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DOI: 10.1055/a-2286-0773
Die (Palliative-)Pflege im Generationenwechsel – Tradition, Herausforderung und Vision
Martina Kern und Henrikje Stanze im GesprächStanze: Martina, wie hat für dich alles angefangen mit Palliative Care und was war deine Idee/Vision dabei?
Kern: Für mich begann alles 1988. Da kam ich ins Malteser Krankenhaus und arbeitete auf der Inneren4. Ich kam in ein Haus, das bereits eine gute Sterbe- und Abschiedskultur hatte. Es gab z.B. ein Verabschiedungszimmer auf dem Flur der inneren Abteilung. Das Abschieben von Sterbenden oder Verstorbenen in Badezimmer gab es dort nicht. Ich kannte das von meiner Stelle vorher. Insbesondere von der Intensivstation wurde der Raum häufig genutzt. Und dann lernte ich schnell: Wenn es schwerkranke Patient*innen gab, die an Symptomen litten, konnte es gelingen, ein Palliativkonsil von den Stationsärzt*innen ausstellen zu lassen. Und dann kam Prof. Dr. Klaschik und es war für mich wie ein Wunder. Vor der Begegnung mit dem Sterben und Sterbenden war mir nicht bang, aber vor den Symptomen wie Schmerzen, Luftnot und Death Rattle. Mir widerstrebte es, Sterbende abzusaugen, die sich dagegen oft heftig wehrten. Irgendwann im Treppenhaus um 7.05 Uhr traute ich mich, Prof. Klaschik auf Palliativ anzusprechen – Pünktlichkeit war ihm ein wichtiges Gut. Immer kam er um diese Uhrzeit ins Haus. Er erklärte mir das Konzept von Palliativmedizin und dass dem Palliativ-Konsildienst auch die Eröffnung einer Palliativstation geplant war. Er motivierte mich mitzuwirken, ich ließ mich anstecken von der Idee, absolvierte 1989 meine Weiterbildung Palliative Care in Cambridge und Nottingham und besuchte das St. Christopher Hospice in London. Danach begannen wir, u.a. mit Friedemann Nauck als Stationsarzt, mit dem Aufbau der Palliativstation, die ich mit Anfang 30 als Stationsleitung begleiten durfte.
Eine Vision, außer der Großen – an einer besseren Versorgung schwerstkranker Menschen mitzuwirken – hatte ich persönlich nicht. Öffentliche Auftritte, Lehre, das alles war mir fremd. Ich war eher scheu und zurückhaltend. Und wieder war es Professor Klaschik, der sagte: Martina – Palliativmedizin geht nicht ohne Pflege, Sie müssen auch in die Vortragstätigkeit einsteigen. Und ich dachte: Wenn ein Arzt mir sagt, ich muss das tun, dann muss ich es wohl tun… Ich verdanke ihm viel, dass er an mich, aber vor allem auch an die Pflege geglaubt und uns ermutigt hat.
Mein pflegerisches Selbstbewusstsein hat sich dann über die Jahre entwickelt und ausgeformt. Heute vertrete ich mit vielen Kolleg*innen ein Palliativpflegekonzept, hinter dem ich stehe, unabhängig von der Meinung anderer. Wir haben eigene Konzepte und eine eigene Stimme.
Kern: Uns trennen ziemlich genau 20 Jahre. Gab es bei dir einen Schlüsselmoment?
