Nervenheilkunde 2024; 43(03): 126-128
DOI: 10.1055/a-2201-4475
Gesellschaftsnachrichten

Kopfschmerz News der DMKG

 

„Who cares about migraine?“ Wege und Hürden in Europa – Zugang zur medizinischen Versorgung

**** Vaghi G, De Icco R, Tassorelli C, et al. Who cares about migraine? Pathways and hurdles in the European region – access to care III. J Headache Pain 2023; 24(1):120. doi: 10.1186/s10194-023-01652-8

Hintergrund

Migräne gehört zu den relevantesten neurologischen Störungen weltweit [1]. Schwierigkeiten in der medizinischen Versorgung tragen wesentlich zur Krankheitslast bei [2]. In den letzten Jahren haben sich verschiedene migränespezifische Medikamente auf dem Markt etabliert. Ziel dieser Studie ist die Erfassung der medizinischen Versorgung von Migränepatienten in europäischen Ländern.


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Zusammenfassung

Diese Studie wurde von der EMHA (European Migraine and Headache Alliance) initiiert. Ein Fragebogen bestehend aus 39 Fragen zu den Themen soziodemografischen Daten, Krankheitsdauer, Zugang zur medizinischen Versorgung und Informationsgewinnung über die Erkrankung wurde im Zeitraum 3/2021–6/2021 in europäischen Ländern an Patientenorganisationen verschickt. Einschlusskriterium war die durch einen Arzt festgestellte Diagnose einer episodischen oder chronischen Migräne. Die Studie hatte einen Rücklauf von 3169 Fragebögen aus 10 europäischen Ländern (Deutschland 19 %, Italien 13 %, Spanien 14 %, Griechenland 10 %, Frankreich 9 %, Lettland 8 %, UK 8 %, Irland 8 %, Norwegen 6 %, Finnland 5 %). 90 % waren Frauen mit einem mittleren Alter von 25–59 Jahren. Ein Großteil lebt in städtischer Umgebung (67 %) und die Hälfte war Vollzeit berufstätig (48 %). Das jährliche Familieneinkommen lag in den meisten Ländern unter 35000 Euro (Ausnahme Deutschland und Norwegen). Bei 32 % der Teilnehmer lag eine Krankheitsgeschichte von über 30 Jahren vor, bei fast 50 % die Diagnose einer chronischen Migräne. Bei den Fragen zur medizinischen Versorgung zeigte sich, dass der Großteil der Teilnehmer (67 %) mindestens 2 Fachärzte besuchte, bis die Migränediagnose gestellt wurde. 34 % der Teilnehmer sahen mindestes 4 Ärzte bis zur Diagnosesicherung. Finnland, Norwegen und Irland waren die Länder, wo die Patienten weniger medizinische Spezialisten vor Diagnosesicherung aufsuchten und ein größerer Anteil an Hausärzten die Diagnose stellte (Finnland 50 %, Norwegen 35 %, Irland 31 %). Im Gegensatz dazu mussten in den Ländern Italien (54 %), Griechenland (35 %) und Lettland (46 %) die Patienten mehr als 4 Fachärzte sehen, bis die Diagnose gestellt wurde, und dann üblicherweise von Neurologen. Die weitere Betreuung lief in allen Ländern zum größten Teil über Neurologen. 26 % der Patienten erhielten keine weitere Betreuung. Bei nur 37 % der Teilnehmer wurde innerhalt eines Jahres seit Diagnosestellung ein migränespezifisches Medikament verschrieben. Bei 40 % der Fälle hat es mind. 5 Jahre gedauert bis migränespezifische Medikamente verschrieben wurden. 46 % erhielten als erstes ein nicht migränespezifisches Schmerzmittel, gefolgt danach von Triptanen (78 %). Eine orale prophylaktische Medikation wurde im Schnitt erst als 3. Wahl verschrieben. Migränespezifische Antikörper (CGRP) oder Botox wurde erst nach anderen therapeutischen Interventionen verschrieben (bis zu 6). Insgesamt erhielten 11 % der Teilnehmer eine Behandlung mit Botox, 24 % eine Behandlung mit CGRP-Antikörpern. Von den Patienten, welche keine Therapie mit CGRP-Antikörpern erhielten, kannten etwa 60 % der Teilnehmer diese Therapieoption und beschrieben, dass ihnen diese Therapie nicht in der Sprechstunde vorgeschlagen wurde, sie nicht die Kriterien erfüllten, um diese Therapie zu erhalten oder die Kosten der Therapie nicht gedeckt wären. Von den Patienten, welche mit CGRP-Antikörpern behandelt wurden, waren 82 % sehr zufrieden mit der Effektivität. Die hauptsächlichen Quellen zur Informationsgewinnung über die Erkrankung waren die sozialen Netzwerke und das Internet.


