Redaktioneller Hinweis der Schriftleitung – Die Schaffung eines Bundesinstituts
für Öffentliche Gesundheit ist ein Vorhaben der Regierungsparteien der
laufenden Legislaturperiode aus ihrem Koalitionsvertrag des Jahres 2021 „Mehr
Fortschritt wagen“ (S. 65): „Die Bundeszentrale für
gesundheitliche Aufklärung geht in einem Bundesinstitut für
öffentliche Gesundheit am Bundesministerium für Gesundheit auf, in dem
die Aktivitäten im Public-Health Bereich, die Vernetzung des ÖGD und die
Gesundheitskommunikation des Bundes angesiedelt sind. Das RKI soll in seiner
wissenschaftlichen Arbeit weisungsungebunden sein.“ Dieses zunächst
nicht näher bestimmte Vorhaben war lange Zeit Gegenstand verschiedener
Vorschläge und Kommentare seitens der in diesem Feld interessierten Akteure. Im
zweiten Halbjahr 2023 wurden konkretere Zielvorstellungen aus dem Bundesministerium
für Gesundheit nach außen kommuniziert, einschließlich einer in
Public Health-Fachkreisen kritisch aufgenommenen Namensgebung als
„Bundesinstitut für Prävention und Aufklärung in der
Medizin“ (BIPAM). Auch ein BMG-interner Referentenentwurf zu einem
BIPAM-Errichtungs-Gesetz liegt vor. Die nachfolgende Stellungnahme vom 14. November 2023
vertritt ein breites Spektrum an Public Health-Akteuren und gibt wiederum einen
konstruktiv-kritischen Impuls für die Errichtung, sie signalisiert
Kooperationsbereitschaft bei einer Ausrichtung im Sinne einer modernen Public
Health-Strategie. Die Errichtung selbst soll im Laufe des Jahr 2024 vorbereitet und zum
1.1.2025 vollzogen werden. Mit Johannes Nießen wurde ein prominenter Vertreter
aus dem Öffentlichen Gesundheitsdienst damit federführend beauftragt.
Nachfolgend die Stellungnahme (Stand: 14.11.2023).
Bundesinstitut für „Prävention und Aufklärung in der
Medizin“: Verpasste Chance für Public Health in Deutschland!
Stellungnahme des Zukunftsforums Public Health (ZfPH) gemeinsam mit BVPG, DEGAM,
DGAUM, DGMS, DGÖGB, DGPH, DGSMP, DGSPJ, DNVF, GesBB, GSN, LVG & AFS Nds
HB, LVG Sachsen-Anhalt, GHUP, KLUG, NÖG, vdää
Deutschland hat heterogene und nicht systematisch aufeinander abgestimmte Public
Health-Strukturen [1]. Eine große Anzahl
staatlicher als auch zivilgesellschaftlicher Akteure und engagierter
Bürger:innen arbeiten auf ihren jeweiligen Feldern oft fragmentiert
nebeneinander her. Eine Zählung der im Bereich der öffentlichen
Gesundheit aktiv tätigen Institutionen ergab 307 Akteure im Jahr 2022, darunter
60 Fachgesellschaften und Berufsverbände, 49 Nichtregierungsorganisationen und
40 staatliche Akteure [2]. Diese historisch gewachsene
und zersplitterte Landschaft erschwert eine an den Grundsätzen von Health in all
Policies orientierte, präventiv und gesundheitsförderlich ausgerichtete
Politik erheblich. Eine Koordination ist von höchster Dringlichkeit und bedarf
eines abgestimmten und konzertierten Vorgehens. Eine politisch konsentierte Nationale
Public Health-Strategie fehlt dafür bisher, wenngleich bereits Eckpunkte
für deren Umsetzung vom Zukunftsforum Public Health vorgelegt wurden [3].
Die angekündigte Gründung eines Bundesinstituts für
“Prävention und Aufklärung in der Medizin” offenbart
eine Verengung auf ein überholtes Verständnis von Prävention und
Gesundheitsförderung. Die dringend notwendige Bündelung und
Stärkung von Public Health wird mit dem geplanten Konzept nicht gelingen. Und
das Ziel der Verbesserung der gesundheitlichen Chancengleichheit in Deutschland auch vor
dem Hintergrund der anstehenden großen gesellschaftlichen Herausforderung
rückt in weite Ferne. Wir empfehlen dringend konzeptionelle und inhaltliche
Änderungen einschließlich der Umbenennung.
