Endo-Praxis 2024; 40(04): 175
DOI: 10.1055/a-2246-6230
Editorial

Darmspiegelung zur Früherkennung, bis ultimo?

Rainer Duchmann

Entsprechend den Sterbetafeln 2021/2023 hat ein heute in Deutschland geborener Junge eine durchschnittliche Lebenserwartung von 78,2 Jahren, ein Mädchen von 83 Jahren. Doch lassen Sie sich hiervon bitte nicht täuschen! Heute 80-jährige Männer leben im Durchschnitt noch 7,9 Jahre, Frauen noch 9,5 Jahre. Für 90-Jährige lauten die Zahlenpaare 3,5 und 4,2 Jahre, für 100-Jährige 1,7 und 1,9 Jahre. Und dies, obwohl die durchschnittliche Lebenserwartung der heute Betagten zum Zeitpunkt ihrer Geburt sehr viel niedriger lag. Wer also erstmal ein gewisses Alter erreicht hat, hat meist die Chance, auch noch etwas älter zu werden. Doch wer sollte noch eine Empfehlung zur Früherkennungs-Darmspiegelung erhalten, und wer nicht?

In Deutschland können gesetzlich versicherte Frauen und Männer ab dem 50. Lebensjahr einen immunologischen Test zum Nachweis von Blut im Stuhl durchführen lassen. Eine Früherkennungs-Darmspiegelung (im Alltag oft als Vorsorgekoloskopie bezeichnet) können gesetzlich versicherte Männer ab dem 50. Lebensjahr und Frauen ab dem 55. Lebensjahr zweimal im Abstand von 10 Jahren in Anspruch nehmen. Wer seine erste Darmspiegelung erst ab dem 65. Lebensjahr durchführen lässt, hat keinen weiteren Anspruch.

Dies ist mit der derzeit publizierten, in Aktualisierung befindlichen, Leitlinie der DGVS vereinbar, die den Beginn der Darmkrebs-Früherkennung allgemein ab dem 50. Lebensjahr empfiehlt. Die o.g. Regeln und Empfehlungen gelten notabene nur für die asymptomatische Bevölkerung und nur, wenn die Person keiner Risikogruppe für das Auftreten eines kolorektalen Karzinoms angehört.

Während der Beginn der Früherkennungsmaßnahmen demnach relativ klar im Bereich von 50 Jahren lokalisiert ist, mit Tendenz zu jüngeren Jahrgängen, ist die obere Altersbegrenzung sehr viel schwieriger zu definieren. Die o.g. deutsche Leitlinie verweist dementsprechend auf eine individuelle Entscheidung unter Berücksichtigung der Begleiterkrankungen, die American Cancer Society empfiehlt bei guter Gesundheit und einer Lebenserwartung von mehr als 10 Jahren eine Früherkennung bis zum 75. Lebensjahr, ein individuelles Vorgehen bei 75–85-Jährigen und setzt ein absolutes Stoppschild für ein weiteres Screening bei über 85-Jährigen.

Doch wie sieht die Praxis aus? Eine aktuelle Studie aus den USA [1] stellte fest, dass die Durchführung einer Früherkennungskoloskopie bei 65–84-Jährigen unabhängig von deren berechneter 10-Jahres Sterblichkeit durchgeführt wurde. Eine andere, bei über 65-Jährigen durchgeführte Studie [2] fand, dass in dieser Gruppe auch Personen mit einer erwarteten Lebenserwartung von weniger als 5 Jahren noch zu 58,1% die Empfehlung zur Durchführung einer weiteren Früherkennungskoloskopie erhielten. Bedenkt man, dass die Transformation eines zunächst harmlosen Polypen in ein Karzinom ca. 10–15 Jahre benötigt, ist dies bereits alleine aus diesem Grund nicht sinnvoll.

Für eine Abschätzung der Sinnhaftigkeit einer Untersuchung ist zudem von Interesse, mit welchen Befunden die Betroffenen rechnen müssen. Eine aktuelle Studie aus den USA [3] bei 70–85-Jährigen, bei denen bereits mindestens 12 Monate zuvor ein Adenom abgetragen worden war, fand ein kolorektales Karzinom bei nur 0,3% und fortgeschrittene Adenome bei 11,7% der Untersuchungen. In Australien [4] fand sich bei 1,6% der 75–91-Jährigen ein kolorektales Karzinom, 37,9% hatten fortgeschrittene Adenome.

In die Entscheidung, welcher Patient noch eine Früherkennungskoloskopie erhalten sollte, müssen sicherlich zahlreiche Aspekte einbezogen werden. Die Daten der o.g. Studien und weitere Daten können helfen, unter Berücksichtigung von biologischem Alter, Patientenpräferenz, besonderen Risikokonstellationen (Karzinom oder Adenome in der Vorgeschichte, weitere individuelle tumorspezifische Risikofaktoren), Biologie der Karzinogenese des kolorektalen Karzinoms, Ressourcen und ökonomische Bewertungen, etc., möglichst passgenaue Empfehlungen zu formulieren.

Herzliche Grüße

Ihr Rainer Duchmann



Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
05. Dezember 2024

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