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DOI: 10.1055/a-2216-1564
Update Haftungsrisiken in der Radiologie: Mitwirkungspflichten des Patienten; Rechtliche Folgen eines verkannten Nebenbefundes
- I. Die Orthese im MRT
- II. Der verkannte Nebenbefund
- III. Fazit
I. Die Orthese im MRT
Metallische Gegenstände haben im MRT nichts zu suchen. Jeder, der eine ungefähre Vorstellung von der Funktionsweise eines MRT hat, sollte wissen, dass metallische Gegenstände vom Magneten des MRT angezogen werden, was zur Notabschaltung des MRT führen kann. In der Praxis wird der Patient durch Hinweise im Anamnesebogen, durch Aushänge und entsprechende Fragen der Mitarbeiter sensibilisiert.
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1. Urteil des OLG Nürnberg vom 15. Februar 2023
All das nützte einem Radiologen im Fall des OLG Nürnberg vom 15. Februar 2023, Aktenzeichen 4 U 20/22 nichts. Im Zuge einer bei einer fast 78 Jahre alten Patientin durchgeführten MRT-Untersuchung wurde die an dem linken Bein dieser Patientin befindliche metallische Orthese vom Magneten des MRT angezogen, so dass eine Notabschaltung des MRT erfolgte. Der Radiologe verklagte die Patientin auf Schadensersatz in Gestalt der Übernahme der durch die Notabschaltung entstandenen Kosten.
a. Das Ergebnis des erstinstanzlichen Verfahrens: Beide Parteien trifft ein Verschulden
Das erstinstanzliche Gericht – salomonisch gestimmt – entschied, die Patientin habe ihre Pflicht zur Mitwirkung gemäß § 630c Abs. 1 BGB bzw. ihre allgemeine Nebenpflicht zur Rücksichtnahme auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des Radiologen gemäß § 241 Abs. 2 BGB grob fahrlässig verletzt, indem sie es unterlassen habe, den Radiologen und dessen Mitarbeiter auf ihre metallische Orthese hinzuweisen. Allerdings treffe den Radiologen gemäß § 254 Abs. 2 BGB ein Mitverschulden von 50 %, u. a. weil die Patientin nicht über die Kosten einer etwaigen Notabschaltung vor der Untersuchung aufgeklärt worden sei.
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b. Das Ergebnis des Berufungsverfahrens: Der Radiologe ist schuld
Die Patientin war weniger salomonisch gestimmt, erhob Berufung zum OLG Nürnberg – und obsiegte. Das Urteil des OLG Nürnberg ist ein Beispiel für den aus dem römischen Recht stammenden Spruch „Vor Gericht und auf See ist man in Gottes Hand“. Eine nähere Befassung mit dem Urteil lohnt, weil es ein Schlaglicht auf die Erwartungen wirft, die ein Arzt an die Mitwirkungspflichten eines Patienten stellen darf und zudem einen vertieften Einblick in die Gedankengänge von Richtern vermittelt.
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c. Fürsorgepflicht des Arztes und seiner Mitarbeiter gegenüber dem Patienten
Die Entscheidungsgründe beginnen mit einem „Bashing“ der Mitarbeiter des Radiologen. Nach dem Ergebnis des vom Gericht durchgeführten Augenscheins, bei dem die Patientin dieselbe Hose wie bei der MRT-Untersuchung trug, stehe – so das OLG Nürnberg – ohne jeden Zweifel zur Überzeugung des Gerichts fest, dass sich die Orthese nicht nur unter der Hose deutlich als Fremdkörper abgezeichnet habe, sondern dass auch deren Metallteile im Knöchelbereich in Form eines schwarzen Teils sowie eines silberfarbenen Metallstücks ohne Weiteres als solche erkennbar gewesen seien. Der Knöchelbereich sei nämlich sowohl beim Sitzen als auch im Stehen, nachdem die Patientin von ihrem Platz im Sitzungssaal nur etwa zwei Meter zum Richterpult gegangen sei, nicht von der Hose bedeckt gewesen. Das silberfarbene Metallstück sei derart markant und augenfällig, dass dieses selbst bei bloß flüchtiger Betrachtung nicht hätte übersehen werden dürfen. Das Verhalten der