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DOI: 10.1055/a-2239-8785
Mitteilungen der Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie e. V.
Der interessante Fall
Kribbelparästhesien, Tachykardien, Muskelschmerzen, spontane Hautrötungen – bisher kein organischer Befund. Automatisch psychosomatisch?
Ich berichte über eine 48-jährige Patientin ohne wesentliche psychische oder somatische Vorerkrankungen, die vor ca. 6 Jahren erstmals plötzliche Hautrötungen bemerkte, später Ameisenlaufen im Bereich der Hautregionen der Hände, Finger und Fußsohlen ([ Abb. 1 ]). Die damalige neurologische Abklärung ergab unauffällige Befunde der Nervenleitgeschwindigkeiten sowie der sensibel evozierten Potenziale. Monate später kam es zu Muskelschmerzen sowie Tachykardien in Verbindung mit Luftnot. Eine ausführliche kardiologische Abklärung – u. a. EKG, Koronarangiografie, Kernspintomografie – ergab ebenfalls unauffällige Befunde. Auch mehrere orthopädische Untersuchungen ergaben keinen Hinweis für eine organische Genese der muskulären Beschwerden. Zuletzt traten gastroenterologische Symptome auf, die u. a. dazu führten, dass eine Defäkation nur im Intervall möglich war, sodass dies einen Zeitrahmen von mindestens 20–30 Minuten benötigte. 3 Jahre nach den ersten Symptomen befand sich die Patientin in einer psychosomatischen Rehabilitationsklinik, und es wurde ausgegangen von psychischen Erkrankungen in Form von dissoziativen Sensibilitäts- und Empfindungsstörungen, sonstigen somatoformen Störungen etc.
Da nach 3 Jahren die Hautsymptome in den Vordergrund traten und die Patientin auch im Winter bei offenem Fenster schlafen musste, um ihre Haut zu kühlen, erfolgte eine dermatologische Abklärung in einer Universitätsklinik. Dort wurde in einer Hautstanzbiopsie die intraepidermale Nervenfaserdichte bestimmt. Diese war bei der Patientin auf 50 % des physiologischen Wertes gesunken. Somit handelte es sich um eine Small-Fiber-Neuropathie (SFN). Doch Vorsicht. Dass bei einer SFN die Dichte der Nervenfasern reduziert sein soll, ist wie so oft in der Medizin Lehrbuchwissen. Gemäß der SFN-Expertin Prof. Üceyler vom Universitätsklinikum Würzburg hat eine eigene Untersuchung ergeben, dass bei 40 % der Betroffenen keine diesbezüglichen Auffälligkeiten nachzuweisen waren. Einen präzisen Algorithmus für die Diagnosestellung gebe es noch nicht.
Die SFN wurde erstmals 1992 beschrieben. Häufigste Ursache sind wie auch für Polyneuropathien Alkohol und Diabetes. Daneben weitere toxische Agenzien, entzündliche Prozesse oder genetische Ursachen. Bei 50 % der SFN findet man keine Ursache. Die Erkrankung ist selten, aber die Dunkelziffer kann als hoch eingeschätzt werden. Auch wenn viele Beschwerden, für die (bislang) keine organische Ursache gefunden wurde, als wahrscheinlich psychogen anzusehen sind, so sollte insbesondere dann an eine organische Ursache gedacht werden, wenn die bisherige Biografie keine Hinweise für eine psychodynamische Ursache oder psychische Erkrankung ergibt.
Dr. med. Burkhard Voß
Arzt für Neurologie und Psychiatrie, Krefeld
Haben auch Sie über einen interessanten Fall zu berichten? Dann schreiben Sie uns gern an info@bgpn.de.
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Publication History
Article published online:
13 March 2024
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