„Ich habe lange gemeint, dass es normal sei, jeden Tag Schmerzen zu haben, insbesondere
nach Bewegung“, erzählt Jane*. Jane hat das hypermobile Ehlers-Danlos-Syndrom (hEDS)
und bevorzugt, keine Pronomen zu verwenden. Gelenk- und Muskelschmerzen, Tendinopathien,
(Sub-)Luxationen, Skoliose und Arthrose sind typische muskuloskelettale Manifestationen
symptomatischer Hypermobilität [1], [2]. Viele Betroffene haben weitere Komorbiditäten und Symptome wie Kopfschmerzen, Angst
und Depressionen, ADHS, Autismus, Probleme mit orthostatischer Intoleranz (Schwindel,
Präsynkopen oder Synkopen), Fatigue, veränderte Wundheilung und Hauteigenschaften
sowie gastrointestinale, immunologische, urogenitale und Nervensystemstörungen [1]–[9]. Verletzungen von Bändern und Sehnen können ohne klar erkennbares Trauma oder mit
sehr wenig Krafteinwirkung entstehen und dauern länger, um auszuheilen [10]. Auch Herzfehler wie ein Mitralklappenprolaps aufgrund von andersartigem Bindegewebe
können vorkommen [2]. Zudem haben viele hypermobile Menschen Defizite in der Propriozeption und Bewegungskoordination
[11], [12]. Suchen sie ärztlichen Rat, erhalten sie oft Fehldiagnosen (wie Fibromyalgie oder
chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS) [13]), landen in der „Psychosomatik-Schublade“ oder bekommen zu hören, was Jane oft zu
hören bekam: „Ja, das gibt es halt oft bei jungen Frauen.“
Weil viele medizinische Fachpersonen während ihrer Ausbildung lernen, dass Bindegewebsstörungen
sehr selten sind, ziehen sie ein solches Krankheitsbild oft nicht in Erwägung. Dabei
gibt es im englischsprachigen Raum schon länger die Floskel, die auch von Physiotherapeut*innen
beachtet werden sollte: „If you can’t connect the issues, it’s the connective tissues“
(Wenn du keine Verbindung zwischen den Problemen siehst, dann liegt es am Bindegewebe).
Denn hypermobile Menschen treffen auch bei Physiotherapeut*innen oft auf Ratlosigkeit,
wenn das Bewegungsausmaß frei ist und die Muskelfunktionswerte mehr oder weniger normal
sind. Manchmal erscheint die betroffene Person in der Beweglichkeitsüberprüfung sogar
gar nicht hypermobil, weil der Körper sich über die Lebenszeit immer mehr versteift
hat, um die mangelnde Gelenkstabilität zu kompensieren. Man spricht dann von historischer
Hypermobilität.
© goldnetz/stock.adobe.comQuelle: Tanja Hoch, Basel
HYPERMOBILITÄT ERKENNEN
Laut Schätzungen der EDS-Society geht man in Nordeuropa davon aus, dass eine von 500–900
Personen eine der zwei häufigsten Formen von symptomatischer Hypermobilität hat –
eine Hypermobility Spectrum Disorder (HSD) oder das hypermobile Ehlers-Danlos-Syndrom
(hEDS) [14]. Die EDS-Society geht sogar davon aus, dass dies grob unterschätzt ist, da viele
Menschen mit HSD und hEDS entweder fehldiagnostiziert werden, nicht diagnostiziert
werden oder es sehr lange dauert, bis sie diagnostiziert werden [4]. Die Chance, dass noch undiagnostizierte hypermobile Menschen mit ihren muskuloskelettalen
Problemen in einer Physiotherapiepraxis auftauchen, ist daher hoch. Und es ist wichtig,
dass Physiotherapeut*innen sie screenen können und gegebenenfalls zu einer differentialdiagnostischen
Abklärung mit dem Verdacht auf HSD oder hEDS (oder einer der zwölf anderen, seltenen
Formen des EDS, die genetisch diagnostizierbar sind) verweisen können.
