Die Situation spitzt sich zu
Die Situation spitzt sich zu
Die Zunahme von Arbeitsunfähigkeitstagen aufgrund psychischer Erkrankung ist
seit Jahren die bei weitem auffälligste Entwicklung im
Arbeitsunfähigkeitsgeschehen. So haben die beruflichen Fehltage aufgrund
psychischer Erkrankungen von 2012 bis 2022 überproportional um 48 Prozent
zugenommen, während bei allen anderen Erkrankungsgruppen ein Anstieg von 35
Prozent zu verzeichnen war. Psychische Erkrankungen gehen dabei häufig mit
besonders langen Fehlzeiten einher. So führten psychische Erkrankungen 2022
im Schnitt zu AU-Zeiten von 29,6 Tagen je Fall während bei
Atemwegserkrankungen nur 7,1 Tage pro Fall zu Buche schlugen. Der Durchschnitt
über alle Erkrankungsgruppen lag 2022 bei 11,3 Tagen je Fall. Von den
Ausfallzeiten aufgrund psychischer Erkrankungen waren im vergangenen Jahr vor allem
Berufe im Gesundheits- und Sozialwesen betroffen, an zweiter Stelle standen die
Branchen Öffentliche Verwaltung und Sozialversicherung [1]
[2]. Im selben
Zuge hat die frühzeitige Berentung aufgrund von Erwerbsunfähigkeit
in den letzten Dekaden deutlich zugenommen. Haben im Jahr 2000 noch 51.500
Versicherte erstmals eine Erwerbsminderungsrente wegen einer psychischen Erkrankung
erhalten, waren es 2020 bereits rund 73.000; das ist in diesem Zeitraum ein Anstieg
von rund 42 % [3]. Diesen Entwicklungen
steht ein eklatanter Fachkräftemangel entgegen. So ist eine
sozialversicherungspflichtige Arbeitsstelle im Bereich der Altenpflege nach einem
Abgang durchschnittlich 265 Tage unbesetzt [4].
Diese Zahlen sind alarmierend und das Ursachengefüge für diese
Entwicklungen ist komplex und nicht in allen Aspekten verstanden. Diskutiert werden
unter anderem nachhängende Belastungen durch die Pandemie, deutlich
veränderte Arbeitswelten, eine weiter zunehmende Arbeitsverdichtung und
Leistungsdruck, Zusammenhänge mit wachsender Individualisierung und
Entsolidarisierung, generationsbedingte Einflüsse sowie komplexe Effekte und
Belastungen durch kollektive Krisen-Ereignisse.
Handlungsdruck in zwei wesentlichen Forschungs- und Praxisfeldern
Handlungsdruck in zwei wesentlichen Forschungs- und Praxisfeldern
Diese Entwicklungen erzeugen Handlungsdruck in zwei wesentlichen Forschungs- und
Praxisfeldern. Mit Blick auf die gesamte Gruppe der Beschäftigten geht es in
einem ersten Forschungs- und Praxisfeld um den Erhalt und die Stärkung
der psychischen Gesundheit, also um die Prävention. Im zweiten
großen Forschungs- und Praxisfeld wird der einzelne psychisch kranke Mensch
in den Blick genommen – hier steht die Behandlung und die Sicherung der
beruflichen Teilhabe im Mittelpunkt. Dabei können sich psychisch
kranke Menschen in verschiedenen Konstellationen befinden: Menschen arbeiten trotz
ihrer akuten Erkrankung – hier spricht die Arbeitsmedizin von
Präsentismus – oder Beschäftigte können aufgrund
ihrer psychischen Erkrankung arbeitsunfähig sein und deshalb ihrem
Arbeitsplatz fernbleiben. Psychisch kranke arbeitslose Menschen, insbesondere
diejenigen mit längerfristiger Arbeitslosigkeit (SGBIII), stellen wiederum
eine Personengruppe dar, die besonderer Aufmerksamkeit bedarf. Die Sicherung der
beruflichen Teilhabe psychisch kranker Menschen gehört traditionell zum
Kerngebiet sozialpsychiatrischen Handelns und Forschens. Der Erhalt und die
Stärkung der psychischen Gesundheit von Beschäftigten – also
die Prävention in der Lebenswelt Arbeit – erhielt bisher weniger
Aufmerksamkeit. Deshalb widmet sich dieses Editorial genau diesem Thema und
diskutiert den Forschungsstand und Desiderate der Forschung zur Prävention
psychischer Störungen im beruflichen Kontext.