Mitarbeiterinnen des Radiologen erweise sich auch deshalb als besonders leichtfertig, weil das Gangbild der Patientin insoweit auffällig sei, als diese das linke Bein nicht normal bewegen könne. Angesichts dessen hätten die Mitarbeiterinnen des Radiologen das auffällige Gangbild der Patientin auf dem Weg vom Umkleideraum zur Liege erkennen, angesichts dieses Gangbildes sowie der seitens des Gerichts festgestellten Erkennbarkeit der Ausbeulung der Hose im Knöchelbereich auf eine (metallene) Orthese schließen, ein Entfernen der Orthese veranlassen und dadurch das Schadensereignis vermeiden können und müssen. Dass dies nicht geschehen sei, lasse den Schluss auf eine fehlende Aufmerksamkeit der Mitarbeiterinnen und eine ganz besondere, schlechthin unverständliche Sorglosigkeit zu. Als besonders schwerwiegend erweise sich das Verschulden der Mitarbeiterinnen des Radiologen auch deshalb, weil sie die ohne jeden Zweifel schon optisch ohne Weiteres erkennbare Orthese selbst dann nicht bemerkt hätten, als sie das Bein der Patientin (nebst der hieran befindlichen Orthese) auf die Untersuchungsliege legten. So sei das Gericht nach seinem persönlichen Eindruck von Bein, Hose und Orthese davon überzeugt, dass die Orthese bei der Lagerung des Beines auf der Liege nicht durch die Hose verdeckt gewesen sein könne. Das silberfarbene Metallteil sei nämlich bereits im Stehen nicht von der Hose bedeckt, sondern auch aus einem Abstand von mehreren Metern ohne weiteres als solches erkennbar gewesen. Dies gelte erst recht bei der Lagerung des Beines der Beklagten auf der Liege. Daher hätten die Mitarbeiterinnen die Orthese, insbesondere das nicht von der Hose verdeckte silberne Metallteil, bei einem nur geringen Maß an Aufmerksamkeit ohne weiteres als solches ausmachen können und müssen. Angesichts der bei MRT-Untersuchungen so wesentlichen Sicherheitsvorkehrungen und der Höhe der drohenden Schäden sei jedoch ein gesteigertes Maß an Sorgfalt zu erwarten und zwingend erforderlich gewesen. Dies hätten die Mitarbeiterinnen des Radiologen in besonders schwerwiegender und leichtfertiger Art und Weise außer Acht gelassen.
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d. Anforderungen an die Mitwirkungspflicht des Patienten
Auch das – wenig kooperative – Verhalten der Patientin änderte nichts. Zwar habe – so das OLG Nürnberg – die Patientin trotz der Hinweise im Anamnesebogen, der Hinweisschilder in der Umkleidekabine sowie an der Tür zum Untersuchungsraum und der von einer der Mitarbeiterinnen geschilderten Erklärung gegenüber der Patientin in der Kabine, dass sie alle Metallteile ablegen müsse und ihre Krücken nicht mit in den Untersuchungsraum nehmen dürfe, bei Betreten des Untersuchungsraums zunächst noch ihren Schmuck getragen, diesen erst auf Bitte der Mitarbeiterinnen abgelegt und sodann beim erneuten Betreten des Untersuchungsraums noch die Autoschlüssel in der Hose getragen. Die Mitarbeiterinnen des Radiologen hätten auch nicht darauf vertrauen dürfen, dass die Patientin sinngemäß geäußert habe, dass alles Metallische weg sei, nachdem ihr der Autoschlüssel aus der Hosentasche gefallen und vom MRT angezogen worden war. Die Mitarbeiterinnen hätten aus dieser Bemerkung der Patientin auch nicht darauf schließen dürfen, die Orthese sei aus Carbon, wenn sie diese gesehen hätten. Angesichts des Gesamtverhaltens der Patientin sei deutlich erkennbar gewesen, dass diese sich offenkundig der von metallischen Gegenständen ausgehenden Gefahren bei der Untersuchung im MRT nicht bewusst war.
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e. Die richterliche Auslegung des Anamnesebogens: Wer nicht sorgfältig formuliert, verliert.