„Ich wünsche mir, dass sich mehr Physios mit der Therapie von Personen mit Bindegewebsstörungen
auseinandersetzen“, erzählt Jane. „Wir sind auf die Physiotherapie angewiesen, um
eine Verschlechterung unseres Zustands zu verhindern und Funktionen aufrechtzuerhalten.
Sie kann uns im Schmerzmanagement und im Aufbau der Stabilität und Muskulatur helfen.
Für mich ist es entscheidend, eine gute Physiotherapeutin zu haben, um meinen Rollstuhl
nicht so oft – oder wenn möglich gar nicht – gebrauchen zu müssen.“
Vom Zeitpunkt der ersten Symptome bis zur Diagnose verstreicht oft sehr viel Zeit
[14]. Bei Jane waren es 35 Jahre: „Ich war schon als Neugeborenes auffällig, und mein
Kinderarzt wollte mich an einen Orthopäden überweisen. Doch meine Mutter machte nie
einen Termin, da sie Angst hatte, dass die Hilfsmittel und Behandlungen zu viel kosten
würden.“ So kam es, dass bei Jane erst eine Autismusdiagnose im Erwachsenenalter dazu
führte, dass klar wurde, woher die Beschwerden kommen. „Ich habe mich nach der Autismusdiagnose
mit typischen Komorbiditäten auseinandergesetzt und das erste Mal über EDS gelesen.
Ich stellte fest, dass vieles auf mich zutraf. Nach einer erneuten Subluxation des
linken Hüftgelenks mit Schleimbeutelentzündung habe ich zum ersten Mal einen Orthopäden
gebeten, mich im genetischen Zentrum in Zürich anzumelden.“ Nach der hEDS-Diagnose
dauerte es noch über zwei Jahre, bis Jane eine Physiotherapeutin fand, die sich mit
der Behandlung von hEDS auskannte.
EDS-Society (Informationen für Betroffene und Professionelle): www.ehlers-danlos.com
Podcast der EDS-Expertin Dr. Linda Bluestein: www.bendybodiespodcast.com
Instagram: Kanal von Dr. Melissa Koehl (dr.melissakoehl.pt); (siehe auch Interview mit ihr in
den Zusatzinfos zum Artikel, DOI: 10.1055/a-2247-1345); Kanal von Dr. Cortney Gensemer
(cortdoesscience)
Bücher: Smith C. Understanding Hypermobile Ehlers-Danlos Syndrome & Hypermobility Spectrum
Disorder. 2. Aufl. Weston-super-Mare: Redcliff-House Publications; 2024 Sturm K, Jung
H, Maier A. Ratgeber Ehlers-Danlos-Syndrome. Komplexe Bindegewebserkrankungen einfach
erklärt. Heidelberg: Springer; 2022
Dos und Don’ts bei symptomatischer Hypermobilität
Dos
-
auf das Individuum einlassen
-
ausprobieren, welche Maßnahmen helfen und welche nicht
-
Stabilitätsaufbau priorisiert von proximal nach distal (dann Kraftaufbau und Hypertrophie)
– Beckenboden, M. trans- versus abdominis und Zwerchfell nicht vergessen
-
langsame, technisch perfekte Übungsausführung; dabei Fokus auf Details ÜBUNGEN, S.
42)
-
taktile Reize einsetzen (Hände, Gummibänder, Wand, Boden etc.); ggf. Spiegel verwenden
-
dazu anregen, gastrointestinale Symptomatiken abklären zu lassen, da diese entzündliche
Prozesse und Malabsorption mit sich bringen können
-
langsamere Erholungszeit beachten (v. a. bei Untrainierten)
-
veränderte Anstrengungs- und Schmerzwahrnehmung beachten
-
Wenn das Training zu überschießenden Entzündungsprozessen beiträgt, Intensität vorübergehend
reduzieren und Management von Mast Cell Activation Syndrome (MACS) und Histamin-Overload
priorisieren.