Forschungsfeld: Prävention psychischer Störungen in der
Arbeitswelt
Forschungsfeld: Prävention psychischer Störungen in der
Arbeitswelt
Beschäftigte sind beruflich in der Regel in komplexe Organisations- und
Führungsstrukturen eingebunden. Sie arbeiten in Teams, die wiederum ggf. zu
größeren Organisationseinheiten gehören und einen ganzen
Betrieb ausmachen. Auch übergeordnete gesellschaftliche Einflüsse
und Rahmenbedingungen spielen eine Rolle. Dazu gehören auch gesetzliche
arbeitsmedizinische Vorgaben, wie z. B. die Notwendigkeit einer sogenannten
psychischen Gefährdungsbeurteilung (§ 5 Absatz 5 Satz 6 ArbSchG).
Der Forschungsgegenstand ist damit komplex und hat mehrere ineinander wirkende
Ebenen. Das Forschungsfeld zur Prävention psychischer Störungen in
der Arbeitswelt fällt in zwei große Bereiche. Zum einen werden
Risiko- und Schutzfaktoren oder Belastungen und Ressourcen für die
psychische Gesundheit der Beschäftigten untersucht. Zum anderen geht es um
die Umsetzung dieser Erkenntnisse im Rahmen von präventiven
Interventionen.
Risiko und Schutzfaktoren – Forschungsstand und Desiderate
Risiko und Schutzfaktoren – Forschungsstand und Desiderate
Hinsichtlich von Risiko- und Schutzfaktoren liegt ein breites theoretisches
Wissensfundament vor. Wird die Arbeitslast durch die Beschäftigen als
bewältigbar eingeschätzt, hat der Einzelne Wahlmöglichkeiten
und Kontrolle, Anerkennung und Belohnung, ein unterstützendes Team, erlebt
er Fairness, Respekt und soziale Gerechtigkeit und seine Arbeit als sinnvoll und
wertegeleitet, kann daraus Engagement entstehen, das die psychische Gesundheit
fördert [5]. Die genannten Bereiche
verbinden dabei die wichtigsten arbeitspsychologischen Theorien
(Effort-Reward-Imbalance-Modell, das Modell der beruflichen Gratifikationskrisen von
Siegrist oder auch das Job-Demand-Control(-Support)-Modell von Karasek und
Theorell). Zudem spielen in der Diskussion Modelle zur Gerechtigkeit in
Organisationen und zu Werten und Unternehmenskultur eine Rolle. Gleichsam gibt es
eine große Zahl von empirischen Arbeiten zu psychosozialen
Belastungsfaktoren der Arbeitsumwelt und psychischen Störungen. Ein
aktueller systematischer Review belegt einen deutlichen Zusammenhang zwischen
psychosozialer Arbeitsbelastung und psychischen Erkrankungen. Ein besonders hohes
Risiko für Depression findet sich für Tätigkeiten mit einem
hohen sogenannten job strain, d. h. mit hohen Anforderungen bei gleichzeitig
geringem Tätigkeitsspielraum [6].
Gegenwärtig sehen wir bedeutsame Veränderungen in der Gesellschaft
wie z. B. die Digitalisierung, Individualisierung oder den demographischen
Wandel, die ihrerseits mit substanziellen Veränderungen in der Arbeitswelt
verbunden sind [7]
[8]. Die COVID19-Pandemie hat die digitale Transformation beschleunigt und
neue Arbeitsformen und neue Arbeitszeitmodelle hervorgebracht. In diesem
Zusammenhang wird oft von einer Zeitenwende gesprochen. Daraus ergeben sich
für die Beschäftigten und die Unternehmen eine Reihe von Chancen,
wie zum Beispiel eine bessere Arbeitsorganisation. Gleichzeitig stellen
Veränderungen wie agile und virtuelle Teams, Home Office, hybrides oder
remotes Arbeiten, das sogenannte Work-Life-Blending oder die
Plattformökonomie neue Herausforderungen dar. Diese Entwicklungen sind mit
neuen Formen des subjektiven Arbeitserlebens, wie Technostress und sich
ändernden Ansprüchen der Menschen an die Arbeit verbunden [9]. Freiheit, Gestaltungsmöglichkeiten und
ein gutes Betriebsklima rangieren vor einem möglichst hohen Verdienst [10].
Obgleich es substanzielles Wissen zu psychischen Belastungen im Arbeitskontext gibt,
sind die Chancen und Risiken dieser neuen Entwicklungen in der Arbeitsumwelt
für die psychische Gesundheit der Beschäftigten bisher unzureichend
verstanden. Zukünftige Forschung sollte vor allem folgende Fragen
beantworten: Welche arbeitsplatzbezogenen, psychosozialen Belastungen der modernen
Arbeitswelt sind mit psychischen Störungen und Risikokonstellationen
verbunden? Gibt es neue Risiken? Werden alte Risiken verstärkt? Werden neue
Ressourcen deutlich? Interessant ist, dass bestimmte Faktoren in einem Kontext
Ressource und in einem anderen Kontext Risiko sein können – dies
verweist auf die Notwendigkeit einer integrierten Potenzial- und Risikobetrachtung
[11]
[12].
