Nervenheilkunde 2024; 43(06): 340-349
DOI: 10.1055/a-2261-0745
Schwerpunkt

Neurobiologie und Wirkmodelle zu Psychedelika

Neurobiology and modes of action of psychedelics
Uwe Herwig
1   Zentrum für Psychiatrie Reichenau, akademisches Lehrkrankenhaus Universität Konstanz, Reichenau,
2   Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie III, Universität Ulm
3   Psychiatrische Universitätsklinik Zürich
,
Mihai Avram
4   Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Universität zu Lübeck
,
Stefan Borgwardt
4   Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Universität zu Lübeck
,
Helena D. Aicher
3   Psychiatrische Universitätsklinik Zürich
› Author Affiliations
 

ZUSAMMENFASSUNG

Zur Beantwortung der Frage, ob Psychedelika eine therapeutische Wirkung bei psychischen Erkrankungen aufweisen, ist entscheidend, sich mit möglichen Wirkmechanismen auseinanderzusetzen. Solche können auf psychopharmakologischer, neurobiologischer, neurosystemischer und psychotherapeutischer Ebene beschrieben werden. Neben der klassischen Pharmakologie befasst sich der Artikel mit neurobiologischen Befunden zur Emotionsregulation, der Wahrnehmungsverarbeitung und dem Ruhemodus-Netzwerk unter dem Einfluss von Psychedelika. Hieraus können Hypothesen zur Wirkweise aus einer neurodynamischen Perspektive abgeleitet werden. Letztlich wird der Übergang zu psychotherapeutischen Wirkfaktoren beschrieben. Eine neurobiologisch und psychotherapeutisch integrative Betrachtung der Psychedelikawirkung kann helfen, gezielte psychotherapeutische Interventionen bzw. eine psychotherapeutische Basis für die Einbettung einer Psychedelikaanwendung zu gestalten.


#

ABSTRACT

Understanding the therapeutic potential of psychedelics in mental illness necessitates an exploration of their underlying mechanisms of action across various levels. This includes psychopharmacological, neurobiological, neurosystemic, and psychotherapeutic dimensions. In addition to traditional neurochemical and receptor physiology considerations, this article delves into neurobiological insights regarding emotion regulation, perceptual processing, and the default mode network modulation induced by psychedelics. These insights provide a foundation for formulating hypotheses on the neurodynamic information processings involved. Furthermore, the transition to psychotherapeutic effects is discussed, emphasizing the integration of neurobiological and psychotherapeutic perspectives. Adopting a comprehensive view of psychedelics’ effects can inform the development of targeted psychotherapeutic interventions or establish a psychotherapeutic framework for incorporating psychedelic use in therapeutic settings.


#

Einleitung

Psychedelika eint die beeindruckende Eigenschaft, ein komplex verändertes psychisches Erleben durch ein einzelnes chemisches Molekül in teils Mikrogrammdosierung zu erzeugen. Schon früh kam die Überlegung auf, dass über diese Erkenntnisse möglicherweise nicht nur Modelle für Psychosen entwickelt, sondern auch die neurochemischen Grundlagen psychiatrischer Erkrankungen besser verstanden werden könnten. Zudem eröffnete sich die Möglichkeit, therapeutisch auf das Gehirn einzuwirken. In den ersten Jahrzehnten der Erforschung neurobiologischer Aspekte der Psychedelikawirkung, insbesondere nach der Entdeckung von Lysergsäurediethylamid (LSD) in den 1940er-Jahren, lag der neurobiologische Fokus um und ab den 1950er-Jahren auf der Psychopharmakologie, insbesondere der Neurotransmitterchemie [1]. Ab den 1990er-Jahren folgten als ein zweiter großer Ansatz bildgebende Studien mit Positronen-Emissionstomografie (PET), funktioneller Magnetresonsanz-Tomografie (fMRT) [2] sowie Untersuchungen mittels Elektroenzephalografie (EEG). Neurochemisch kam die Erfassung von Wirkungen auf neurotrophe, neuroendokrine oder neuroinflammatorische Systeme hinzu [3]. Aus den Befunden wurden übergeordnete Erklärungsmodelle abgeleitet, welche eine neurosystemische Perspektive anbieten [4]–[6].