Dass die Patientin in bemerkenswerter Weise die wiederholten Hinweise auf die Notwendigkeit des Entfernens metallischer Gegenstände negierte (erst wurde der Schmuck nicht entfernt, dann die Autoschlüssel nicht aus der Hose genommen und schließlich die Orthese nicht erwähnt) hielt das Gericht für unerheblich. Denn schließlich habe die Patientin die Orthese auf die Frage „Befinden sich in ihrem Körper andere Teile aus Metall (z. B. Spirale, Prothesen, Granatsplitter, Gefäßclips, Metallstaub, Zahnprothesen)“ nicht angeben müssen. Bei der Orthese handele es sich – so der Wortlaut der Urteilsbegründung – nämlich um einen Gegenstand, der nicht im, sondern am Körper getragen (Hervorhebung durch den Verfasser) werde.
Auch, dass die Patientin nach eigenem Bekunden die Hinweis- und Verbotsschilder in der Praxis des Radiologen nicht „angesehen“ habe, rechtfertige weder für sich betrachtet noch in der Zusammenschau mit der unterbliebenen Reaktion auf den Anamnesebogen den Vorwurf grober oder mittlerer Fahrlässigkeit seitens der Patientin. So sei eine Orthese auf den Hinweisschildern weder ausdrücklich erwähnt noch abgebildet. Vielmehr würden elektromagnetisch beeinflussbare Implantate genannt und Beispiele aufgezählt. Die Orthese falle nur unter die (optisch kleiner gehaltenen) Hinweise auf „Implantate aus Metall und sonstige Metallgegenstände am Körper zum Beispiel Splitter“ und „Metallteile und medizinische Instrumente aller Art“. Damit wäre nicht nur ein Betrachten der Warnschilder, sondern eine genaue Lektüre der Hinweisschilder erforderlich gewesen, um die Orthese als verbotenen Gegenstand erkennen zu können, zumal auch die bildlichen Darstellungen Gehhilfen nicht zeigten.
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f. Gewichtung der Verschuldensanteile
Daher überwiegt nach Auffassung des OLG Nürnberg das besonders schwerwiegende Mitverschulden der Mitarbeiterinnen im Sinne von § 254 Abs. 1 BGB, das dem Radiologen als Arbeitgeber gemäß § 254 Abs. 2 Satz 2, § 278 BGB zuzurechnen ist. Demgegenüber trete das Verhalten der Patientin zurück, so dass Ansprüche des Radiologen gänzlich ausgeschlossen seien.
Das Ergebnis des OLG Nürnberg erstaunt angesichts des Umstands, dass die Patientin nach Entfernen der Autoschlüssel erklärt hatte, jetzt sei alles Metallische entfernt. Das Gericht hätte diesen Verschuldensbeitrag der Patientin stärker gewichten müssen, da nicht auszuschließen ist, dass die Mitarbeiterinnen verleitet wurden (jedenfalls ist das nicht auszuschließen), von weitergehenden Kontrollmaßnahmen abzusehen.
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II. Der verkannte Nebenbefund
In dem nachfolgend dargestellten Fall hatte der Radiologe mehr Glück.
1. Urteil des OLG Dresden vom 10.10.2023
Dem Urteil des OLG Dresden vom 10.10.2023, Aktenzeichen 4 U 634/23 lag folgender, (abgekürzt wiedergegebenerr) Sachverhalt zugrunde:
Der 1980 geborene Kläger stellte sich bei seinem Hausarzt mit Kopfschmerzen vor. Dieser überwies ihn zur Abklärung der Kopfschmerzen zum MRT. Im Arztbrief an den Hausarzt wird ein altersentsprechender und unauffälliger Befund geschildert. Sodann stellte sich der Kläger bei einem Hals-Nasen-Ohren-Arzt wegen eines seit einigen Wochen bestehenden Tinnitus und Schwindelbeschwerden vor. Eine Computertomographie CT ergab destruierende Knochenveränderungen sowie eine ausgedehnte Cholesteatombildung. Bei dem nachfolgenden Eingriff in der Universitätsklinik Dresden wurde das ausgedehnte Cholesteatom der linken Felsenbeinspitze entfernt, wodurch es zu einer linksseitigen Facialisparese und einem inkompletten Lidschluss kam. Bei einem weiteren Eingriff wurde ein großes Cholesteatomrezidiv im linken Ohr entfernt und die Gesichtsmuskulatur bei bleibender Facialisparese stabilisiert.