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Kommentar

Diese umfassende Studie gibt einen guten Überblick über die aktuelle Lage der medizinischen Versorgung von Migränepatienten europaweit. Interessant ist, dass in einigen europäischen Ländern (Norwegen, Finnland, Irland) die Hausärzte eher selbst die Diagnose stellten und nicht in spezialisierte Zentren überwiesen. Das könnte an einem Mangel an fachärztlicher Spezialisierung liegen. Man kann allerdings nicht nachvollziehen, ob die Hausärzte dort auch eine migränespezifische Therapie bis zur CGRP-Antikörpertherapie verschrieben und ob diese Patienten, welche weniger Spezialisten aufsuchen mussten, insgesamt schneller und effektiver behandelt wurden. Im Gegensatz dazu war bspw. Italien eines der Länder, wo die Patienten mehrere Fachärzte durchlaufen mussten, bis eine Diagnose gestellt wurde. In diesem Gesundheitssystem agiert der Hausarzt eher als Wegweiser und überweist viel mehr zu spezialisierten Fachärzten, wo die Patienten dann eine krankheitsspezifische Therapie erhalten. Dass bei einem Großteil der Patienten jedoch migränespezifische Medikamente erst als 2. oder 3. Wahl oder gar nicht in der Therapie zum Einsatz kamen, zeigt uns eine weiterhin unzureichende Versorgung der Migränepatienten auf. Limitierend in dieser Studie ist zu nennen, dass die Fragebögen rein über Patientenorganisationen verteilt wurden. Die meisten Patienten, welche eine Selbsthilfegruppe aufsuchen sind doch eher moderat bis schwer betroffen und so entsteht ein Selektionsbias.

Laura Zaranek, Dresden, und Robert Fleischmann, Greifswald


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Ubrogepant effektiv als Kurzzeitprophylaxe während der Prodromalphase einer Migräneattacke – Daten aus der PRODROME-Studie

**** Dodick DW, Goadsby PJ, Schwedt TJ, et al. Ubrogepant for the treatment of migraine attacks during the prodrome: a phase 3, multicentre, randomised, double-blind, placebo-controlled, crossover trial in the USA. Lancet 2023. doi:10.1016/S0140-6736(23)01683-5

Die PRODROME-Studie, eine multizentrische, doppelblinde, placebokontrollierte Phase-III-Studie, hat eine deutliche Verringerung des Auftretens von Migräneattacken und einer damit einhergehenden Funktionseinschränkung gezeigt, wenn Ubrogrepant in der Prodromalphase verabreicht wird.

Hintergrund

Es ist bekannt, dass sich die Behandlung der Migräne in den letzten Jahren erheblich verändert hat, insbesondere seit der Entdeckung von CGRP als Schlüsselmolekül. Nach den CGRP-Antikörpern, die vor allem zur Prophylaxe wirksam und zugelassen sind, erweitern direkte CGRP-Antagonisten, auch als Gepante bekannt, die Möglichkeiten der Akuttherapie und Prophylaxe. Die ACHIEVE-I- und -II-Studien zeigten, dass Ubrogepant eine Wirkung auf akute Migräneattacken hat [1]. Bisher wurde jedoch unzureichend erforscht, welchen Effekt eine Akuttherapie auf die Prodromalphase hat, die insbesondere Symptome wie Gähnen, emotionale Irritabilität, Müdigkeit, Durst oder Heißhungerattacken umfasst [2].