Trotz einer Vielzahl an Studien zu dem Thema Psychedelika und Neurobiologie ([ Abb. 1 ]) liegt kein etabliertes oder abgerundetes Modell der Wirkweise von Psychedelika vor. Hilfreich wären solche Modelle, um die psychedelische Wirkung therapeutisch gezielter zu bahnen. Hierbei könnte die Integration neurobiologisch-systemischer Befunde und psychodynamisch-psychotherapeutischer Überlegungen für die Entwicklung von Wirkalgorithmen bzw. pathophysiologisch oder psychodynamisch abgestützten und damit prospektiv berechenbaren Therapieansätzen dienen.

Zoom Image
Abb. 1 Pubmedsuche mit den Stichwörtern „Psychedelics + neurobiology”, 2023: n = 68 Link: psychedelics + neurobiology – Search Results – PubMed (nih.gov)

In der Folge sollen verschiedene neurobiologische Perspektiven auf die Psychedelikawirkung aufgezeigt werden: zunächst pharmakologisch insbesondere auf Neurotransmitter bezogen, ergänzt um weitere neurochemische Befunde; dann aus Bildgebungsstudien abgeleitete neurosystemische Überlegungen und abschließend noch ein neurodynamischer Ansatz mit Verknüpfung zu psychotherapeutischen Wirkhypothesen.


#

Psychopharmakologie und Neurochemie

Anhand von Rezeptorbindungsstudien konnte für klassische Psychedelika wie LSD, Psilocybin, Meskalin und N,N-Dimethyltryptamin (DMT) vor allem eine agonistische serotonerge Wirkung an 5HT-2A-Rezeptoren aufgezeigt werden. Wichtig anzumerken ist, dass diese Substanzen keine ausschließliche 5HT-2A-Rezeptoraffinität zeigen, sondern auf ein breiteres Profil einwirken können. Eine differenzierte Darstellung hierzu findet sich u. a. in [5]. Neben den genannten serotonergen Psychedelika werden in der Literatur auch Substanzen mit verwandten psychologischen Wirkungen, aber unterschiedlichen pharmakologischen Ansatzpunkten, als „atypische“ Psychedelika diskutiert. Das Entaktogen 3,4-Methylendioxy-N-methylamphetamin (MDMA) wirkt über präsynaptische Transporter Serotonin und in etwas geringerer Weise auch Noradrenalin und Dopamin ausschüttend. Ketamin, ein dissoziatives Anästhetikum, wirkt insbesondere antagonistisch an bestimmten Glutamatrezeptoren.

Bei LSD kann bereits eine Dosis ab ca. 25–50 μg zu psychophänomenologischen Effekten führen (bezogen auf LSD-Base). Eine ausgeprägte Substanzwirkung ist ab 100 μg zu erwarten und kann 8–12 h andauern. Psilocybin bzw. der aktive Metabolit Psilocin wirkt bei Dosen von ca. 10–30 mg und MDMA von ca. 50–150 mg mit Wirkdauern von ca. 4–6 h [7], [8]. Die akuten subjektiven Wirkungen von 500 mg Meskalin in verschiedenen psychometrischen Skalen (z. B. altered states of consciousness score, ASD) sind bei längerer Wirkdauer mit denen von LSD (100 μg) und Psilocybin (20 mg) vergleichbar [9]. Die psychophänomenologische Wirkung auf Bewusstseinsebene ist an anderer Stelle ausführlicherer beschrieben [2]. Hier soll nur kurz angeführt werden, dass es insbesondere bei den klassischen Psychedelika zu einer tagträumerischen Versenkung und Innenwendung mit komplex verändertem Wahrnehmungserleben, ausgeprägten affektiven Untermalungen wie auch biografisch bezogenen Erfahrungen und Regressionen und zu Entgrenzungs- und spirituellem Erleben kommen kann.

Nun stellt sich die Frage, inwiefern diese 5HT-2A-agonistische Aktivität der klassischen Psychedelika zu derart komplexen Bewusstseinsveränderungen führen kann. Eine Annäherung könnte über einen Blick auf die genauere Verteilung der Rezeptoren erfolgen. Diese sind insbesondere postsynaptisch auf kortikalen Pyramidenzellen und Interneuronen mit einem Schwerpunkt im frontalen Kortex und posterior zingulär angesiedelt [10]. Weniger ausgeprägt ist deren Dichte im sensorischen Arealen, im hippocampalen sowie in medial temporalen Bereich, also der Region der Amygdalae.