Stanze: Mir fiel es eher leichter als anderen Personen, sich mit Menschen, die eine schwere Diagnose bekommen haben, zu beschäftigen. Vielleicht lag es an dem ersten Stationsteam von mir, was mich wertschätzend immer fragte, wie es mir mit einigen Erlebnissen geht. Oder es lag an der Psychologin, die bei uns in der Lehre involviert war und uns kommunikative Techniken lehrte sowie versuchte uns aufzuzeigen, unsere emotionale Intelligenz zu nutzen. Einmal diskutierte ich mit einem Stationsarzt auf der Intensivstation, wieso er eine Frau, die bereits eine schwere Demenz hatte und an einer fortgeschrittenen Herzinsuffizienz litt, reanimiert habe (sie reagierte nicht mehr auf Ansprache und war beatmet). Er sagte „die hat nächstes Jahr noch einen Urlaub gebucht“ und ich antwortete in meiner Wut „im Pflegeheim, oder wo?“ Für die Statistik sind gestorbene Menschen im Krankenhaus schlechter, als lebende Menschen – niemand bewertet dabei die Qualität. Kurz darauf wurde der Hirntod festgestellt, doch die überforderte 80-jährige Schwester wurde in die Lage gebracht aussprechen zu müssen, die Beatmung auszuschalten und dies war für alle ein empfundenes Drama. Irgendwann wurde mir klar: Sowohl der Arzt als auch ich waren beide überfordert. Er war hilflos in seiner Position, Leben verlängern „zu müssen“ geprägt durch hierarchische Strukturen und fehlende kollegialer Unterstützung. Ich war geprägt durch die Erfahrung und die permanente Konfrontation hochkomplexer pflegerischer Konsequenzen, die uns im Pflegeberuf herausfordern, indem wir immer wieder der Frage nachgehen, ob die Person noch Lebensqualität empfindet und uns dabei als Advokat ohne Stimme sehen.
Ich wollte mehr Zusammenarbeit, mehr Interprofessionalität. Dies war für mich der Schritt zur Palliativversorgung. Im folgenden Krankenhaus, in dem ich arbeitete, wurden die ersten Palliativzimmer eingerichtet und ich wurde in diesem Bereich eingesetzt. Ich genoss diese Arbeit sehr, denn Interprofessionalität wurde gelebt, mir als Pflegefachperson wurde viel zugetraut und ich konnte mich in meiner Arbeit mit den Patient*innen und Angehörigen entfalten. Als ich Lehrkraft in der Pflegeausbildung wurde, durfte ich das sogenannte „Sterbebegleitseminar“ mitgestalten. Bei der Gestaltung halfen mir die Arbeiten der AG Bildung und der Sektion Pflege der DGP, die ihre Unterrichtssequenzen und Pflegehinweise öffentlich teilten. Als ich Wissenschaftliche Mitarbeiterin in einem Forschungsprojekt mit palliativem Schwerpunkt wurde und Professor Nauck kennenlernte, war mein Weg geebnet.
Stanze: Wie hat sich die Idee über die Jahre weiterentwickelt? Wo seid ihr wie hingekommen?
Kern: Ich finde es spannend, was aus einer Idee wurde. Heute ist die Palliativpflege fest im Gesundheitssystem verankert. In der DGP ist die Pflege mit knapp 2000 Mitgliedern inzwischen die zweitgrößte Berufsgruppe. Wir haben unter dem Dach der DGP Curricula konzipiert, Pflegeleitlinien und ein Pflegeleitbild entwickelt, in den vergangenen Jahren ist ein Pflegemodell entstanden. Eine großartige Entwicklung. Viele haben sich anstecken lassen und mitgewirkt. Mehr als 35.000 Pflegefachkräfte haben DGP-zertifizierte Palliative-Care-Kurse besucht. Du hast gefragt: Wie ist es gegangen? Ich glaube, viele haben sich anzünden lassen von einer Idee. Wir haben gemeinsam etwas entwickeln dürfen. Vieles hat sich aus der Notwendigkeit heraus einfach ergeben und wir haben es angepackt. Das fasziniert mich bis zum heutigen Tag. Auch das Erleben von Gemeinschaft für ein so wichtiges Anliegen.
Kern: Du hast nun eine Professur mit Schwerpunkt in Palliative Care. Was war und ist deine Vision?