-
mehrere Variationen einer Übung anleiten, damit das Gelenk im Alltag Kräfte besser
abfangen kann; dabei übers ganze Bewegungsausmaß kontrolliert bis zum letzten Überstreckungsgrad
Kraft aufbauen, aber nicht unter Belastung passiv in der Endposition „hängen“
-
Patientenedukation: Literatur- und Videoempfehlungen sowie Eigenübungen mitgeben
-
Optimismus verbreiten, dass Symptome in den Griff bekommen und reduziert werden können
-
Sympathikotonus senken
-
statisch aktive und dynamisch aktive Dehnungen anleiten, die durch das ganze Bewegungsausmaß
kontrolliert werden können – Ziel ist es, die Lücke zwischen passiver und aktiver
Flexibilität möglichst zu schließen
Don’ts
-
kein Krafttraining durchführen lassen
-
Übungen ungenau ausführen lassen
-
zu schnelle Progressionen des Trainings und zu häufig maximal ausbelasten lassen
-
Dehnen komplett vermeiden (denn es schadet nicht allen)
-
manuelle Techniken und Massage zur Detonisierung anwenden, ohne vorab Risikofaktoren
wie kraniozervikale Instabilität abgeklärt zu haben und ohne zeitgleich die tiefen
Stabilisatoren zu kräftigen
Hintergrund: © goldnetz/stock.adobe.com
VERSORGUNGSLÜCKE SCHLIEßEN
VERSORGUNGSLÜCKE SCHLIEßEN
Um die Suche für Betroffene zu vereinfachen, existiert ein internationales Verzeichnis
der EDS-Society [15], in das sich medizinische Fachkräfte selbstständig eintragen können. Der Wunsch
der Gesellschaft ist es, damit die Versorgungslücke zu schließen. Denn im Februar
2024 sind zum Beispiel in Deutschland und Österreich keine Physiotherapeut*innen registriert,
in der Schweiz lediglich drei. Auch bezüglich anderer Fachdisziplinen sind die Einträge
spärlich. Besonders relevant sind neben der Physiotherapie die Ergotherapie, die Rheumatologie
und die Genetik.
FÜR ANDERE OFT UNSICHTBAR
FÜR ANDERE OFT UNSICHTBAR
Auch wenn Bindegewebsstörungen nicht heilbar sind, das richtige Management, körperliches
Training und der Einsatz von Hilfsmitteln können die Lebensqualität der betroffenen
Menschen massiv steigern. Das Spektrum symptomatischer Hypermobilität ist dabei vielfältig.
Einige Betroffene leben mit geringen Beschwerden und können problemlos einem Beruf
nachgehen. Andere haben eine eingeschränkte Mobilität, sind auf Stützstrümpfe, Rollstuhl
oder andere Hilfsmittel angewiesen, sind teilweise oder ganz arbeitsunfähig. Dazwischen
existieren alle möglichen Varianten. Meist aber ist eine symptomatische Hypermobilität
eine „unsichtbare“ Behinderung bei der ihr Grad sehr stark fluktuieren kann: Ein paar
Tage erscheint die betroffene Person ganz normal, an anderen kann sie das Haus nicht
verlassen. Dies kann im sozialen Umfeld und im Job immer wieder Verwirrung stiften.
Jane und Anna – ebenfalls an hEDS erkrankt – haben beide das Glück, dass sie Arbeitsplätze
gefunden haben mit verständnisvollen Chefs und Mitarbeitenden. Teilzeitarbeit und
flexibles Homeoffice sind möglich. Anna trainiert regelmäßig für Zirkusauftritte und
macht sich – wie viele Menschen mit hEDS – ihre Flexibilität zunutze. Aber auch Anna
leidet unter typischen Beschwerden: „Ich habe Gelenkschmerzen, Subluxationen, Verdauungsbeschwerden,
Mühe mit Aufmerksamkeit und Müdigkeit. Langes Stehen und Sitzen lösen Schmerzen aus.