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Zusammenfassung

Die Analyse basiert auf den Daten von 480 Patienten, die seit mindestens einem Jahr an einer episodischen Migräne mit oder ohne Aura litten. Diese wurden 1:1 randomisiert in entweder einer Placebo- oder Ubrogepant-Gruppe (100 mg). Als Auslöser der Akuttherapie wurde nicht der Kopfschmerz, sondern das erste und zweite Prodromalsymptom gewählt, entweder mit Placebo oder Ubrogepant im Cross-over-Design (Erstes Prodromalsymptom mit Placebo oder Ubrogepant; zweites Prodromalsymptom mit Placebo oder Ubrogepant vice versa mit einer 1-wöchigen Auswaschphase). Als qualifizierendes Prodrom wurde ein Symptom, das zuverlässig einen Kopfschmerz vorhersagen konnte, ausgewählt. Während des Screenings und der Randomisierung wurde hierbei über einen Fragebogen untersucht, welche (3 von 16) Beschwerden zu 75 % innerhalb von 1–6 Stunden einen Kopfschmerz vorhersagen konnten. Das Ausbleiben mittelschwerer oder schwerer Kopfschmerzen innerhalb von 24 Stunden nach Einnahme des Studienmedikaments wurde als primärer Endpunkt gewählt. Als sekundäre Endpunkte wurden das Ausbleiben nach 48 Stunden, die Abwesenheit eines Kopfschmerzes jeglicher Intensität innerhalb von 24 Stunden und das Fehlen jeglicher Funktionseinschränkung definiert. Diese wurden durch ein eDiary nach 1, 2, 3, 4, 6, 8, 24 und 48 Stunden nach Einnahme überprüft.

Von den 480 Teilnehmenden waren 421 (88 %) weiblich, mit einem mittleren Alter von 42,3 Jahren. Von 4802 qualifizierenden Prodromalsymptomen waren Photophobie am häufigsten (57 %), gefolgt von Fatigue (50 %), Nackenschmerzen (42 %), Phonophobie (34 %) und Schwindel (28 %). Mäßige oder starker Kopfschmerzen nach 24 Stunden konnte bei 190 (46 %) von 418 qualifizierenden Prodromalereignissen, die mit Ubrogepant behandelt wurden, und bei 121 (29 %) von 423 qualifizierenden Prodromalsymptomen, die mit Placebo behandelt wurden, verhindert werden (p < 0,0001). Auch für die sekundären Endpunkte zeigte sich ein ähnlich signifikantes Ergebnis: (moderate bis schwere Kopfschmerzen innerhalb von 48 Stunden: 41 % mit Ubrogepant vs. 25 % mit Placebo (p > 0,0001)), Kopfschmerz jeglicher Intensität mit 24 % unter Ubrogepant vs. 14 % unter Placebo(p > 0,0001) und normaler Alltagfunktion OR 1,66 p > 0,0001). Außerdem zeigte sich ein günstiges Nebenwirkungsprofil in der Ubrogepant Gruppe verglichen mit Placebo (5 % Nausea unter Ubrogepant vs. 3 % bei Placebo)

Zusammenfassend zeigt diese Studie, dass Ubrogepant nicht nur sicher, sondern effektiv zur Verhinderung einer Migräneattacke eingesetzt werden kann, wenn sich zuverlässige Prodromalsymptome zeigen.


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Kommentar

Insgesamt verfolgt diese Arbeit eine interessante und innovative Fragestellung. Die Prävention von akuten Kopfschmerzen anhand der Prodromalphase wurde in einem so großen Kollektiv bisher nicht untersucht. Kleinere Arbeiten mit Domperidon und Dihydroergotamin zeigten ebenfalls eine effektive Prävention [3], [4]. Die Untersuchung mit Ubrogepant ist dennoch attraktiv, da es sich um ein neues Medikament handelt und es offenbar mit einem niedrigen Risiko für Medikamentenübergebrauch assoziiert ist [5]. Wie jedoch korrekt in der Publikation diskutiert wurde, ist nicht immer eine Prävention möglich, da Kopfschmerzen schnell oder nachts beginnen können, Prodromalsymptome fehlen oder nicht adäquat zugeordnet werden können. Einschränkend muss gesagt werden, dass eine Abgrenzung zwischen akuter Migräneattacke und Prodromalphase schwierig ist, beispielsweise aufgrund des trigeminozervikalen Komplexes bei Nackenschmerzen [6].