Stanze: Ich habe den Eindruck, dass wir durch alle Spezialisierungen verlernen, worin unsere Aufgabenfelder liegen. Zum Beispiel muss ein Anus praeter durch jede Pflegefachperson versorgt werden und bei speziellen Fällen brauche ich Stomatherapeut*innen. Ich beobachte jedoch, dass es dahin übergeht: „Wir haben einen Stoma zu versorgen, ruf die Stomatherapeutin“. Und so ist es auch in der Palliativversorgung. Pflegefachpersonen und Ärzt*innen müssen aufgezeigt bekommen, dass alle Personen versorgen, die in die allgemeine palliative Versorgung fallen. Auch bei Sozialarbeiter*innen, Physiotherapeut*innen usw. ist dies der Fall. Ich habe das Glück, an der Hochschule in Bremen in allen Studiengängen zur Palliativversorgung referieren zu dürfen und aufzuzeigen, dass alle Berufsgruppe einen allgemeinen palliativen Auftrag haben. Ich erlebe dabei einen „Aha-Effekt“ und immer mehr Bachelorarbeiten beschäftigen sich deswegen mit der Palliativversorgung. Bei den Pflegefachpersonen in der Akutversorgung erlebe ich nicht selten eine Unsicherheit bereits dabei, Pfefferminzöl einzusetzen, aus Angst etwas falsch zu machen. Dort sehe ich die Verbindung der akademisch ausgebildeten Pflegefachperson, die dann situations- und bedarfsorientiert Recherchen durchführt, die Kolleg*innen schult und darin unterstützt sich argumentativ aufzustellen und dies in Fallbesprechungen auch vor anderen Berufsgruppen darlegen. So finden wir mehr Stimme und Gehör. Und deswegen ist mir der interprofessionelle Ansatz sehr wichtig. Der Master Palliative Care in Bremen und auch an anderen Hochschulen in Deutschland ist interprofessionell angelegt. Das höchste Gut, um einander und die beruflichen Sichtweisen zu verstehen, ist gemeinsame Bildung. Dieses Verständnis führt zu einer Optimierung von Arbeitsabläufen und fördert Vertrauen, vor allem an Schnittstellen, wo allgemeine und spezialisierte Ansätze aufeinandertreffen. Wir haben Module geöffnet, um Personen auch ohne Bachelorqualifikation eine Teilnahme an gewissen Inhalten im Master Palliative Care zu ermöglichen und den Austausch zu fördern. Ohne (Mit-)einander sind wird nur halbstark. Und um hier entsprechendes Wissen zu generieren, müssen wir forschen. Dazu möchte ich gern die Pflegewissenschaft mit palliativem Schwerpunkt voranbringen, um unsere Praxis zu stützen.
Kern: Eine Frage hat mich immer interessiert: Wie wirkt sich unsere Arbeit auf unser nahes Umfeld aus. Könntest du etwas sagen?
Stanze: Meine Tochter hatte kurz vor ihrem dritten Geburtstag erhöhte Temperatur und eine starke Erkältung. Sie schaut mich an und meinte mit verschnupfter Stimme „Mama, das Leben ist schön, auch wenn man mal nicht richtig gesund ist.“ Eine weitere Situation betrifft meinen Sohn. Momentan hat er viele Ängste vor dem Tod. Ich erzählte ihm die unterschiedlichen Ansichten verschiedener Glaubensrichtungen und sagte ihm, er soll sich gern aussuchen, was ihm am meisten zusagt und ihm Hoffnung gibt. Ihm gefällt die Idee der Reinkarnation. Ich fragte ihn, als was er gern wiederkommen würde. Er sagte, er wolle gern als Storch wiederkommen. Natürlich lag meine Frage nahe, wieso es ein Storch sein soll und er antwortete „Weil sich alle immer freuen, wenn sie einen Storch sehen.“
Stanze: Was wären deine großen Wünsche, was sich in der Zukunft entwickelt, und was sollte aus deiner Sicht bleiben?
Kern: Erstens, dass es gelingt, die allgemeine Palliativpflege auszubauen, das Thema in die Breite zu tragen und nicht immer mehr zu spezialisieren.
Zweitens, dass wir eine gute Verbindung zwischen akademisierter und nicht akademisierter Pflege schaffen und weiterhin mit flacher Hierarchie unsere gegenseitigen Stärken erkennen und anerkennen. Aber da bin ich zuversichtlich. Weiß ich doch, dass dieses Thema dir und vielen Anderen ein Herzensanliegen ist.
Und drittens wünsche ich mir, dass wir unseren Anfängergeist und unsere Schlüsselmomente nicht verlieren, dass wir gute Vorbilder haben und mitfühlend und achtsam bleiben.
Publication History
Article published online:
04 November 2024
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