Auch wird die Frage aufgeworfen, ob nicht allein die pharmakologische Eigenschaft der Substanz, also Bindung an serotonerge Rezeptoren, eine z. B. antidepressive Wirkung bedingt [11]. Diese Überlegung bezieht sich auf die Wirkweise von klassischen Antidepressiva. Die Psychedelika würden demnach über die ausgeprägte serotonerge Stimulation einen möglichen antidepressiven Effekt bedingen, ohne dass dafür bewusstseinsverändernde Aspekte eine Rolle spielten – und damit auch nicht die psychotherapeutische Einbettung, zumal deren spezifische therapeutische Relevanz kaum auf Studienbasis gezeigt wurde, auch wenn die Studien in aller Regel eine psychologisch-psychotherapeutische Begleitung angeboten hatten. Diese Diskussion wird weitergeführt, jedoch wird klar zugunsten der begleitenden oder gar im Vordergrund stehenden Psychotherapie argumentiert [12].

Auf neurobiologischer Ebene haben neue Forschungsergebnisse gezeigt, dass die antidepressive Wirkung von Psychedelika möglicherweise auch auf andere Signalwege zurückzuführen sein könnte. Klassische Psychedelika binden an den Tropomyosinrezeptorkinase-B (TrkB)-Rezeptor und verstärken die Brain-derived-neurotrophic-factor (BDNF)-Signalisierung ähnlich wie bei anderen Antidepressiva (z. B. Fluoxetin und Ketamin), jedoch mit einer viel höheren Affinität (> 1000) [13]. Diese und weitere Befunde, zusammengefasst u. a. in [3], zeigen eine erhöhte Neuroplastizität unter dem Einfluss von Psychedelika auf, die mit einer verstärkten Synapto- und Neuritogenese einhergeht.

Oft wird dieser Befund des Anstoßens von Neuroplastizität als ein Beleg für die Wirkung von Psychedelika (und anderen therapeutischen Prinzipien) herangezogen. Grundsätzlich ist anzumerken, dass Plastizität ständig in unserem Gehirn erfolgt, wie während des Schreibens oder Lesens dieses Textes. Auch für andere Therapeutika, wie Antidepressiva [14], Elektrokonvulsionstherapie [15] oder transkranielle Magnetstimulation [16] wurden neuroplastische Effekte aufgezeigt. Insofern ist dieser Befund nicht spezifisch für Psychedelika. Und Neuroplastizität als solche ist nicht spezifisch immer vorteilhaft, denn eine ungerichtete Neuroplastizität oder gar die neuroplastische Fixierung dysfunktionaler Vorgänge könnten für sich als therapeutisch nicht gewünscht angesehen werden. Nichtsdestotrotz ist der Hinweis auf angestoßene neuroplastische Prozesse wesentlich in Hinblick auf möglicherweise psychotherapeutisch gezielt zu bahnende neuronale Neuausrichtungen und damit ein Argument für eine begleitende Psychotherapie.

Eine neuroendokrine Modulation durch Psychedelika z. B. über die Stressachse oder von Melatonin, Oxytocin und Prolaktin wurde ebenso beschreiben [3]. 5HT-2-Rezeptoren wiederum wurden auf immunologischem Gewebe gefunden und ein makrophagenmediierter immunmodulierender Psychedelikaeffekt wurde postuliert [17]. Weitere Wirkansätze wurden in den Domänen Darm-Hirn-Achse, Gliamodulation und Epigenetik beschrieben [3]. Allerdings lassen sich aus diesen Ansätzen keine praktischen Implikationen für die Psychedelikaanwendung ableiten, ganz abgesehen von der nicht vorhandenen Spezifität dieser Befunde im Vergleich zu anderen therapeutischen Ansätzen.


#

Neurosystemische Perspektive

Bildgebende Studien mit fMRT konnten Wirkungen auf verschiedene funktionelle Domänen im Gehirn aufzeigen, von welchen hier auf 3 eingegangen werden soll.