Als Jugendliche wurde bei mir ADHS diagnostiziert, aber hEDS wurde nicht in Erwägung
gezogen.“ Am ganzen Körper sind die Gelenke extrem beweglich und die Haut ist dehnbar,
samtig und eher transparent. Krampfadern sind bei Anna früh aufgetreten ebenso wie
Dehnungstreifen, obwohl keine Gewichtsschwankung und auch keine Schwangerschaft vorlag.
Kompressionsstrumpfhosen sind für Anna unverzichtbar geworden. „Sie halten mich zusammen
und wacher und somit aufmerksamer.“
Anna fällt in den Bereich des Hypermobilitätsspektrums, aus dem viele Leistungs- und
Hobbysporttreibende stammen. Durch die Veranlagung, sehr flexibel zu sein, trifft
man diese Menschen oft in den Sportarten an, bei denen ein hohes Bewegungsausmaß erfolgreich
macht [16] – Kunstturnen, Ballett, Zirkus und Yoga ... Dabei leiden sie aber häufiger unter
Verletzungen als ihre kollagen-typischen Mitstreiter*innen und brauchen oft länger,
damit Verletzungen ausheilen, und haben mehr koordinative Probleme [10]. „Ich wusste, dass ich beweglicher als die meisten anderen Menschen bin. Dies war
im Sport und später im Zirkus natürlich eine großartige Sache, und ich wählte entsprechende
Disziplinen“, erzählt Anna. Erst andere Betroffene gaben aufgrund der Symptome den
Rat, eine Hypermobilität abklären zu lassen. Davor hatte Anna noch nie von EDS gehört.
Seit der Diagnose trainiert Anna zielgerichteter und bewusster. Unvorhersehbare Elemente
und sehr schnelle, nicht planbare Bewegungen, Situationen, in denen Kräfte aus ungewohnten
Winkeln auf die Gelenke wirken, wie sie beispielsweise in dynamischen Akrobatikelementen
vorkommen, gehören nicht mehr zu ihrem Trainingsprogramm. Das Training gestaltet Anna
sanft, kräftigend und stabilisierend. „Sich nicht mehr bewegen kommt gar nicht infrage,
denn Nichtstun löst in mir Schmerzen aus. Ich muss nur clever sein und spüren, was
mir guttut und lassen, was mir nicht guttut – dazu haben mir die Ärzte geraten und
mir die Selbstverantwortung zugetraut.“
SCREENING-TOOLS
Schätzungsweise 20 Prozent der Bevölkerung sind hypermobil [17]. Symptome haben aber längst nicht alle von ihnen. Weshalb manche symptomfrei sind
und andere nicht, ist bis heute unklar [1]. Gibt es Hinweise auf eine symptomatische Hypermobilität, eignen sich verschiedene
Screening-Tools, die Therapeut*innen einsetzen können. Auf der Website der EDS-Society
sind die genauen Diagnosekriterien für HSD und hEDS zu finden (EDS im Netz, S. 39).
Haben Physiotherapeut*innen den Verdacht auf Vorliegen einer Hypermobilität, eignet
sich der Beighton-Score für eine erste Abklärung. Ist dieser positiv (siehe unten)
und liegen verschiedene rezidivierende chronische muskuloskelettale Beschwerden und
unklare Beschwerden anderer Körpersysteme vor, sollte man in Richtung HSD und hEDS
denken. Der Unterschied zwischen beiden liegt in ein paar spezifischen Diagnosekriterien,
auf die hier nicht genauer eingegangen werden kann. Denn bis heute ist nicht abschließend
geklärt, ob es sich um zwei verschiedene Erkrankungen oder um ein Spektrum derselben
Krankheit handelt. Es sollte aber beachtet werden, dass hEDS nicht die „stärkere“
Variante von HSD ist. Beide Krankheitsbilder existieren auf einem Spektrum, und Menschen
können bei jeder Variante und jedem Symptom sehr stark, mittelmäßig oder wenig betroffen
bzw. eingeschränkt sein ([ABB. 2]).