a. Rechtsstandpunkt des Klägers: Haftung des Radiologen wegen Befunderhebungsfehlers
Der Kläger vertrat die Auffassung, die Befunderhebung und Auswertung des MRT durch den beklagten Radiologen seien grob behandlungsfehlerhaft gewesen. Die im MRT sichtbare Läsion sei nicht beschrieben und eine weitere Befunderhebung nicht veranlasst worden. Durch die infolgedessen eingetretene Verzögerung der Diagnose und die Operation habe sich die Wahrscheinlichkeit für eine Komplikation erhöht, da das Cholesteatom gewachsen sei. Bei einer rechtzeitigen Diagnose und Behandlung hätte dies vermieden werden können. Der Kläger habe nunmehr eine bleibende Facialisparese, Gleichgewichtsstörungen, Schmerzen im Gesicht und im Ohrbereich sowie weitere Beeinträchtigungen. Der Eintritt von weiteren Schäden sei möglich.
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b. Rechtsstandpunkt des erstinstanzlichen Gerichts: Keine Haftung des Radiologen
Das erstinstanzliche Gericht hat die Klage nach Einholung eines radiologischen Gutachtens und eines Gutachtens eines Facharztes für HNO-Erkrankungen mit der Begründung abgewiesen, es liege zwar ein einfacher Diagnosefehler im Rahmen der MRT-Befundung vor, aber die Ursächlichkeit des Diagnosefehlers für den eingetretenen Schaden könne jedoch nicht festgestellt werden.
Hiergegen richtete sich die Berufung des Klägers. Er beanstandete, dass das erstinstanzliche Gericht auf der Grundlage der sachverständigen Feststellungen von einem Diagnosefehler ausgegangen sei. Es handele sich vielmehr um einen Befunderhebungsfehler. Denn der auffällige und abklärungsbedürftige Befund hätte dem Hausarzt mitgeteilt werden müssen, damit dieser eine weitere Untersuchung hätte veranlassen können. Dementsprechend sei eine Umkehr der Beweislast hinsichtlich der Kausalität eingetreten. Bei einer rechtzeitigen computertomographischen CT-Untersuchung wäre das Cholesteatom erkannt und operiert worden, die Facialisparese wäre dann unter Umständen nicht eingetreten. Das Risiko, eine solche zu erleiden, sei bei einer späteren Operation generell höher. Des Weiteren habe er auch andere gesundheitliche Beeinträchtigungen durch den Behandlungsfehler erlitten; so habe die letzte Operation zu einem Gehörgangverschluss geführt, wonach er auf dem linken Ohr taub sei. Hinzu kämen Gleichgewichtsprobleme, chronische Schmerzstörungen mit somatischen und psychischen Faktoren, eine rezidivierende depressive Störung und eine hypochondrische Störung. Auch die Folgen hätten bei rechtzeitiger Diagnostik vermieden werden können oder wären zumindest in geringerem Ausmaß eingetreten.
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c. Rechtstandpunkt des OLG Dresden: Keine Haftung des Radiologen
Das OLG Dresden ist dem erstinstanzlichen Urteil gefolgt. Es hat sich hierbei zunächst mit der Reichweite des Untersuchungsauftrags eines Radiologen befasst.