Emotionsregulation

Bei gesunden Probanden übt der präfrontale Kortex im Rahmen von Emotionsregulation eine gewisse steuernde Wirkung auf die Mandelkerne (Amygdalae) aus [18], [19]. In Hinblick auf die Emotionsregulation unter Psilocybineinfluss wurde gezeigt, dass die linke Amygdala bei gesunden Probanden weniger auf negative Stimuli anspricht [20]. Zudem war die funktionelle Konnektivität zwischen Amygdalae (funktionell: Emotionsverarbeitung) sowie posteriorem Zingulum (u. a. Selbstreferenz) und ventromedialem präfrontalem Kortex (u. a. kognitive Kontrolle) reduziert [21].

Darüber hinaus konnten Müller und Kollegen [22] zeigen, dass nach Verabreichung von LSD die Reaktivität der linken Amygdala und des rechten medialen präfrontalen Kortex während der Präsentation von furchterregenden Gesichtern im Vergleich zu Placebo reduziert war. In den Tagen nach einer Psilocybinsitzung kam es bei depressiven Patienten zu einer verstärkten Aktivität auf positive emotionale Stimuli, welche wiederum mit der Verbesserung der Depressivität korrelierte [23]. Aus den Befunden unter Psilocybinwirkung lässt sich ableiten, dass zumindest ein Einfluss auf die präfrontal-amygdaläre Verbindung mit möglicher reduzierter Kontrolle bestehen könnte.


#

Perzeptive Verarbeitung

Wahrnehmung, ein komplexer durch das Zusammenspiel von sensorischer Eingabe und kognitiver Interpretation geprägter Prozess, ist zentral auf den Thalamus als erste Schnitt- und Verarbeitungsstelle angewiesen. Das Modell der beeinträchtigten thalamischen Filterung (nach u. a. Vollenweider und Preller: „thalamic filter deficit“) postuliert, dass Psychedelika auf das Gleichgewicht innerhalb der kortiko-striato-thalamo-kortikalen Schaltkreise einwirken und intensivierte, qualitativ veränderte interozeptiv wie extern generierte sensorische Reize ermöglichen [5], [24].

Studien zur funktionellen Konnektivität zeigen, dass die Einnahme von LSD die thalamokortikale funktionelle Konnektivität erhöht, insbesondere mit sensorischen Kortexbereichen, wie dem somatosensorischen und dem auditorischen Netzwerk, aber auch mit assoziativen Arealen und dem posterioren zingulären Kortex (PCC, Selbstreferenz [5]) [25]–[28]. Die Zunahme der Konnektivität mit assoziativen Bereichen scheint vor allem für typische Psychedelika zuzutreffen, während d-Amphetamin und MDMA keine vergleichbaren Effekte hervorrufen [29]. Zudem wurde ein Rückgang der Konnektivität vom Thalamus zum Striatum (Routinen auf emotionaler, kognitiver und Verhaltensebene) wie auch zum medialen präfrontalen Kortex (kognitive Kontrolle) unter dem Einfluss von LSD berichtet [28], [30].

Zusammenfassend liefern diese und weitere Befunde Unterstützung für eine beeinträchtigte thalamische Filterung durch die psychedelische Wirkung mit der Folge verstärkter sensorischer Reize, welche nicht durch integrative Prozesse im Kortex ausbalanciert werden, und damit zu den charakteristischen Wahrnehmungsänderungen während der Psychedelikawirkung führen könnten [5], [31]–[33].


#

Default-Mode-(Ruhemodus-)Netzwerk

In einer ruhigen Entspannung mit geschlossenen Augen ohne besondere perzeptive Einflüsse oder geistige Aktivität ist im Gehirn das Ruhemodus-Netzwerk oder Default mode network (DMN) aktiv [34]. Dieses ist durch synchronisierte Aktivierung bestimmter Hirnregionen bei basaler Aufmerksamkeit charakterisiert. Das DMN umfasst mediale und laterale präfrontale Areale, assoziative temporale und parietale Areale sowie das posteriore Zingulum und den Präcuneus ([ Abb. 2 ]). Messungen der Hirnaktivität während Psychedelikasitzungen führten zu Modifizierungen der DMN-Aktivierung. Hier zeigten sich eine Entkoppelung und reduzierte Konnektivität präfrontaler zu posterior zingulärer Aktivität sowie eine erhöhte funktionelle Konnektivität von visuellen und auditorischen Arealen mit dem DMN [35], [36]. Bei einer Messung 24 h nach einer Ayahuascagabe wurde wiederum eine gesteigerte Konnektivität von posterior zingulär zu medial präfrontal beobachtet [37].