ABB. 2 Die Grafik der EDS-Society veranschaulicht, wie unterschiedlich die Symptome bei gleicher
Diagnose sein können.
Quelle: With permission of The Ehlers-Danlos Society; www.ehlers-danlos.com
Beighton-Score: Der Beighton-Score ist der Klassiker, um eine generelle Hypermobilität zu erkennen
([TAB]. und ABB. 1, S. 38/39). Ein Beighton-Score von 6/9 bei vorpubertären Kindern, 5/9
bei Erwachsenen unter 50 und 4/9 bei Erwachsenen über 50 gilt als positiv [20]. Da der Score nur wenige Gelenke testet und damit nicht alle Menschen mit Hypermobilität
erfasst, sollte er allerdings nicht als Einziges herangezogen werden. Dr. Melissa
Koehl, Physiotherapeutin mit Schwerpunkt Hypermobilität aus den USA empfiehlt daher,
hEDS basierend auf dem Vorhandensein von fünf oder mehr Gelenken, die hypermobil sind,
einzustufen, „auch wenn es nicht dieselben Gelenke des Beighton-Scores sind, solange
die Person auch die anderen diagnostischen Kriterien erfüllt“ (INTERVIEW ALS ZUSATZINFO).
TAB.
Beighton-Score zur Bestimmung einer generalisierten Hypermobilität
|
Test
|
Punkte
|
|
Handflächen können bei gestreckten Knien auf den Boden aufgelegt werden.
|
1 Punkt
|
|
Überstreckbarkeit der Ellenbogen um ≥ 10°, jeweils rechts und links (ABB. 1B)
|
je Seite 1 Punkt
|
|
Daumen berührt den Unterarm (ABB. 1C).
|
je Seite 1 Punkt
|
|
Überstreckung des Grundgelenks des kleinen Fingers auf 90° (ABB. 1A)
|
je Seite 1 Punkt
|
|
Überstreckbarkeit der Kniegelenke um ≥10°
|
je Seite 1 Punkt
|
Quelle: Grim C. Beighton-Score. In: Engelhardt M, Grim C, Nehrer S, Hrsg.Das Sportlerknie.
1. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2019
5 PQ – Five-Part-Questionnaire: Der 5 PQ kann vor allem bei älteren Menschen helfen, eine historische Hypermobilität
zu identifizieren. Er gilt als positiv für generelle Hypermobilität, wenn die Befragten
zwei oder mehr Fragen mit „Ja“ beantworten.
-
Können oder konnten Sie jemals Ihre Hände flach auf dem Boden platzieren, ohne die
Knie zu beugen?
-
Können oder konnten Sie jemals Ihren Daumen zum Unterarm beugen und berühren?
-
Haben Sie als Kind Ihren Freundeskreis unterhalten, indem Sie Ihren Körper in merkwürdige
Figuren gedehnt haben, oder konnten Sie Spagat?
-
Haben Sie als Kind oder Teenager mehr als einmal Ihre Patella oder Schulter luxiert?
-
Nehmen Sie sich selbst als überdurchschnittlich gelenkig wahr?
HST – Hypermobility Screening Tool: Der HST ist ein neues Tool, dass Aiko Callahan und Team 2022 veröffentlichten [16] und dessen Nutzen sich noch in Studien wird nachweisen lassen müssen. Es soll helfen,
symptomatische Hypermobilität und ihre multisystemischen Auswirkungen zu erfassen
und herauszufinden, an welche medizinischen Fachpersonen Betroffene überwiesen werden
sollten. Die Kenntnis dieses Tools hilft aber in jedem Fall, in der Anamnese geeignete
Fragen zu stellen. Das Tool ist im Internet frei verfügbar (bit.ly/HypermobilityScreeningTool).
Upper and Lower Limb Hypermobility Assessment Tools: Die Upper and Lower Limb Hypermobility Assessment Tools [18], [19] systematisieren die Beweglichkeitsüberprüfung aller Gelenke der oberen und unteren
Extremitäten. Sie sind besonders hilfreich, um zu eruieren, ob andere Gelenke als
diejenigen des Beighton-Scores hypermobil sind.