Präventive Interventionen – Forschungsstand und
Desiderate
Präventive Interventionen – Forschungsstand und
Desiderate
Präventive Interventionen können zum einen individuell zugeschnitten
sein und damit eine verhaltenspräventive Ausrichtung haben. Zum anderen
können sie auf die Organisation wirken und damit
verhältnispräventiv ausgerichtet sein. Das Portfolio
evidenzbasierter individueller und organisationaler Interventionen zur
Förderung der psychischen Gesundheit der Beschäftigten im
Arbeitskontext ist groß. Es umfasst z. B. Stressmanagement-Programme
für Beschäftigte mit Techniken wie Entspannungsübungen und
Achtsamkeitstraining und psychoedukativen Anteilen auf Grundlage der kognitiven
Verhaltenstherapie. Zudem zählen Maßnahmen einer guten
Arbeitsplatzgestaltung, wie ergonomische Arbeitsplätze oder eine gute
Pausengestaltung und angemessene Arbeitsbelastung dazu. Bei den organisationalen
Interventionen spielen Führungskräftetrainings mit Inhalten zur
Kommunikation, Konfliktlösung und Mitarbeitermotivation und die
Förderung von sozialen Kontakten und Teamarbeit eine große Rolle.
Damit soll das Gefühl der Zugehörigkeit und der
Unterstützung am Arbeitsplatz gestärkt werden [13]
[14].
Zunehmend werden dabei sogenannte Multilevel- oder Mehrebenen-Interventionen
propagiert, die gleichzeitig am Individuum, den Teams, der unmittelbaren
Führungskraft und der Organisation im Ganzen ansetzen [15]
[16].
Obgleich es evidenzbasierte, kosteneffiziente Interventionen zur Förderung,
zum Erhalt und zur Wiederherstellung der psychischen Gesundheit der
Beschäftigten auf individueller und organisationaler Ebene gibt, sind viele
Fragen offen [17]. Dies betrifft besonders die
Implementierung dieser Interventionen in die betriebliche Praxis [18]. Waddel et al. 2023 konstatieren ein eklatantes
„Knowledge-Practice-Gap“ [13]. Die
Implementierungsforschung steht in diesem Bereich erst am Anfang [19]
[20]
[21]. Die digitale Transformation eröffnet
ganz neue Möglichkeiten für die breite Implementierung
organisationaler (z. B. Interventionen für
Führungskräfte) und individueller Interventionen (z. B.
internet- und mobilbasierte Interventionen (IMI)) zur Förderung von
psychischer Gesundheit im Betrieb [22]
[23]. Online-basierte Selbstmanagementtools haben
positive Effekte auf die psychische Gesundheit [24] und auf arbeitsbezogene Zielgrößen wie Work
Engagement und Produktivität [25]. Sie
bergen zudem besondere Chancen für Beschäftigte in kleinen und
mittelständischen Unternehmen [26]. In
Deutschland stehen neben gut evaluierten, kostenfreien IMI auch digitale
Gesundheitsanwendungen zur Verfügung (DiGA). Im Rahmen der
Arbeitsmedizinischen Vorsorge kommen diese jedoch noch kaum zum Einsatz.
Zukünftige Forschung wird sich unter anderem folgende Fragen stellen: Wie
kann eine breite Implementierung organisationaler und individueller
präventiver Interventionen zur Förderung der psychischen Gesundheit
der Beschäftigten unter besonderer Nutzung digitaler Tools und vorhandener
Angebote, wie der arbeitsmedizinischen Vorsorge, gelingen?
Prävention psychischer Störungen in der Arbeitswelt – ein
interdisziplinäres Forschungsfeld
Prävention psychischer Störungen in der Arbeitswelt – ein
interdisziplinäres Forschungsfeld
Das Setting Arbeit ist ein zentrales Feld für die Förderung der
psychischen Gesundheit. Gute Arbeit ist sinnstiftend und
gesundheitsförderlich – das wissen Sozialpsychiater schon lange.
Gleichwohl bestehen erhebliche Herausforderungen bei der Bearbeitung der anstehenden
Fragen durch hohe Komplexität und aktuelle Dynamik. Es liegt auf der Hand,
dass diese Art von Forschung eine interdisziplinäre Ausrichtung braucht und
viele Akteure, wie z. B. Arbeits- und Organisationspsychologen,
Arbeitsmediziner, Ökonomen, Gesundheitswissenschaftler und
Public-Health-Experten einbeziehen muss. Die Sozialpsychiatrie hat hier viel
beizutragen.