Zoom Image
Abb. 2 Übersichtsmodell der Informationsverarbeitung im Gehirn und möglicher Einflüsse von Psychedelika. Rote Pfeile stehen für Verbindungen (unvollständig) zwischen verschiedenen funktionellen Hirnregionen. Die blauen Pfeile weisen auf funktionelle Schwerpunkte dieser Regionen hin. Die gelb gestrichelten Balken sollen zum Ausdruck bringen, dass unter Einfluss von Psychedelika u.a. diese Verbindungen modifiziert (verstärkt oder vermindert) werden können. Zum Beispiel wird der steuernde Einfluss des präfrontalen Kortex gemindert, wodurch tiefer liegende Areale wie Mandelkerne, Thalamus oder posteriores Zingulum autonomer aktiv sein könnten. Insgesamt ist der unscharfe, unvollständige und vereinfachende Charakter der Darstellung zu berücksichtigen (nach Daten aus und für Details [2], [5]).

In einer anderen Studie, welche ebenfalls subakute Effekte nach Ayahuasca untersuchte, fanden Pasquini und Kollegen eine verringerte Konnektivität des PCC innerhalb des DMN, eine erhöhte Konnektivität des anterioren zingulären Kortex (ACC) im Salienz-(Aufmerksamkeits-) Netzwerk und eine erhöhte Konnektivität zwischen den beiden Netzwerken [38]. Einige dieser Ergebnisse, wie die Entkopplung des DMN, scheinen jedoch nicht spezifisch für die klassischen serotonergen Psychedelika zu sein, da auch andere Substanzen wie Sertralin, ein SSRI [39], und MDMA [40] mit einer ähnlichen Verringerung der funktionellen Konnektivität in diesen Netzwerken in Verbindung gebracht wurden. Nichtsdestotrotz geben diese Befunde Hinweise auf die veränderte Informationsverarbeitung unter Psychedelika, welche kurz zusammengefasst auf eine autonomere Aktivierung basaler Hirnregionen und reduzierte kognitive Kontrolle hinweisen.


#
#

Neurodynamische Ansätze

Übergeordnete Modelle zu psychedelischen Wirkungen leiten sich aus neurodynamischen oder -informatischen Überlegungen ab. So wurde auf Basis der „Entropic brain hypothesis“ [41] postuliert, dass unter Psychedelika eine höhere Entropie, also „Unordnung“ mit mehr Freiheitsgraden der Hirnaktivität insb. in Regionen mit hoher 5HT-2A-Rezeptorendichte bestehe sowie eine erhöhte globale Konnektivität [10] und abgeleitet mehr kognitive Flexibilität [3]. Dies kommt auch in der „REBUS“-Hypothese (RElaxed Beliefs Under pSychedelics [4]) zum Ausdruck, welche besagt, dass vorgebahnte Informationsverarbeitungsroutinen unter Psychedelika gelockert werden und dies zur Möglichkeit alternativer Verarbeitung führen könnte. Weitere bildgebende Befunde wurden als Hinweis auf eine reduzierte hierarchische Organisation des uni- und transmodalen Kortex [42] oder als erhöhte globale Netzwerkintegration [43] unter Psychedelika interpretiert. Kritische Stimmen jedoch hinterfragen diese verallgemeinernden Schlussfolgerungen und weisen auf notwendige Validierung und Replikation hin [44].