Squatty Single Leg Deadlift mit Miniband
Squatty Single Leg Deadlift mit Miniband
Ziel
Kräftigung der lateralen und tiefen Hüftgelenkmuskulatur, der dorsalen Kette und des
M. quadriceps. Fördern des Gleichgewichts und der motorischen Kontrolle. Funktionell
für alle ADLs, die Kniebeugeelemente enthalten (Treppe, Radfahren, Aufstehen). Ist
die Übung noch zu schwierig, zuerst mit Kniebeugen beginnen und dann mit Lunges steigern.
ASTE
Hüftbreiter Stand mit Band oberhalb der Patellae. Das Band sollte so fest sein, dass
es nicht zu einer Abweichung in Hüftgelenkabduktion kommt, wenn man die Knie in den
Widerstand des Bandes presst. Ein Bein wird leicht nach hinten versetzt und auf die
Zehen gestellt. Gewichtsbelastung Standbein: 80–95 %, Hände am Becken.
Durchführung
Bewegung über die Hände am Becken initiieren, Becken nach vorne kippen, Oberkörper
neigt mit neutraler Wirbelsäule nach vorne, Standbein beugen. Die Knie pressen während
der ganzen Bewegung seitlich ins Band. Wiederholungen und Serien so dosieren, wie
es der aktuelle Trainingszustand ermöglicht.
Häufiger Fehler
Becken nicht parallel zum Boden, Standbein gerät in Abduktion
Außenrotationmit Gurt
Ziel
Kräftigung des M. serratus anterior und der Schultergelenkaußenrotatoren. Hilft bei
allen Alltagshandlungen, die über Kopf stattfinden. Vergrößerung des kontrollierbaren
Bewegungsausmaßes (ROM).
ASTE
Ellenbogen und Hände schulterbreit auseinander, 90° EG-Flexion und Supination, Hände
halten Gurt kräftig nach lateral in den Widerstand des Gurtes, die Ellenbogen bleiben
permanent schulterbreit auseinander, die Schulterblätter in sanfter Depression
Durchführung
Alle Positionen und Winkel sowie der Zug in den Gurt bleiben gleich, während ohne
Ausweichbewegung der LWS in Schultergelenkflexion bewegt wird. Die Bewegung soll nur
so weit ausgeführt werden, wie die LWS kontrolliert werden kann und der M. trapezius
pars descendens inaktiv bleibt. Ein taktiler Reiz am Angulus inferior kann helfen,
die Aufwärtsrotation der Skapula spürbar zu machen.
Häufige Fehler
Hyperlordose; Ellenbogen drehen nach lateral weg und/oder Hände wandern nach medial
und können Zug in den Gurt nicht mehr aufrechterhalten
Segmentale Katze-Kuh
Ziel
Aktivierung der tiefen Rückenstabilisatoren. Fördern der motorischen Kontrolle und
Koordination. Mobilisation der BWS. Kann die Übung nicht kontrolliert umgesetzt werden,
mit Beckenbewegungen in Rückenlage oder im Sitz beginnen und über reguläre Katze-Kuh
steigern.
ASTE
Katzenbuckel mit Händen im Lot unter Schultern und den Knien im Lot unter den Hüftgelenken.
Die Therapeutin legt den Zeigefinger auf L5/S1 und erklärt, dass nur dort in Extension
bewegt werden soll, wo man den Finger spürt. Das Tempo soll dabei sehr langsam gehalten
werden.
Durchführung
Wirbel für Wirbel fährt die Therapeutin mit dem Finger an der Wirbelsäule bis zur
HWS hoch, und die oder der Übende versucht, Segment für Segment in Extension zu bewegen.
Im Anschluss folgt die Gegenbewegung in den Katzenbuckel (wieder beginnend mit dem
Finger auf L5/S1). Wiederholungen und Serien so dosieren, wie es der aktuelle Trainingszustand
ermöglicht.