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d. Verpflichtungen des Radiologen im Fall eines Nebenbefundes
Der Radiologe, dem ein Patient mit einer bestimmten Fragestellung zur weiteren Untersuchung überwiesen werde, dürfe sich nicht auf den Auftragsumfang beschränken. Aufgrund der ihm gegenüber dem Patienten obliegenden Fürsorgepflicht habe er für die Auswertung eines Befundes all die Auffälligkeiten zur Kenntnis und zum Anlass für gebotene Maßnahmen zu nehmen, die er aus berufsfachlicher Sicht seines Fachbereiches unter Berücksichtigung der in seinem Fachbereich vorausgesetzten Kenntnisse und Fähigkeiten sowie der Behandlungssituation feststellen müsse. Vor in diesem Sinne für ihn erkennbaren „Zufallsbefunden“ dürfe er nicht die Augen verschließen. Das OLG Dresden knüpft damit an die Leitentscheidung des Bundesgerichtshofs zu diesem Thema (BGH, Urteil vom 21.12.2010 – VI ZR 284/09, Rdnr. 12 – juris) an. Vorliegend sei ein solcher Zufallsbefund auf den seitens des beklagten Radiologen erstellten MRT-Sequenzen zu sehen gewesen. Der Sachverständige habe festgestellt, dass auf dem MRT die diskreten Befunde des linken Felsenbeines mit Beteiligung der Bogengänge und der Cochlea deutlich sichtbar seien. Dieser Signalbefund stelle eine Normabweichung dar, die nach dem radiologischen Facharztstandard zu beschreiben sei, damit der behandelnde Arzt in eigener Zuständigkeit weitere Untersuchungen veranlassen könne. Als Nebenbefund könne die Beschreibung dieser Normabweichung für den eigentlichen Behandler, der seinen Patienten sowie dessen Beschwerdeproblematik besser kenne, ein entscheidender Hinweis sein. Werde dieser Befund nicht beschrieben, gehe der behandelnde Arzt indes vom Normalzustand aus, so dass eine weitere Abklärung zu Lasten des Patienten unterbleibe.
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e. Diagnosefehler versus Befunderhebungsfehler
Eine für den weiteren Verlauf des Rechtstreits maßgebliche Weichenstellung war nun, ob dieses Versäumnis des Radiologen als Befunderhebungsfehler oder als Diagnosefehler zu qualifizieren war. Ein Befunderhebungsfehler ist gegeben, wenn die Erhebung medizinisch gebotener Befunde unterlassen oder nicht veranlasst wird. Im Unterschied dazu liegt ein Diagnoseirrtum vor, wenn der Arzt erhobene oder sonst vorliegende Befunde falsch interpretiert und deshalb nicht die aus der berufsfachlichen Sicht seines Fachbereiches gebotenen – therapeutischen oder diagnostischen – Maßnahmen ergreift. Ein Diagnoseirrtum setzt aber voraus, dass der Arzt die medizinisch notwendigen Befunde überhaupt erhoben hat, um sich eine ausreichende Basis für die Einordnung der Krankheitssymptome zu verschaffen. Dagegen ist dem Arzt ein Befunderhebungsfehler vorzuwerfen, wenn die unrichtige diagnostische Einstufung einer Erkrankung ihren Grund bereits darin hat, dass der Arzt die nach dem medizinischen Standard gebotenen Untersuchungen erst gar nicht veranlasst hat, er mithin aufgrund unzureichender Untersuchungen vorschnell zu einer Diagnose gelangt, ohne diese durch die medizinisch gebotenen Befunderhebungen abzuklären, dann ist dem Arzt ein Befunderhebungsfehler vorzuwerfen. Denn bei einer solchen Sachlage geht es im Kern nicht um die Fehlinterpretation von Befunden, sondern um deren Nichterhebung.
Der Fall ist keineswegs eindeutig. Denn der unterlassene Hinweis auf den Nebenbefund hat dazu geführt, dass der Hausarzt im Vertrauen auf den Befundbericht des Radiologen eine weitere Befunderhebung, die auf Grund des Nebenbefundes geboten gewesen wäre, unterlassen hat. Andererseits hat der Radiologe selbst keine weitere Befunderhebung unterlassen, weil er auf Grund des Untersuchungsauftrags nicht verpflichtet war, eine weitere Untersuchung durchzuführen bzw. zu veranlassen; dies fiel in den Verantwortungsbereich des Hausarztes.
Auch das OLG Dresden verneinte einen Befunderhebungsfehler. Der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit liege in der Beschreibung des Befundes als „unauffällig“ und dies stelle eine fehlerhafte Diagnose dar. Dem Radiologen sei der Vorwurf zu machen, einen auffälligen Befund nicht erkannt und nicht beschrieben zu haben. Es gebe zudem keine Anhaltspunkte dafür, dass dem Radiologen die Notwendigkeit weiterer Befunderhebungen bewusst gewesen sei. Schon angesichts der unspezifischen Anforderung mit der Verdachtsdiagnose „Kopfschmerzen“, die eine Vielzahl von Ursachen haben können, die nicht mit einem MRT abgeklärt werden können, habe sich eine ergänzende Bildgebung für den Radiologen nicht aufgedrängt. Fehlerhaft war es daher allein, dass die verdächtige Signalgebung nicht erkannt und demzufolge auch nicht beschrieben worden sei. Dies stelle indes einen Diagnoseirrtum dar.