Neuordnung von Public Health in Deutschland
Im Koalitionsvertrag 2021 wurden Reformen des Public Health-Systems vorgesehen, namentlich
eine Nationale Präventionsstrategie und ein Bundesinstitut für
öffentliche Gesundheit. Am 04. Oktober hat Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach
nun ein Konzept für ein neues Bundesinstitut vorgestellt. Es soll zum 01.01.25 unter
dem Namen „Bundesinstitut für Prävention und Aufklärung in
der Medizin (BIPAM)“ seine Arbeit aufnehmen und folgende Aufgaben wahrnehmen [4]:
-
Auswertung und Erhebung von Daten zum Gesundheitszustand der Bevölkerung, um
politische und strategische Entscheidungen vorzubereiten und zielgruppenspezifische
Präventionsmaßnahmen zu evaluieren.
-
Gesundheitskommunikation des Bundes auf Basis valider Daten zu
Gesundheitsbedingungen, Gesundheitszustand und Gesundheitsverhalten der
Bevölkerung.
-
Übergreifende Vernetzung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes.
-
Vernetzung von Wissenschaft, Praxis, Politik und relevanten Stakeholdern.
-
Frühzeitige Identifikation gesundheitlicher Bedürfnisse und Bedarfe
(Foresight) sowie Erkennung, Verhütung und Bekämpfung von nicht
übertragbaren Krankheiten.
-
Epidemiologische Forschung auf dem Gebiet der nicht übertragbaren
Krankheiten, einschließlich Erkennung und Bewertung von individuellen
Risiken und sozialen Gesundheitsdeterminanten.
-
Unterstützung von Studien zur Verbesserung der
Primärprävention und Zusammenarbeit mit dem Forschungsdatenzentrum
bei der Nutzung von KI für epidemiologische Auswertungen.
-
Aufbau eines Centers of Excellence für Modellierer im Gesundheitswesen.
Das Konzept sieht eine Neuordnung der Public
Health-Struktur auf Bundesebene vor:
Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung
(BZgA) und die Abteilung(en) für
nicht-übertragbare Erkrankungen des Robert
Koch-Instituts (RKI) gehen in das sogenannte
„BIPAM“ über – jedoch ohne dass zusätzliche
finanzielle Mittel im Haushalt des
BMG für das neue Institut zur Verfügung bereitgestellt werden. Für diese Neuordnung
braucht es einen gesetzlichen Rahmen, der
für das Frühjahr 2024 geplant ist.
Grundsätzlich ist eine Stärkung der Prävention von
nicht-übertragbaren Krankheiten, die angedachte Unterstützung des
öffentlichen Gesundheitsdienstes und mehr Evidenz in der Gesundheitskommunikation zu
begrüßen. Allerdings darf dies nicht zu einer Schwächung anderer
hochrelevanter und etablierter Strukturen führen, etwa eines Public
Health-orientierten Infektionsschutzes, wie derzeit zu befürchten ist.
Die vom Bundesgesundheitsminister vorgestellten Eckpunkte für das neue Institut
weisen aus fachlicher Sicht zahlreiche gravierende Designfehler auf, die die Wirksamkeit der
neuen Struktur limitieren werden. Abgesehen von der fragwürdigen Fokussierung auf
Krebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Demenz hegen wir erhebliche Zweifel, ob die
angekündigten Reformen zur Stärkung von Public Health durch die geplante
Neuorganisation tatsächlich erreicht werden können.
Zu den zentralen Designfehlern gehören:
Designfehler 1: Fehlender Health in all Policies-Ansatz
Gesundheit ist nur zu einem begrenzten Anteil ein Ergebnis der Gesundheitsversorgung. Zum
überwiegenden Teil ist Gesundheit geprägt vom Alltag der Menschen, also
von der Art und Weise, wie Menschen wohnen, arbeiten, lernen und leben und ist daher
eine Querschnittaufgabe aller Politikfelder, von der Arbeitsmarkt- über die
Bildungs-, Landwirtschafts-, Verkehrs- bis hin zur Wirtschaftspolitik. Idealerweise ist
dabei das Vorgehen über die verschiedenen Sektoren, Ebenen und Akteure hinweg
abgestimmt. International wird dieses Vorgehen als Health in all Policies-Ansatz (HiAP)
[6] bezeichnet und von der WHO empfohlen [7]. Ziel ist es vor allem, gesundheitliche Ungleichheit
zu verringern und mehr Gesundheit für alle zu erreichen.
