Herausforderungen bei der Bearbeitung der anstehenden Fragen durch hohe Komplexität und aktuelle Dynamik. Es liegt auf der Hand, dass diese Art von Forschung eine interdisziplinäre Ausrichtung braucht und viele Akteure, wie z. B. Arbeits- und Organisationspsychologen, Arbeitsmediziner, Ökonomen, Gesundheitswissenschaftler und Public-Health-Experten einbeziehen muss. Die Sozialpsychiatrie hat hier viel beizutragen.


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Interessenkonflikt

Die Autorinnen geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.


Korrespondenzadresse

PD Dr. Margit Löbner
Institut für Sozialmedizin, Arbeitsmedizin und Public Health (ISAP)
Universität Leipzig, Medizinische Fakultät
Philipp-Rosenthal-Straße 55
04103 Leipzig
Deutschland   

Publication History

Article published online:
15 January 2024

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