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f. Zur Abgrenzung Diagnoseirrtum, einfacher Diagnosefehler, grober Diagnosefehler
Diesen Diagnoseirrtum hat das das OLG Dresden als einfachen Behandlungsfehler eingestuft. Ein Fehler bei der Interpretation der erhobenen Befunde stelle allerdings dann einen schweren Verstoß gegen die Regeln der ärztlichen Kunst und damit einen „groben“ Diagnosefehler dar, wenn es sich um einen fundamentalen Irrtum gehandelt habe. Wegen der bei der Stellung einer Diagnose nicht seltenen Unsicherheiten müsse aber die Schwelle hoch angesetzt werden, von der ab ein Diagnoseirrtum als schwerer Verstoß gegen die Regeln der ärztlichen Kunst zu beurteilen sei, der dann zu einer Belastung der Behandlungsseite mit dem Risiko der Unaufklärbarkeit des weiteren Ursachenverlaufs führen könne. Einen schweren Diagnosefehler habe der Sachverständige aber nicht feststellen können.
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g. Auswirkung auf die Verteilung der Beweislast
Damit oblag dem klagenden Patienten die Beweislast dafür, dass der Diagnosefehler ursächlich für den bei ihm eingetretenen Schaden geworden ist. Das OLG Dresden hat sich der Feststellung des Sachverständigen angeschlossen, der davon ausgegangen ist, dass es sich um ein primäres (d. h. genuines) Cholesteatom gehandelt hat, welches über viele Jahre aus embryonal-versprengten Epithelinseln langsam entstanden ist. Eine relevante und für die Kausalität der postoperativen Gesichtsnervenlähmung wesentliche Größenzunahme zwischen der MRT-Untersuchung und dem operativen Eingriff sei daher als wenig wahrscheinlich anzusehen. Es sei vielmehr sehr wahrscheinlich, dass sich mit der postoperativ beobachteten Schädigung des Gesichtsnervs im Wesentlichen ein spezielles und HNO-chirurgisch bekanntes allgemeines Operationsrisiko von Eingriffen zur Resektion großer Cholesteatome der Pyramidenspitze verwirklicht habe. Die Erkrankung des Patienten hätte bereits 34 Jahre bestanden. Bei einer Verzögerung der Operation um 16 Monate könne sich das Cholesteatom geringfügig vergrößert haben, was aber nicht von großer Relevanz sei. Eine frühere Operation hätte daher nicht sicher dazu geführt, dass die Nervenschädigung und die Schädigung des Gleichgewichtsorgans nicht eingetreten wären. Die Verkürzung des Zeitraumes bis zur Operation hätte im Falle des Klägers an diesen Folgen kaum etwas geändert.
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III. Fazit
Die vorgestellten Entscheidungen betreffen ganz unterschiedliche Bereiche radiologischer Tätigkeit und haben auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun. Im Fall des OLG Nürnberg ging es um die Verkehrssicherungspflichten des Radiologen im Vorfeld einer MRT-Untersuchung, im zweiten Fall um die Frage, welche rechtlichen Folgen sich für einen Radiologen ergeben, wenn ein Nebenbefund verkannt worden ist.
Dennoch lässt sich aus den beiden Entscheidungen eine Tendenz in der Rechtsprechung ableiten. Die Rechtsprechung, hier in Gestalt der Entscheidung des OLG Nürnberg, legt hohe Maßstäbe an die Erfüllung der Obhutspflichten des Radiologen gegenüber dem Patienten an. Daher lohnt es, regelmäßig mit den Mitarbeitern Abläufe durchzusprechen und zu üben, die für die Erfüllung dieser Obhutspflichten wichtig sind. Andererseits – das zeigt die Entscheidung des OLG Dresden – respektiert die Rechtsprechung, dass auch dem besten Radiologen ein Irrtum unterlaufen kann, ohne dass sich hieraus sofort ein Verschuldensvorwurf ergibt.
Dr. Horst Bonvie
Rechtsanwalt
Fachanwalt für Medizinrecht
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Publikationsverlauf
Artikel online veröffentlicht:
31. Januar 2024
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