Schon der Name des neuen Instituts konterkariert den HiAP-Ansatz, da er dessen
Handlungsrahmen explizit „in der Medizin“ verortet. Diese
Einschränkungen werden es unweigerlich erschweren,
gesundheitsförderliche Perspektiven zu integrieren, gezielt Prioritäten
für Gesundheitsförderung zu identifizieren oder auch
Politikmaßnahmen anderer Ressorts hinsichtlich des gesundheitlichen Nutzens und
der Kosten zu bewerten. Weiterhin kann ein Institut, das dem BMG direkt unterstellt und
berichtspflichtig ist, diesem Ansatz nicht vollumfänglich gerecht werden. Die
Frage, wie das neue Institut mit nachgelagerten Behörden anderer Ressorts wie
dem Umweltbundesamt oder dem Bundesamt für Risikobewertung vernetzt ist, ist
bisher unbeantwortet.
In der vorläufigen Aufgabenbeschreibung des neuen Instituts wird zu Recht die
„Vernetzung von Wissenschaft, Praxis, Politik und relevanten
Stakeholdern“ hervorgehoben. Insbesondere im stark fragmentierten deutschen
Public Health-System ist eine Vernetzung und Koordinierung dringend erforderlich, um
ineffiziente Doppelstrukturen zu vermeiden und das Zusammenspiel der Akteure zu
verbessern. Will das neue Institut Wirkkraft entfalten, muss es alle zentralen Public
Health-Akteure – insbesondere die Länder und Kommunen, aber auch die
vielen nichtstaatlichen Akteure – einbinden und mit ihnen gemeinsam eine Basis
für Kooperation schaffen. All dies ist in der geplanten Neuordnung nicht
erkennbar. Hier muss beim Aufbau des neuen Bundesinstituts darauf hingewirkt werden,
dass die Abstimmungsprobleme zwischen den verschiedenen Akteur*innen, den
Ressorts sowie zwischen Bund und Ländern nicht noch größer
werden als bisher.
Designfehler 2: Zu enger Fokus auf drei Krankheitsgruppen
Nicht nur der Name und die institutionelle Verankerung des neuen Instituts, sondern auch
die Fokussierung auf die Prävention von Krebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und
Demenz durch Aufklärung in der Medizin entsprechen nicht dem internationalen
Kenntnisstand. Dieser pathogenetischen Sichtweise liegt ein verengter Gesundheitsbegriff
zugrunde, der Gesundheit allein als Abwesenheit von Krankheit definiert und nicht als
mehrdimensionales Konzept versteht. Das hat zur Folge, dass
Präventionsmaßnahmen zu spät im Lebensverlauf sowie zu nah am
Individuum ansetzen, zu wenig auf strukturelle Ursachen abzielen und damit die soziale,
politische und wirtschaftliche Dimension von Gesundheit völlig verkennen. Aus
Public Health-Sicht sollte das Ziel des BMG vielmehr darin bestehen, die Gesundheit
aller Menschen zu fördern und zu erhalten und die Ungleichheit von
Gesundheitschancen zu minimieren, anstatt sich vorrangig auf die Bewältigung
einzelner Krankheitsgruppen zu beschränken.
Die Begründung für die drei Zielerkrankungen wurden vom
Bundesgesundheitsminister mit dem hohen Anteil an Sterbefällen durch die drei
Erkrankungen gerechtfertigt. Bessere Indikatoren für Erhalt und
Förderung der Gesundheit aller Menschen sind vermeidbare Sterbefälle,
vorzeitige Sterblichkeit oder Krankheitslast inklusive der in Krankheit verbrachten
Lebenszeit. Zudem müssen prioritäre Handlungsfelder mit Blick auf
vulnerable Gruppen und benachteiligte Lebenswelten festgelegt werden. Daran sollte sich
die Tätigkeit des neuen Bundesinstituts orientieren.
Prävention und Gesundheitsförderung im Kindes- und Jugendalter haben
einen sehr hohen Nutzen, da frühe Erfahrungen struktureller und
sozioökonomischer Benachteiligung nicht nur mit ungleichen Gesundheitschancen in
dieser Lebensphase, sondern im gesamten Lebensverlauf einhergehen. Der
Verhältnisprävention und ressortübergreifendem Handeln muss
Priorität eingeräumt werden. Dabei sind solche Maßnahmen zu
betonen, die einen Nutzen sowohl für die Gesundheit als auch für andere
Politikbereiche im Hinblick auf andere gesellschaftliche Ziele, wie z. B. den
Klimaschutz, versprechen. [8].
Designfehler 3: Dysfunktionale Versäulung durch die institutionelle Trennung von
Infektionskrankheiten und nicht-übertragbaren Krankheiten
Die Trennung der Zuständigkeiten für übertragbare
Erkrankungen (RKI) und nichtübertragbare
Erkrankungen („BIPAM“) ist
aus fachlicher Sicht nicht sinnvoll. Die Coronakrise
hat deutlich gemacht, dass Infektionskrankheiten
gesamtgesellschaftliche
Herausforderungen darstellen und mit
nicht-übertragbaren Krankheiten im Sinne
einer erhöhten Vulnerabilität interagieren.