Häufige Fehler
Protraktion der Scapulae geht bei BWS-Extension verloren. Ellenbogen beugen sich als
Ausweichbewegung bei BWS-Extension. HWS/Kopf bewegen sich zu früh mit.
Dreibeinstand
Ziel
Verbesserung der Skapula- und Rumpfstabilität. Fördern der motorischen Kontrolle.
ASTE
Handgelenke im Lot unter den Schulter-gelenken, Knie im Lot unter den Hüftgelenken,
neutrale Wirbelsäule. Schultern in Protraktion und sanfter Depression.
Durchführung
Um Skapula- und Rumpfstabilisatoren zu aktivieren, eine Hand 1–2 cm vom Boden abheben,
ohne dass es zu einer Gewichtsverlagerung weg vom abgehobenen Arm kommt. Halten der
Postition für 30–60 s, mehrere Durchläufe links und rechts. Anzahl so dosieren, wie
es der aktuelle Trainingszustand ermöglicht.
Häufige Fehler
Brust- und Lendenwirbelsäule und/oder HWS können nicht in neutraler Stellung gehalten
werden. „Wegshiften“ vom abgehobenen Arm, Protraktion/Depression kann nicht gehalten
werden.
MIT PHYSIOTHERAPIE AKTIVITÄT FÖRDERN
MIT PHYSIOTHERAPIE AKTIVITÄT FÖRDERN
Damit Menschen mit hEDS ihrem sportlichen Beruf oder Hobby nachgehen können, brauchen
sie physiotherapeutische Unterstützung. Therapeut*innen sollten ein möglichst hohes
und regelmäßiges Aktivitätsniveau unterstützen. So konnte beispielsweise eine Studie
mit jugendlichen Tänzer*innen und Zirkusartist*innen belegen, dass sich sonst die
Beschwerden verstärken. Bei denen, die nach einer EDS-Diagnose ihre Sportart aufgegeben
hatten, waren eine Symptomverschlechterung und ein Angst-Vermeidungsverhalten die
Folge [16]. Wichtige Eckpfeiler der Physiotherapie sind die Patientenedukation, die Schulung
der Körperwahrnehmung und Propriozeption sowie ein Stabilisations- und Krafttraining.
Haben Physiotherapeut*innen eine symptomatische Hypermobilität identifiziert, gilt
es einen individuellen Therapieplan zu erstellen. Generell sinnvoll ist es, die Propriozeption
zu verbessern, Haltungsgewohnheiten und Atemmuster anzupassen sowie kompensatorische
Abstützungs- und Schutzmechanismen zu identifizieren. Anders als früher häufig postuliert,
sind sich viele Expert*innen heute einig, dass es neben Stabilitätsverbesserung sinnvoll
ist, ein progressives Krafttraining anzuleiten. Dabei sollten Physiotherapeut*innen
detailliert auf die Ausführung der Übungen schauen (Übungen). Es sollte mit niedriger
Intensität begonnen werden, da die eigene Belastungsgrenze häufig nicht gut gespür
wird und Überlastung droht. Zudem ist es wichtig, genügend Aufmerksamkeit auf Erholungsstrategien
zu legen, um zu vermeiden, dass das Training Schmerzschübe und überschüssige Immunreaktionen
triggert.
Müdigkeit, schlechter Ernährungszustand, orthostatische Intoleranz, Bauchschmerzen,
Übelkeit und vieles mehr können Therapiesitzungen und Heimübungsprogramme beeinträchtigen.
Es ist wichtig, den Betroffenen zu helfen, diese Symptome zu identifizieren und sie
bei der Suche nach Anbietern zu unterstützen, die die Begleiterkrankungen von EDS
verstehen und managen. Ebenso sinnvoll ist es, wo hilfreich, Hilfsmittel wie Orthesen,
Tapes, Stützen oder Schienen einzusetzen, um eine bessere gesellschaftliche Teilhabe
zu ermöglichen.
Tanja Hoch
* Name von der Redaktion geändert