Grundsätzlich beruht die individuelle gegenwärtige Informationsverarbeitung eines Individuums auf den Lebenserfahrungen und aus neurobiologischer Perspektive auf den angelegten Hirnstrukturen und die Ausformung der neuronalen Bahnen und synaptischen Verknüpfungen in Folge dieser Erfahrungen ab frühester Kindheit. Dabei wurden im Laufe der frühkindlichen und jugendlichen Hirnentwicklung zunehmend hierarchische Steuerungs- und Kontrollmechanismen etabliert, welche in der Gegenwart helfen, innerliche und äußerliche Reize wahrzunehmen, einzuordnen und auf Basis der Erfahrung resultierendes Verhalten weitgehend zu steuern – oder manchmal nicht. Diese etablierte Informationsverarbeitung hilft also, Vorhersagen über die Umwelt zu treffen („top-down predictions“, „bayesian brain“) [4], [41], mit welchen aktuellen Herausforderungen begegnet wird.

Beeinträchtigende oder traumatische Lebensereignisse können zu entsprechend veränderten Bahnungen und gegenwärtigen zwar auf das Trauma, aber nicht auf die objektiven Gegebenheiten angepassten kognitiven, emotionalen und Verhaltensfolgen führen. Diese Dysfunktionalität in der gegenwärtigen Informationsverarbeitung ist oft nicht bewusst, sondern läuft automatisiert auf bestimmte Trigger hin ab. Sie kann in einer konventionellen Psychotherapie schwer zugänglich sein, da sie als zwar früher lebenswichtige, so doch gegenwärtig rigide dysfunktionale Verarbeitung und Einstellung vorgebahnt ist und emotional persistierend beeinträchtigt. Eine neurochemische Alteration der über kortiko-thalamo-striato-kortikale Feedbackschlaufen kontrollierenden Verarbeitungsinstanzen könnte nun z. B. im frontalen Kortex dazu führen, dass diese rigide Kontrolle passager vermindert und alternativen Erfahrungen und Erkenntnissen, auch auf emotionaler Ebene, im Sinne einer erhöhten kognitiven Flexibilität Raum gegeben wird. Dysfunktionale Top-down-Vorhersagen könnten über eine Destabilisierung unter Psychedelika somit ihren Einfluss verlieren.

Die im Laufe des Lebens etablierten Verarbeitungsmodi können in einem neuronalen Netzwerk auf kortikaler Ebene als sogenannte Attraktoren angesehen werden, welche auf bestimmte Signale hin die derzeitige Bewertung der Verarbeitung übernehmen [45]. Ein Ereignis, z. B. der strenge Blick einer Arbeitskollegin, kann dann auf Basis von kindlichen Erfahrungen mit einem entsprechenden elterlichen Blick zum Abruf der frühkindlichen emotionalen Reaktionen wie Angst und Erstarrung führen, obwohl diese in der aktuellen Situation nicht angebracht wären. Eine derartige z. B. depressive Informationsverarbeitung in präfrontalen Attraktoren und konsekutive weitere Steuerung über die Feedbackschlaufen auf emotionaler und Verhaltensebene könnte nun durch die Psychedelikagabe für eine begrenzte Zeit übersteuert werden.

Dadurch könnten hierarchisch nachgeordnete bzw. tieferliegende Verarbeitungen in z. B. limbischen und hippocampalen Arealen, welche deutlich geringer durch 5HT-2A-Agonismus angesprochen sind, disinhibiert werden. Deren autonome Aktivität könnte insofern gefördert und damit Inhalte für das Bewusstsein freigesetzt werden, zu welchen der Zugriff sonst von ontogenetisch geprägten bzw. erlernten Kontrollmechanismen eingeschränkt ist. Diese Inhalte könnten wiederum Material für eine psychotherapeutische Weiterverarbeitung darstellen, insofern als dass aus diesen Inhalten neue Erkenntnisse gewonnen bzw. korrigierende Neuerfahrungen erlebt oder für weiteres Erleben gebahnt werden. So wäre eine therapeutische Bearbeitung über die Aktivierung alternativer Informationsverarbeitung denkbar.

Interessanterweise konnte sich ein solches mögliches Fenster für eine Adaptation des Verhaltens oder eine psychotherapeutische Modifikation nicht nur für die Dauer der Psychedelikasitzung öffnen, sondern sogar für einige Wochen. In einer in Nature publizierten Studie zeigten erwachsene Mäuse nach dem Einfluss von Psychedelika ein prolongiertes prosoziales Verhalten, wie es sonst eigentlich für die Prägungsphase in der Kindheit der Mäuse typisch ist. Hieraus wurde über die Induktion anhaltender Genexpression infolge Psychedelikagabe, welche als „Metaplastizität“ bezeichnet wurde, eine verlängerte Phase kognitiver Flexibilität und des Lernens auf Basis sozialer Belohnung postuliert [46].