In diesem Zusammenhang wirkte die Pandemie
als „Beschleuniger“ sowohl für die
sozioökonomische Deprivation als auch für die Ausbreitung chronischer Krankheiten
[9]. Zu den Lehren aus der Coronakrise gehört
deshalb auch der Blick auf psychische,
soziale und wirtschaftliche Folgen einer Epidemie
und der zu ihrer Eindämmung ergriffenen
Schutzmaßnahmen.
Auch die Public Health Governance-Forschung zeigt, dass die geplante Neuordnung ihr Ziel
– die Stärkung von Public Health – nicht erfüllen wird. Im
Gegenteil, so wurde erst kürzlich von der “Lancet Commission on synergies
between universal health coverage, health security, and health promotion”
festgestellt, dass die inhaltliche und institutionelle Fragmentierung zwischen
übertragbaren und nicht übertragbaren Krankheiten u. a. zu
erhöhtem Koordinationsaufwand, ineffizienten Doppelstrukturen und Problemen bei der
Bearbeitung drängender Themen führt [5].
Die Lancet-Kommission weist zudem darauf hin, dass klar sein muss, welche Institution mit
welchem Maß an wissenschaftlicher Unabhängigkeit welche Aufgaben bearbeitet,
und wer welche Zugänge zu politischen Entscheidungsträger*innen hat.
Zwar ist eine enge Abstimmung aller nachgelagerten Behörden im
Geschäftsbereich des BMGs angekündigt, jedoch gibt es hier viele offene
Fragen beim Management der Schnittstellen.
Beim Aufbau des neuen Bundesinstituts und in der Kooperation mit dem RKI sollte den o.g.
Punkten in angemessener Form Rechnung getragen werden. Dabei sollte insbesondere
sichergestellt werden, dass die bisher vom RKI wahrgenommene epidemiologische Datenerhebung,
Datenauswertung und Gesundheitsberichterstattung auch zu nicht-übertragbaren
Krankheiten wissenschaftlich unabhängig erfolgen kann, damit die
Vertrauenswürdigkeit der Ergebnisse nicht beeinträchtigt wird. Dies gilt
auch für die Evaluation bzw. das Verlaufsmonitoring initiierter
Maßnahmen.
Diese von uns beschriebenen strukturellen Defizite und Designfehler müssen im
weiteren Prozess dringend behoben werden, damit das Ziel, die Lebenserwartung und die
Lebensqualität in Deutschland für jetzige und zukünftige
Generationen auf europäischen Standard zu heben, erreicht wird. Die Debatte um
die Gestaltung eines Bundesinstituts für öffentliche Gesundheit sollte
ergebnisoffen, differenziert und transparent unter Einbindung der fachlichen Expertise
aller zentralen Public Health-Akteure in Deutschland geführt werden. Das
Zukunftsforum Public Health steht bei der Gestaltung eines Bundesinstituts für
öffentliche Gesundheit bereit, sich in einen konstruktiven Aufbauprozess
einzubringen.
Mitzeichnende Institutionen (Stand 14.11. 2023)
-
BVPG, Bundesvereinigung Prävention und Gesundheitsförderung
-
DEGAM, Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin
-
DGAUM, Deutsche Gesellschaft für Arbeits- und Umweltmedizin
-
DGMS, Deutsche Gesellschaft für Medizinische Soziologie
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DGSMP, Deutsche Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention
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DGÖGB, Deutsche Gesellschaft für Öffentliche Gesundheit
& Bevölkerungsmedizin
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DGPH, Deutsche Gesellschaft für Public Health
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DGSPJ, Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und
Jugendmedizin
-
DNVF, Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung
-
GesBB, Gesundheit Berlin Brandenburg
-
GSN, Gesunde Städte-Netzwerk der Bundesrepublik Deutschland
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GHUP, Gesellschaft für Hygiene, Umweltmedizin und
Präventivmedizin
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KLUG, Deutsche Allianz Klimawandel Gesundheit
-
LVG & AFS Nds. HB, Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie
für Sozialmedizin Niedersachsen Bremen
-
LVG Sachsen-Anhalt, Landesvereinigung für Gesundheit Sachsen-Anhalt
-
NÖG, Nachwuchsnetzwerk Öffentliche Gesundheit
-
vdää, Verein demokratischer Ärzt*innen