Insgesamt liefert die Studie einen wertvollen und innovativen wissenschaftlichen Beitrag und bietet für Patienten, die ihre Prodromalphase kennen ein großes Potenzial. Zusätzlich sensibilisiert die Arbeit Migränepatienten auf das Thema Prodormalphase, welche zumindest bei fast 80 % der Patienten vorliegt [2]. Als Interessenkonflikte bestehen Zuwendungen an den Erstautor für Beratungszwecke von Abbvie, die das Medikament vertreibt.

Cem Thunstedt, München

INFORMATION

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Exzellente Arbeit, die bahnbrechende Neuerungen beinhaltet oder eine ausgezeichnete Übersicht bietet

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Gute experimentelle oder klinische Studie

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Gute Studie mit allerdings etwas geringerem Innovationscharakter

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Studie von geringerem klinischen oder experimentellen Interesse und leichteren methodischen Mängeln

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Studie oder Übersicht mit deutlichen methodischen oder inhaltlichen Mängeln

Die Kopfschmerz-News werden betreut von der Jungen DMKG, vertreten durch Dr. Robert Fleischmann, Greifswald, Dr. Katharina Kamm, München (Bereich Trigemino-autonomer Kopfschmerz & Clusterkopfschmerz), Dr. Laura Zaranek, Dresden (Bereich Kopfschmerz bei Kindern und Jugendlichen) und Dr. Thomas Dresler, Tübingen (Bereich Psychologie und Kopfschmerz).

Ansprechpartner ist Dr. Robert Fleischmann, Klinik und Poliklinik für Neurologie, Unimedizin Greifswald, Ferdinand-Sauerbruch-Str. 1, 17475 Greifswald, Tel. 03834/86-6815, robert.fleischmann@uni-greifswald.de

Die Besprechungen und Bewertungen der Artikel stellen die Einschätzung des jeweiligen Autors dar, nicht eine offizielle Bewertung durch die Deutsche Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft.

AUSSCHREIBUNG

Wolfframpreis 2024

Die Deutsche Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft (DMKG) schreibt den Wolffram-Preis für Forschungsarbeiten zum Thema Kopfschmerz aus.

Eingereicht werden können Abschlussarbeiten von Studiengängen und Publikationen (mit Peer Review), die seit dem Bewerbungsschluss für den letzten Wolffram-Preis (1.8.2022) veröffentlicht oder zur Publikation angenommen wurden. Für den Preis können sich alle Personen bewerben, die nach Satzung der DMKG die Kriterien für eine ordentliche Mitgliedschaft erfüllen. Es besteht keine Altersbegrenzung. Der Einreichende muss einen klaren Bezug zur Kopfschmerzforschung in Deutschland haben.

Der erste Preis wird mit 5000 Euro, der zweite mit 2500 Euro und der dritte mit 1000 Euro gewürdigt. Die Bewertung erfolgt durch die unabhängige Begutachtungskommission der DMKG. Der Wolffram-Preis wird anlässlich des Deutschen Schmerzkongresses vom 16.-19. Oktober 2024 in Mannheim verliehen. Bewerbungen sind per E-Mail bis zum 1. August 2024 im Generalsekretariat der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft info@dmkg.de einzureichen: Prof. Dr. med. Gudrun Goßrau, Generalsekretärin der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft (DMKG), c/o UniversitätsSchmerzCentrum, Universitätsklinikum Carl Gustav Carus, Fetscherstr. 74, 01307 Dresden, info@dmkg.de, www.dmkg.de


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Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
13. März 2024

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