Zusammenfassend kann funktional in grober Annäherung postuliert werden, dass eine Lockerung bzw. Entkopplung präfrontaler kognitiver Kontrolle von basaleren Emotions-, Perzeptions- und Selbstreferenzarealen zu einer Bahnung sonst verdrängter oder kontrollierter Bewusstseinsinhalte und emotionaler Erfahrungen führen könnte, wie auch zu einer Aktivierung sonst nachgeordneter Verarbeitungsmodi, mit der Möglichkeit, neue Erkenntnisse und Handlungsfelder zu entwickeln.

Kritisch anzumerken ist bei diesen Erklärungsmodellen, dass funktionelle Überlegungen eher einen spekulativen, deduktiven Hintergrund haben und einer reversen Inferenz unterliegen können. Nichtsdestotrotz können hieraus Ansätze für eine Verknüpfung neurobiologischer und psychodynamischer Informationsverarbeitung und Arbeitshypothesen zur Wirkweise der Psychedelika abgeleitet werden.


#

Überleitung zu psychotherapeutischen Wirkfaktoren

Hinsichtlich Wirkfaktoren treffen bei der Psychedelikagabe 2 wesentliche Komponenten zusammen: Die pharmakologische Intervention, welche physische und neurobiologische Prozesse beeinflusst, und die psychedelikainduzierte bewusste Erfahrung, welche für den psychotherapeutischen Aspekt von zentraler Bedeutung zu sein scheint. Diese Kombination betont die Notwendigkeit einer integrativen Betrachtung von körperlichen und psychischen Prozessen. Die Wirkungen von Psychedelika erstrecken sich über einen biologisch-physiologischen Mechanismus hinaus auch auf psychologisch-psychodynamische Bereiche.

Aktuell wird diskutiert, ob eine primär neurobiologisch-psychopharmakologische Wirkung vorliegt [11] oder ein geförderter primär psychotherapeutischer Prozess. Diese Frage kann nicht binär, also entweder/oder, beantwortet werden. Die neuronale Informationsverarbeitung entspricht letztlich einem psychologischen Prozess. Versuche, pharmakologische von nicht pharmakologischen Effekten zu trennen, sind entsprechend willkürlich, insbesondere in der psychedelikaassistierten Therapie [12]. Die Effekte von Psychedelika werden seit Jahrzehnten als abhängig von kontextuellen Faktoren erkannt (d. h. Set und Setting, Kontextsensitivität), was die Bedeutung der Integration dieser Perspektive in die Bewertung und Durchführung von psychedelikaassistierter Therapie unterstreicht.

Als Elemente einer möglichen psychotherapeutischen Wirkung wurde bereits früh die Durcharbeitung biografischer Inhalte mit der Aufdeckung von potenziell traumatisierenden Erfahrungen beschrieben [47]. Hierbei kann ein vertieftes affektives bzw. emotionales Erleben mit Offenheit für und Akzeptanz von schwierigen Emotionen und Erinnerungen hilfreich sein [48], [49]. Dabei werden die Überwindung von Vermeidungs- und Verdrängungsstrategien und die Bearbeitung von sonst unter Kontrolle gehaltenen alten und aktuellen Belastungen mit Freisetzung assoziierter emotionaler und physischer Energien postuliert. Dies kann in eine vertiefte bzw. erweiterte Selbstwahrnehmung und -kontextualisierung eingebettet sein. Auch ein Verbundenheits- und Verschmelzungserleben mit sich selbst, anderen und der Welt wurden als therapeutisch hilfreich beschrieben [48], [49]. Es wurde gezeigt, dass die Stärke einer mystischen Erfahrung mit späteren klinischen Effekten korrelierte [50]. Dabei kann der Erkenntnis- und Bedeutungsgehalt der Erfahrungen von überdauernder Wirkung auf Erleben und Verhalten sein. Die Durcharbeitung von prägenden Beziehungserfahrungen und interpersonellen Themen kann wiederum zu einem Aufweichen rigider psychodynamischer Reaktionsmuster führen. Dabei kann ein Perspektivenwechsel mit Übernahme von äußerer oder eigener frühkindlicher – als Regression erlebter – Wahrnehmung erfolgen und neue Einsichten und Anpassungsfähigkeit fördern [50]–[56].

Diese Überlegungen stellen nur eine unvollständige und grobe Beschreibung möglicher psychotherapeutischer Mechanismen dar. Eine abgerundete, hypothesen- oder gar wissenschaftlich fundierte spezifische Psychedelika-Psychotherapie liegt nicht vor. Erste Ansätze bestehen z. B. im Akzeptanz- und Comittment-Programm der Yale University oder in „compassion focused psychotherapy“ bei Depressionen [57]. Genauso könnten aber auch andere Psychotherapierichtungen auf psychodynamischer oder kognitiv-behavioraler Grundlage für eine Einbettung der Psychedelikagabe dienen [47], [51].

FAZIT

Da unser Wissen zu neurobiologischen und psychopharmakologischen Wirkmechanismen von Psychedelika immer noch sehr begrenzt ist, insbesondere in Anbetracht des komplexen Zusammenspiels, ist es entscheidend, diese Aspekte weiter zu erforschen. Ein vertieftes Verständnis der Wirkfaktoren bietet eine Grundlage, um das mögliche therapeutische Potenzial von Psychedelika umfassender zu erschließen und diese Substanzen effektiv in Behandlungsansätze zu integrieren. Dabei geht es auch um Fragen der individualisierten Behandlung, also beispielsweise um die Erforschung von Prädiktoren der Substanzwirkung und klinischer Ergebnisse. Dieses Wissen könnte dazu beitragen, Ansätze zur Nutzung des vollen therapeutischen Potenzials von Psychedelika für verschiedene Patientenpopulationen zu entwickeln.


#
#

Interessenkonflikt

Erklärung zu finanziellen Interessen

Forschungsförderung erhalten: nein; Honorar/geldwerten Vorteil für Referententätigkeit erhalten: ja; Bezahlter Berater/interner Schulungsreferent/Gehaltsempfänger: nein; Patent/Geschäftsanteile/Aktien (Autor/Partner, Ehepartner, Kinder) an Firma (Nicht-Sponsor der Veranstaltung): nein; Patent/Geschäftsanteile/Aktien (Autor/Partner, Ehepartner, Kinder) an Firma (Sponsor der Veranstaltung): nein.

Erklärung zu nicht finanziellen Interessen

SB ist Editor von Frontiers in Psychiatry. UH, AM und HDA geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.


Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Dr. sc. ETH Uwe Herwig, M. A.
Zentrum für Psychiatrie Reichenau
Akad. Lehrkrankenhaus Universität Konstanz
Feursteinstr. 55
78479 Reichenau
Deutschland   
Phone: 07531/977528   

Publication History

Article published online:
11 June 2024

© 2024. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany


Zoom Image
Abb. 1 Pubmedsuche mit den Stichwörtern „Psychedelics + neurobiology”, 2023: n = 68 Link: psychedelics + neurobiology – Search Results – PubMed (nih.gov)
Zoom Image
Abb. 2 Übersichtsmodell der Informationsverarbeitung im Gehirn und möglicher Einflüsse von Psychedelika. Rote Pfeile stehen für Verbindungen (unvollständig) zwischen verschiedenen funktionellen Hirnregionen. Die blauen Pfeile weisen auf funktionelle Schwerpunkte dieser Regionen hin. Die gelb gestrichelten Balken sollen zum Ausdruck bringen, dass unter Einfluss von Psychedelika u.a. diese Verbindungen modifiziert (verstärkt oder vermindert) werden können. Zum Beispiel wird der steuernde Einfluss des präfrontalen Kortex gemindert, wodurch tiefer liegende Areale wie Mandelkerne, Thalamus oder posteriores Zingulum autonomer aktiv sein könnten. Insgesamt ist der unscharfe, unvollständige und vereinfachende Charakter der Darstellung zu berücksichtigen (nach Daten aus und für Details [2], [5]).